BKS, ein Brandstifter und Das Schwarzbrot des Bäckers

Kategorie KopfkinoAls junger Klassenlehrer eines 8. Schuljahrs wollte ich meine Klasse am Tag vor den großen Ferien erfreuen und kündigte zuvor schon an, nach der Zeugnisausgabe aufs Pult springen zu wollen. Tag und Stunde kamen, ich trug zur Feier des Tages Sakko und Krawatte, stellt mich in Positur – und sprang aus dem Stand aufs Pult. Da gingen in der Klasse überall die Kameras hoch und hielten den Augenblick fest. Es war ein kleines Risiko zu scheitern dabei gewesen, denn ich hatte derlei über zehn Jahre nicht mehr getan. Von meinem Pultstand besaß ich mal ein Foto, aber es ist verschollen wie so viele Erinnerungen.

Bereits als junger Mann konnte ich aus dem Stand heraus ziemlich hoch springen, obwohl es keinen Sportverein in unserem Dorf gab, wo ich hätte Hochsprung trainieren können. Geübt hatte ich das in meiner Stammkneipe „Bei Karl“. Dort sprangen wir aus dem Stand auf die Theke oder zumindest auf die etwas niedrigere Thekenstange. Auch krochen wir von der Tischplatte aus unter einem der schweren ovalen Eichentische durch bis zurück auf die Tischplatte, ohne dabei den Boden zu berühren, was zu meinem Bedauern nie olympische Disziplin wurde.

Bei Karl gab es das. Hier trafen sich die Jungmänner des Dorfes zum Saufen, Albern und Wetteifern in skurrilen Disziplinen, auch meine vier Freunde und ich, die gesamte Volkspost-Redaktion, sonst aber eher die Jungbauern und Handwerkergesellen, Maurer, Elektriker, Landmaschinenschlosser, mein älterer Bruder Will und seine Clique, eine reine Männergesellschaft, bis auf die Wirtin und ihre beiden frühreifen Töchter. Karl hatte im vorgerückten Alter in die Weiberwirtschaft eingeheiratet, war mit den pubertierenden Mädchen offenbar überfordert und auch mit der Mutter nicht ganz glücklich, weshalb er nach der Polizeistunde Fensterläden und Haustür schloss und sein eigener bester Kunde wurde, sobald sich seine Frau ins Bett begeben hatte. Wills Freund Kurti stellte sich für Karl an den Zapfhahn, und der gab sich an seiner eigenen Theke die Kante. Es wurde schwer gesoffen bei Karl. BKS, das bekannte Akronym einer Marke für Sicherheitsschlösser, bedeutete uns: „Bei Karl saufen.“ Karls Kneipe war auch die Nachrichtenbörse. Offenbar verfügte er über ein weitreichendes Kommunikations-Netzwerk. Meine damalige Freundin, die spätere Mutter meiner vier Kinder, lebte in einem Ort, gut zehn Kilometer entfernt. Einmal übernachtete ich mit ihr im Stroh einer dortigen Feldscheune. Das war von Dienstag auf Mittwoch. In der Nacht von Mittwoch auf Donnerstag brannte die Feldscheune bis auf die Grundmauern nieder. Samstagabend empfing mich Karl mit den Worten: „Na, du Brandstifter!“

Viele Jahre später hatte der Fernsehkoch Horst Lichter nebenan im ehemaligen Sälchen der Kneipe sein erstes Restaurant. Aber da war ich lange schon weg, und Karls Kneipe war zu. Die folgende Szene aus Karls Kneipe hat sich Anfang der 1970-er Jahre zugetragen oder ich habe sie im Geist dieser Zeit erfunden. Jedenfalls diese wahre Erinnerung:

