Einiges über die Ursachen der digitalen Logorrhoe

Nachdem die Bloggerin Kinder Unlimited mich auf einen Fehler in der Tschechow-Wortliste aufmerksam gemacht hat, habe ich meine Karteiaufzeichnungen nach einem Ausdruck des Programms, mit dem ich die Wortliste erstellt hatte, durchsucht, um die Ursache des Fehlers zu finden. Dabei stieß ich auf Notizen vom Anfang der 1990er Jahre mit Gedanken zu der Flut von Texten, die das Schreiben per Computer zwangsläufig mit sich bringt. Sie sind auch nach gut 25 Jahren noch aktuell. Weil der Fall inzwischen längst eingetreten ist, denn Anfang der 1990er Jahre steckte das Internet noch in den Kinderschuhen, gab es auch noch keine Blogs, will ich mir die Arbeit machen, die Aufzeichnungen abzutippen, als Beitrag zur Medienphilosophie.

wortdurchfallZu sehen sind hier exemplarisch zwei Karteikarten, die leider auch rückseitig beschrieben sind, ein Fehler, den ich erst abgestellt habe, nachdem ich bei dem Linguisten Harald Weinrich gelesen hatte, dass er ein geplantes Buch nie geschrieben habe, weil er die Karteikarten dazu versehentlich vor- und rückseitig beschrieben hatte.
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Karl d’Ester zitiert in seinem Aufsatz „Zeitung und Zeitschrift“ Ibach, es werde „zwanzigmal so viel geschrieben als gedruckt, es wird zehnmal so viel gedruckt als gelesen, und es wird zehnmal so viel gelesen als tatsächlich beachtet. Es wird also 2000 mal so viel geschrieben als zu Herzen genommen, und dafür wird ein geradezu gigantischer Leerlauf-Apparat von Schreibern, Lektoren, Redakteuren, Druckern, Vertriebsleuten, Zeitungsfrauen und Papierfabriken, Verlagen, Buchläden und Transportmitteln bemüht.“ (Karl d’Ester; Zeitung und Zeitschrift; in Stammler (Hrsg.) Deutsche Philologie im Aufriß, Bd.III, Berlin 1957) [Man beachte das Datum! Heute, 58 Jahre später, dürfte der Faktor 1 : 2000 zu niedrig sein, zählt man die Texte im Internet dazu.]

Zwangsläufig kommt also dem geschriebenen Wort immer weniger Bedeutung zu; es muss sich behaupten in einem Wust von Konkurrenten. Der heutige Leser ist ein Zufallsleser. Gute Gedanken, wichtige Texte entgehen ihm, weil unzählige andere um seine Aufmerksamkeit buhlen. Was bringt da der Computer, den Umberto Eco so emphatisch lobt als „spirituelle Maschine“? Zunächst natürlich mehr Texte, ohne dass jemand den Beweis angetreten hätte, dass wir sie auch noch brauchen. Kurt Seeberger schreibt: „Die Dichtung, – Prosa, Drama, Gedicht – hat im gedruckten Wort immer den Klang des gesprochenen Wortes. Die Sprache ist ursprünglich auch Melodie. Die Dichtung kann sich nicht von der Sprache als ihre Mutter entfernen, ohne an Macht, Wirksamkeit und Überzeugungskraft einzubüßen.“ Indem heute eben nicht nur Dichter und Schriftsteller in Druck geben, sondern quasi jeder publizieren kann, kommt es vermehrt zu schriftlichen Äußerungen, die „mit Sprache nichts mehr zu tun haben.“
Seeberger bringt ein scheußliches Beispiel von „Papierdeutsch“ und schreibt: „Ein solcher Satz ist nur möglich, weil sein Verfasser die Möglichkeit hatte, ihn zu Papier zu bringen. Hätte er versucht, ihn in freier Rede zu entwerfen, wäre er vermutlich steckengeblieben, denn niemand kann so kompliziert sprechen wie man schreiben kann.“

