Theorie und Praxis der Handschrift (5.1) – Zum Verständnis einzelner Formelemente – das kleine T

Verschiedentlich ist die Frage aufgekommen, warum das kleine T in der Vorlage von Alfred Fairbank keine echte Oberlänge hat. Unsere Kleinbuchstaben stammen von der Karolingischen Minuskel ab. Sie war eine Reformschrift, die Mitte des 9. Jahrhunderts im Reich Karls des Großen verbreitet wurde und schon fast alle wesentlichen Elemente unserer heutigen Kleinbuchstaben enthielt. Entwickelt hatte sie sich materialbedingt über mehrere Stufen aus den römischen Großbuchstaben. Ihr fehlte noch der diakritische I-Punkt. Das kleine T war eigentlich nur ein klein geschriebenes großes T (im Schriftbeispiel von mir eingekreist).

Erst in der Renaissance stieß der senkrechte Strich zaghaft nach oben durch den Querstrich. Wir erkennen das in allen Druckschriften (vergl. Teestübchen–Header). Die unvollständige Oberlänge des kleinen T hat nicht nur schriftgeschichtliche, sondern auch schreib- bzw. satztechnische Gründe. Gewisse Kombinationen mit dem kleinen F, fi, fl und ft wurden in der Bleizeit als sogenannte Ligaturen auf einen Schriftkegel gegossen (vergl. Abbildung) Da fügt sich das kleine T mit nur halber Oberlänge besser an. Bei der im Bild gezeigten Ligatur fi verschmilzt der I-Punkt mit der tropfenförmig ausgebildeten Oberlänge des F. Hier die Kombination ft und als Ligatur:
Wie unproportioniert und hölzern wirkt dagegen das kleine T in der Grundschrift, hier in der Kombination ft. Als mich der Grundschulverband im Jahr 2010 kontaktierte und mir Proben der Grundschrift zusandte, habe ich sogleich per Mail auf die falsche Oberlänge des kleinen T hingewiesen, erhielt darauf aber keine Reaktion. Entweder ist man im Verband beratungsresistent oder hatte schon Unterrichtsmaterial gedruckt und konnte/wollte nichts mehr ändern. Für mich ist aber das T das Indiz, dass bei der Gestaltung der Grundschrift schriftästhetische Laien am Werk waren. Warum hat man keinen Kalligrafen befragt, bevor man Generationen von Kindern nach der misslungenen VA erneut eine schlecht gestaltete Handschrift-Vorlage unterschiebt?