Das Brot des Bäckers

Unser Bäcker hat einen neuen Gesellen. Dingenskirchen heißt er oder so. Von hier stammt er nicht, und ich will auch nicht wissen, aus welchem Loch er gekrochen ist. Jetzt steht er an der Theke und führt das große Wort. Das macht er fast jeden Abend, säuft bis um zwei Uhr und dann ab, im besoffenen Kopp von der Kneipe in die Backstube. Er macht Witze über seinen Brotherrn und seine Frau, und weil die Typen um ihn herum lachen, wird er übermütig und sagt:
„Vorgestern war ich so besoffen, da habe ich doch glatt in die Rührmaschine gekotzt. Voll in den Schwarzbrotteig!“
„Wie, du hast in unser Schwarzbrot gekotzt?!“, ruft Karl von der Zapfsäule her, „dat essen wir doch all‘!“
„Was sagst du, Karl?“, fragt Wingens.
„Der hat in unser Schwarzbrot gekotzt!“
„Wer?“
„Der da, die Hummelfott!“
„Wie? So richtig reingekotzt und dann gebacken?“, fragt Heinz, der Maurer, ungläubig. „Wer sagt dat?“
„Hat er selbst gesagt.“
Da wird so mancher still und blass bei Karl an der Theke.
„Mir is dat ejal, isch ess nur Weißbrot“, sagt Wingens. „Schwarzbrot vertrage ich nicht. Mein Arzt sagt, essen Sie bloß …“
„Jetzt sei still, du Kranköllich!“, unterbricht ihn Heinz. Ihm dämmert’s nämlich. Er stellt sich den versoffenen Bäcker vor, wie er grün im Gesicht über dem Rand der Rührmaschine hängt, und Schwupp für Schwupp seinen Mageninhalt hinzugibt. Und dann sieht er sich selbst am Bau, wie er Pause macht, sein Butterbrot auspackt. Was hat er für einen Hunger! Und was hat die Mamm ihm eingepackt? Schwarzbrot mit dick Knoblauchwurst drauf!
„Wann wor dat, du Verbrecher?!“, ruft Heinz. „Dich klatsch ich an die Wand!“
Biergläser kippen, Dingenskirchen fällt aufschreien mit dem Hocker um und kommt halb zwischen Fußstange und Theke zu liegen. Über ihm steht der Maurer und will ihn erwürgen. Es gibt Handgemenge. Karl geht dazwischen, drängt den Maurer ab und sieht zu, dass der Bäcker sich aufrappeln kann. Dann hält er ihm die Tür auf und erteilt Lokalverbot. Und es fehlt nicht viel an einem kräftigen Arschtritt, als der Bäcker Verwünschungen ausstößt, bevor er sich trollt.
„Bring noch ens en Rund Apfelkorn, Karl!“, ruft Will. „Alkohol desinfiziert!“
Ein anderer Karl kommt hinter die Theke zurück, zapft ernst ein Pils zu Ende und füllt dann die Lage Apfelkorn. Jetzt ist er der Wirt und nicht der Saufkumpan, ein Mann mit Prinzipien, unser moralisches Gewissen, einer der sein Hausrecht wahrnimmt und noch lange nicht jeden Suffkopp bedient, also mindestens einen nicht von den Millionen, die auf unserem Erdball herumlaufen.

Keiner kann ernstlich gegen einen Bäcker klagen, wenn ihm bei der ehrlichen Arbeit des Teigknetens ein paar Schweißtropfen von der Stirn tropfen. Aber das sollte sich jeder verkommene Bäcker merken: Seine Notdurft hat er heimlich zu verrichten. Auch wenn sich hartnäckig die Fama hält, dass viele Delikatessen mit Körpersäften veredelt werden. Das Keltern der Trauben mit nackten Füßen, es ist so romantisch, wer denkt da an Fußschweiß? Und der britische Ethnologe Burke berichtet von einem Fall des 19. Jahrhunderts, dass eine für ihr duftendes Brot berühmte Bäckerei in Paris geschlossen werden musste, weil man entdeckte, dass sie das Wasser zum Backen aus der Kloake nahmen. Es gab eine direkte Zuleitung.

„Wenn der sich nur nicht an unseren Brötchen rächt“, sagt einer und wendet sich an den Mann, dem der Arzt das Trinken befohlen hat. „Was sagst du eigentlich dazu, Effertz, ist dir das alles egal?“

„Der isst nie die Stullen von seiner Alten“, mischt Will sich ein, „die gibt der Abends seinen Kindern und sagt, es wären Hasenbutterbrote.“

Womit wir wieder in der Kindheit wären und bei den Erinnerungen an die Läden. Noch immer erscheinen in der Linkliste unseres Erzählprojektes neue lesenswerte Beiträge. Ich bitte um Beachtung und wünsche viel Vergnügen beim Lesen. Klicke bitte aufs Bild.laeden-alltagskultur

30 Kommentare zu “BKS, ein Brandstifter und Das Schwarzbrot des Bäckers

    • „Hasenbutterbrote“ sind ganz aus der Welt, fürchte ich. „Andere Augen“ – sie kannten mich ja schon zwei Jahre. Allerdings verändert sich die Sicht, die Schüler auf ihre Lehrer haben, ja mit den Jahren. Die Fünftklässler konnte ich noch erfreuen mit der staunenden Frage: „Was fällt denn da für ein weißes Zeug vom HImmel?“ Und sie riefen: „Das ist doch Schnee, Herr X!“

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      • Ich denke, frueher war der Job des Lehrers einfacher als heute. Die Eltern meckern, drohen zu verklagen, die Kids kriegen das mit und zeigen kaum Respekt. Ich erinnere mich gern an so manche Lehrer zurueck, auch wenn sie nicht gut springen konnten.

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        • Ja, da hat sich einiges verschoben. Aber ich erinnere mich gut an meine aktive Zeit, als Kollegen mündlicher Fächer mit einem elterlichen Einspruch gegen die Note konfrontiert waren, und die Note in der Zeugniskonferenz heraufsetzten, weil sie sich nicht die gesamten Ferien mit Gedanken ans Verwaltungsgericht herumschlagen wollten.

