Ein junger Mann trägt eine offenbar schwere Tasche an einem Schulterriemen so lang, dass ihm die Tasche am Oberschenkel baumelt, manchmal sogar in die Kniekehle schlägt. Trotzdem gelingt ihm, cool dahinzuschlendern. Er schiebt eine Hand in die Hosentasche, zieht mit der anderen ein Smartphone aus der Jacke und schaut auf den Bildschirm. Ihm begegnet eine junge Mutter im weiten Mantel, den Kopf dick in einen voluminösen Schal eingedreht, die ihre zwei Kinder wohl zum Kindergarten bringt. Das Mädchen rennt vor, ein kleiner Junge trödelt hinterher. Sie beißt gleichmütig in einen Apfel. Meine schöne Oberobernachbarin eilt mit raschen Schritten über die Straße und weiter den Gehweg entlang. Jetzt läuft sie, will vermutlich die Straßenbahn noch erwischen. Eine kräftig gebaute junge Frau hat eine Handtasche geschultert. Ihre lederne Kurzjacke ist etwas zu eng. Vielleicht steht sie deshalb offen. An einer neongelben Leine führt sie einen weißen, mopsigen Hund mit. Die Leine endet in einem schwarzen Ledergeschirr. Der Hund hält den Kopf gesenkt und folgt offenbar einer Geruchsspur. Vier Menschen, ein Hund innerhalb von 30 Sekunden in räumlicher Nähe, doch jeder mit einem anderen Ziel in einem eigenen Kosmos unterwegs.
Unklar ist, was die fünf in diesem Augenblick wahrgenommen haben. Den fremden Kosmos können wir nur von außen beobachten. Wie wäre es, einen fremden Kopf zu besuchen? Als ich klein war, durfte meine jüngere Schwester ein neues Comic-Heft vor mir lesen. Ich war so begierig auf diesen Comic, dass ich mir wünschte, mit ihren Augen schauen zu können. Doch so sehr ich mich konzentrierte, so intensiv ich auf ihren blondbezopften Hinterkopf starrte – zu sehen, was meine kleine Schwester sah, gelang mir nicht.
Von den Ereignissen im eigenen Kosmos kann jeder berichten oder sie phantasievoll schildern, wahr oder falsch. Schon die Umwandlung von Wahrnehmung in Sprache ist mediale Vermittlung. Auch der bildende Künstler kann das. Er wandelt seine Wahrnehmung in ein bildhaftes Medium. Indem wir einen Bericht hören/lesen oder ein Bild betrachten, ahnen wir, wie jemand die Welt gesehen hat. Aber gleich dem Blick in den Sternenhimmel gewähren Literatur und Kunstwerk nur einen nebulösen Blick in die Vergangenheit des Vermittlers. Wir können das Bild um Fakten aus seinen Lebensumständen ergänzen. Doch sie dem sprachlichen oder gemalten Bild zuzurechnen, ist bereits Spekulation und schafft etwas Eigenes, nämlich die Interpretation.
11:03 Uhr. Vor einer Stunde etwa habe ich begonnen, das hier aufzuschreiben. Drei der oben beschriebenen Personen habe ich tatsächlich um 7:32 gesehen, als ich einfach so aus dem Fenster geschaut habe, um zu prüfen, ob die Welt noch steht und um das wohlige Gefühl aufzurufen, dass ich nicht um diese Zeit schon das Haus verlassen muss. Als mein Schreibfluss stockte, bin ich nochmals zum Fenster gegangen und sah die Frau mit Hund. Sie kam also zwischen 10 und 11 Uhr vorbei. Doch ich habe sie mitsamt Hund nach 7:32 Uhr verpflanzt. Warum? Weil es geht. Denn in meinem Kosmos kann ich über Zeit und Raum frei verfügen. Ist doch hübsch, oder?
jetzt fängst Du auch schon an zu manipulieren, auf was kann man sich denn noch in dieser Welt verlassen 😉
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Immerhin gebe ich zu, wo ich manipuliert habe. 😉
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Wir sind in Deutschland, was das angeht, noch ein Entwickungsland;-)
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Vermutlich willst du damit sagen, dass die Techniken der Manipulation und Desinformation in den USA weiter fortgeschritten sind als bei uns. Ich fürchte, das nivelliert sich ohne Entwicklungshilfe.
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nicht nur USA, auch kein realistisch denkender Mensch haette den Brexit unterstuetzt, auch hier werden sich Wahlen veraendern….
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Wie schön du den Blick aus deinem Fenster beschrieben hast, lieber Jules. Man sieht sie vor sich, die unterschiedlichen Menschen mit all ihren Zielen und unterschiedlichen Gangarten. Wahrscheinlich auch, weil es ein vertrautes Bild ist.
Es sei dir zugestanden eine Person zeitlich versetzt hinzuzufügen. Wer kann schon sagen, ob sie nicht um 07:32 ebenfalls vor deinem Fenster war und du sie nur übersehen hast. wir können das Gegenteil sicher nicht ´wissen. Und müssen es auch nicht – ich verlasse mich gerne auf dich und mag den Blick durch deine Augen.
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Wie herzig wirkt dein Kommentar, liebe Mitzi. Und wie schön, der Ausdruck des Vertrauens! Fast vermeinte ich eine warme Stimme zu hören mit leichtem bayrischen Tonfall, dem gerollten R und so. Es ist, wie du schreibst. Wir können nichts sicher wissen. Und wo Leerstellen sind, füllen wir sie naturgemäß mit plausiblen Vorstellungen.
Merci, lieben Gruß und schönen Abend!
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Den wünsche ich dir auch!
Herzig ist übrigens ein sehr schönes Wort.
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