Theorie und Praxis der Handschrift (2) – Das Konzept der Ausgangsschrift (2.2) Der unheilvolle Einfluss der Graphologie

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Wenn wir uns vergegenwärtigen, dass Schreiben zu lernen im 19. Jahrhundert aus Nachahmung und Drill bestand, zeigt sich das Revolutionäre von Larischs Schriftmethode. Noch 1843 schwärmt der Didaktiker J.H.Schöne von „lebendigen Schreibmaschinen“ und weiter: „Es ist nicht zu erwägen, in welcher Spannung sich die ganze Klasse befinden muß, wenn sie sich in stets gleichmäßigem Fortschreiben befinden soll. Die glückliche Aufführung eines solchen Schreibens bietet einen herrlichen Anblick.“ Schöne meint den Drill nach der amerikanischen „Takt-Schreibmethode “, die ganz auf maschinenmäßige Bewegungsabläufe angelegt war. Solches Schreiben lernt das Kind im „Blick- und Horchkontakt mit dem Lehrer (1,2,1,2)“ (zitiert nach Wuttke; Kind und Schrift) Das impressionistische Glücksgefühl ist da ganz auf der Seite des Lehrers. Wer wollte da nicht Kind gewesen sein?

Von Larischs Denkansatz, die je individuelle Buchstabenform zur Entfaltung zu bringen, aus den Tiefen der menschlichen Psyche zu heben, ist eine hübsche Idee, ganz im Geist des Expressionismus. Sie ist geeignet, eine große Vielfalt der Schriftformen hervorzubringen, quasi eine unerschöpfliche Datenquelle für die Graphologie. Das erkennt auch der Philosoph und Psychologe Ludwig Klages. Er ist dabei, zu seiner Charakterkunde eine grundlegend neue wissenschaftliche Graphologie zu entwickeln. Daher befürwortet er das Konzept einer Ausgangsschrift, deren Entwicklung zur Charakterschrift dem Kind überlassen bleibt. Klages schreibt über bisheriges Schreibenlernen:

“Mit ihrem Ideal blitzsauberer Gestochenheit“ entsprach sie jenem ungewöhnlichen Tiefstande der künstlerischen und handwerklichen Kultur, der das letzte Drittel des vorigen Jahrhunderts kennzeichnete.“

Von der Ausgangsschrift erhofft er sich „den wunderbaren Reichtum lebendiger und gewachsener Buchstabenformen (…).“ Für die Didaktik der Ausgangsschrift schlägt er vor: „persönliche Abweichungen vom Vorbilde werden etwa vom vierten Schuljahre zugelassen, überwacht und gefördert.“ Unter Klages Einfluss wird der Begriff „Schriftvorlage“ durch den der „Ausgangsschrift“ ersetzt. Was von Larisch als Methode der Schrifterfindung durch Kunststudenten gedacht hatte, wird jetzt auf den Erstschriftunterricht übertragen, aber ohne die Unterstützung durch die Lehrkraft zu gewährleisten. Von Grundschullehrerinnen und Grundschullehrern kann die künstlerische Kompetenz nicht einfach erwartet werden, sondern müsste Teil ihres Studiums sein, was bis heute nicht der Fall ist. Im Sinne der Graphologie ist aber gar nicht nötig, die Charakterschrift zu künstlerischen Qualität zu entwickeln. Sie bietet gerade in ihrer Unfertigkeit genug Anhaltspunkte.

Das Konzept der Ausgangsschrift war demgemäß zu Zeiten der Reformpädagogik umstritten, und setzte sich erst unter den Nationalsozialisten durch. So war die 1918 eingeführte Schulschrift Ludwig Sütterlins noch eine reine Vorlage und musste möglichst getreu nachvollzogen werden. Den Nationalsozialisten missfiel Sütterlins Kurrent. Ihr wurde eine künstlerische Formerstarrung vorgeworfen und das Undeutsche, „weil die Rundungen nichts mit dem deutschen Spannungsbedürfnis gemeinsam haben. Das Schwelgen in abgerundeten Formen kann man anderen Nationen überlassen.“(T.Thormeyer; Heraus aus der Schriftverelendung, in Schrift und Schreiben, Heft 4, 1934) Der Kölner Museumsdirektor Gustav Bartel sieht die „Gefährlichkeit“ der Sütterlin darin, „dass auch in ihr jenes rein rationale Denken darauf ausging, die lateinischen und deutschen Schriftformen zu verwischen.“ (ebd.) Zudem glaubte man nicht, dass die Sütterlin als rasche Verkehrsschrift geeignet war. Auch verwehrten ihre starren Formen den graphologischen Blick auf den Menschen.