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          • was nicht fuer die Qualitaet dieser Lehrer sprach….in meinen Augen gibt es zu wenig gute Lehrer und die, die gut sind, werfen irgendwann das Handtuch. Es ist ein voellig unterschaetzter Job, der so viele Baustellen hat. Ich kann mir nicht vorstellen, dass man ein Leben Lang Lehrer sein kann, heute noch weniger als frueher!

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                  • Ich meine das nicht arrogant, aber letztendlich gehört zu einem Lehrerjob sehr viel mehr als Stoff vermitteln, und er haette seinen Job wechseln muessen. Bei Lehrern hoert man sehr selten diese Alternative….letztendlich wird er mit Sicherheit auch unglücklich gewesen sein

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                    • Vor allem hätte der Direktor ihn daran hindern müssen, die Note zu ändern, um ihn zu schützen. Denn sowas spricht sich rum, und dann versuchen Eltern es immer beim selben. Es gibt sehr selten die Versetzung eines Lehrers auf einen Verwaltungsposten. Anderwärtig ist es schwierig, weil man ja, einmal Beamter, irgendwo untergebracht werden muss. Aber vorzeitig in den Ruhestand gehen viele; unter anderem habe ich das auch gemacht.

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                    • Ja, ich halte auch dieses Problem fuer komplex. Es gibt keinen Grund, warum Lehrer beamtet sein muessen. Neulich sass ein jungles Maedchen hinter mir und erzaehlte ihrem Sitznachbarn, sie werde Lehrer, denn mit Beamtung braucht sie sich keine Jobsorgen zu machen. Ich weiss jetzt schon, dass die eine miese Lehrerin wird. Und das sind nicht alle, aber sehr sehr viele….und Lehrer stehen an erster Stelle bei Fruehpensionierungen….ich bin mir sicher, viele sind einfach ausgebrannt!

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                    • Ein Grund ist, dass Unterricht eine hohheitliche Aufgabe der Länder ist, und daher sollen Lehrer nur ihrem Dienstherrn verpflichtet sein und letztlich nur ihrem Gewissen, ohne Angst vor Repressalien. Im gewissen Sinne war ich auch ausgebrannt. Schließlich hatte ich schon mit 13 Jahren beruflich zu arbeiten begonnen.

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                    • das glaube ich dir aufs Wort! Es ist kinderleicht nachvollziehbar. Lehrer sind fuer mich genauso Opfer des Systems und die guten leiden unter den Vorurteilen, die die miesen bestaetigen. Ich finde das sehr schade, Lehrer können so viel bewirken…

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  1. Ein flüchtiger Bekannter ezählte, seit er mal bei McDonald’s gejobbt habe, hätte er nie wieder etwas da gegessen – er hatte gesehen, was die Kollegen nur so aus Spaß noch auf die Hamburger legten, also alles, was man im Mund ansammeln kann (räusper – ich glaube, ich brauch auch einen Schnaps).

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  2. Meine Azubis haben mir neulich erzählt, dass sie einen Berufsschullehrer haben, der vor der Klasse einen Spagat gemacht hat. Zieht die Hosenbeine hoch und Zack. Dein Sprung auf den Pult finde ich auch Klasse. Und ich dachte immer, ich bin nur so schräg. Ich habe meinen Azubis mal eine halbe Stunde über eine Opernaufführung berichtet. Beginn mit Blick in den Orchestergraben, ……das Auftrete vom Dirigent,……uswusf. Die haben aufmerksam zugehört. 😀 ich dachte, wenn die schon nicht in die Oper gehen, muss ich Ihnen wenigsten erklären, was da passiert.

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  3. Alle Achtung, lieber Jules. Aus dem Stand auf den Tisch – Kompliment.
    Über das Schwarzbrot, dessen Geschichte mich sehr amüsiert hat, will ich nicht zu lange nachdenken. Es fällt unter die Kategorie – ich will es nicht wissen. Aber das passiert nur anderen und wenn schöne Erzählungen daraus entstehen, dann denke ich doch ein bisschen darüber nach. ;).

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    • Dankeschön, liebe MItzi!
      Auf den Tisch zu springen, das kann ich mir in meinem derzeitigen Zustand (Rücken und so) nicht vorstellen. Vielleicht erinnere ich mich deshalb so gerne. Im Wort kann ich alles wieder geschehen lassen.Tut mir Leid, wenn meine Schwarzbrot-Geschichte dir unangenehme Gefühle bereitet. Nimm es einfach als erdichtet.

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  4. „Wenn das rauskommt, was da reinkommt, kommen wir nicht mehr raus!“ sagte der Lehrling zum Meister.

    Dabei kann rheinisches Schwarzbrot (im Silberpapier) so wunderbar gut sein, leider gibt es nur noch sehr wenige Bäcker, die’s richtig backen können. Und als Hasenbrot ist es auch super gut, wenn darunter ein halbes Brötchen ist und zwischen beiden eine Scheibe mittelalter Gouda.

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