Mit dem nationalsozialistischen Frakturverbot von 1941 kam auch das Aus für die Sütterlin. Mit der danach eingeführten Deutschen Normalschrift begann das Elend der Ausgangsschriften und der Aufwind der Graphologie. Im Dienste der Nationalsozialisten wächst dem Graphologen erstmals eine unheilvolle Macht über Menschen zu. Auf Ludwig Klages diffuser Lehre aufbauend, isoliert man nicht nur charakterliche, sondern auch rassische Merkmale aus der Handschrift. Die Graphologie wird zum probaten Selektionsinstrument. Der Graphologe wird zum Taxator, der den Daumen hebt oder senkt, der vermeintlich rassisch oder charakterlich Minderwertige aussortiert und sich dabei vor seinen Opfern nicht zu rechtfertigen braucht, da er seine zweifelhafte Kunst, dieses pseudowissenschaftliche Kaffeesatzlesen, im Geheimen ausübt. Von diesen Wurzeln her stinkt die Graphologie noch heute. Sie ist weiterhin ein missbräuchliches Machtmittel von fragwürdiger Natur.

Eine für das graphologische Internetmagazin „Graphologie News“ als Redakteurin tätige Graphologin sandte mir letztens neues Material, um die wissenschaftliche Gültigkeit der Graphologie zu untermauern. Doch das Problem der Graphologie liegt nicht hauptsächlich in der mangelhaften Verlässlichkeit ihrer Aussagen. Graphologen und ihre Auftraggeber treibt der Wunsch, den gläsernen Menschen vor sich zu sehen. Freilich geht es hier undemokratisch und hierarchisch zu, denn wer die Macht hat, andere beschnüffeln zu lassen, wird sich selbst gegen derlei Übergriffe wappnen. Wer die Macht nicht hat, sollte sich trotzdem weigern, die eigene Handschrift in Einstellungsverfahren der Beurteilung durch Graphologen preiszugeben. Und Graphologen, die sich bedenkenlos zu Bütteln von Personalchefs und anderen Schnüfflern machen, sind ein rechtes Übel und sollten keinesfalls bewundert werden ob ihrer „Fähigkeiten“, wie das in populären Zeitungsartikeln oft geschieht, sondern müssen verachtet werden. Diese Leute dienen jedem Herrn, und ihr Tun führt pfeilgerade zum Tracking-Armband, das Amazon seinen Mitarbeitern umschnallen will und das jede ihrer Handbewegungen aufzeichnet, sogar vibriert, wenn etwa ein Paket falsch einsortiert wird.

Ich werde zornig über das unbedarfte Geschwafel, wenn ich in Zeitschriften oder Zeitungen Überschriften lese wie „Graphologie, die faszinierende Welt der Handschrift“ oder „Was Ihre Handschrift über Sie verrät.“ Der Unsinn nimmt kein Ende wie hier auf NDR.de.

„Die Handschrift stirbt aus! In ein paar Jahren wird niemand mehr mit der Hand schreiben“, warnt der Vize-Chef des Deutschen Literatur-Archivs in einem großen Interview. Das wäre aber wirklich schade, schließlich sagt Handschrift soviel über uns aus“,

schreibt die NDR-Autorin. Derlei hilflose Berichte von komplett ahnungslosen Schreiberlingen beschleunigen den Prozess nur. Zur Frage, warum wir etwas gegen das Aussterben der Handschrift unternehmen sollen, fällt ihr nur eines ein: Weil die Handschrift „soviel über uns“ aussage, gefolgt vom Auftritt der Graphologin. Holla! Das motiviert in Zeiten der enthemmten Datensammelei. Sofort werden wir mit unserer Handschrift an die Öffentlichkeit gehen, damit sie über uns aussagt, was wir selbst noch nicht wussten, was aber die Dame Graphologin auszuplaudern weiß. Welch ein Dreck! Als würde man ein Kind vor dem achtlosen Überqueren der Straße warnen und es anschließend unter ein Auto schubsen.

Bei solch dummen Publikationen wundere ich mich gar nicht, dass die Leute sich zunehmend scheuen, ihre Handschrift in die Öffentlichkeit gelangen zu lassen. Man frage sich einmal selbst, wann man zuletzt einen handschriftlichen Text veröffentlicht hat außerhalb dieses Seminars. Manche finden ihre Handschrift aber auch zu hässlich oder können sie nicht mehr lesen, wenn sie etwas notiert haben. Schuld ist hier tatsächlich die Schule, weil nach der Vermittlung der Erstschrift die Schüler mit den Problemen ihrer Handschrift allein gelassen werden, ein weiterführender Unterricht in Handschrift nicht stattfindet. Darum also:

Weg vom nationalsozialistischen Erbe der Ausgangsschrift, zurück zum Erlernen und Weiterentwickeln schöner Formen! Nur so kann die Handschrift auf Dauer überleben.