Auf den Punkt gebracht: Das Urmaterial der Sprache ist der Laut. Die Schrift ohne Ton als Matrix wird kraftlos. Der Gedanke ist nicht neu, aber er legt doch eine Überlegung nah: Wenn wir Schrift als grundsätzlich der Sprache gleichberechtigt ansehen wollen, dann wäre die Entsprechung zum Paar Stimme und Sprache – Hand und Schrift. Im Akt des Schreibens mit der Hand steckt rhythmisches Tun. Da wiederum beeinflusst die Form den Inhalt. Das zeigt sich deutlich, wenn man einen eigenen Text kalligrafisch schreibt. Das Gebot der Kürze führt dazu, dass man nach einer treffenderen Ausdrucksweise sucht. Sogar der Wunsch nach einer eugraphischen Verteilung von Ober- und Unterlängen kann die Wortwahl beeinflussen. Die Materialgebundenheit zwingt zu einem gezielteren, bewussteren Umgang mit Sprache. Jede materielle Beschränkung kann der Filter sein, der aus einer beliebigen Schriftäußerung eine gezielte macht.

Umgekehrt muss sich die Entmaterialisierung schädlich auswirken. Entmaterialisierung liegt vor, wo Kopf und Hand getrennt arbeiten. Eine besondere Form der Entmaterialisierung bringt nun der Computer mit sich, das Zurückweichen materieller Widerstände. Der Einzelbuchstabe wird nicht wie bei der Handschrift geformt, sondern nur leicht ertippt. Das geschriebene Wort entsteht auf dem Bildschirm zunächst nur als Provisorium, jederzeit spurlos tilgbar, ersetzbar, verformbar. Ebenso werden der Typografie kaum noch Grenzen gesetzt, ohne dass eine intensive Auseinandersetzung mit der gewählten Schrifttype erfolgen müsste. Das alles kann zur Banalisierung der schriftlichen Sprachäußerung führen. Die Kehrseite von Ecos „spiritueller Maschine“ ist der digitale Hintern, der nur noch Wortdurchfall produziert.

Müssten wir unsere Texte mit Kartoffelstempeln drucken, bliebe der Welt manches erspart.

[Soweit also meine handschriftlichen Notizen, die gerade eine Zeitreise ins digitale Zeitalter gemacht haben und dabei transformiert wurden, was wiederum den Verdacht nahe legt, dass eine Zeitreise ohne Transformation unmöglich ist. Von einem außerschriftlichen materiellen Filter berichtet übrigens der Stilpapst der Journalisten, Wolf Schneider: Der Chefredakteur einer großen US-Zeitung habe seinen Redakteuren gesagt: „Wenn Sie ein Adjektiv benutzen wollen, dann kommen Sie über die Treppe in die oberste Etage und fragen mich.“]

20 Kommentare zu “Einiges über die Ursachen der digitalen Logorrhoe

  1. Ich glaube, dass sich das geschriebene Wort im Netz genauso wie das Fernsehen entwickeln wird. Das meiste ist für die Masse, Qualität findet in einer Nische statt. Es ist wie mit den Pressemitteilungen, die inzwischen jeder schreiben kann, so meint auch jeder, er wäre Schriftsteller oder Journalist. Man braucht ja auch kein Korrektiv mehr, keinen Verlag, man druckt heute selbst. Guter Journalismus muss neue Kanäle finden, dass er auch gefunden wird!

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    • Da sind wir, glaube ich, einer Meinung. Ich habe dazu vor Jahren mal einen längeren Text verfasst, Er stand und steht noch in meinem ersten Blog. Weil Blog.de bald ganz schließt, habe ich die meisten Texte schon exportiert, den aber noch nicht:
      http://abcypsilon777.blog.de/2009/05/20/ohnmacht-federkiels-macht-tasten-6142736/
      Deine These stütze ich unter Punkt 4 (Falls dir der Text zu lang ist), wobei ich unter dem Stichpunkt „semantisches Lernen“ den Glauben an eine positive Entwicklung der Qualität im Netz vertrete.

      Das mit den neuen Kanälen ist ein guter Hinweis!

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      • hab alles gelesen ! Sehr interessant ! Du bietest sehr viel Lesestoff !!!!

        Da ich jetzt mal einen Fachmann fragen kann, hat sich die Zeit eigentlich aus ökonomischen oder ideologischen Gründen so stark verändert? Ich habe die Phase verpasst!

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      • Dankeschön! In zehn Jahren kommt eben einiges zusammen. Ich glaube, die Ideologie folgt immer der Ökonomie, an den schulischen Inhalten gut zu beobachten. Wie weit bist du eigentlich mit dem Entschulen?

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  2. Übrigens während bei „Wortdurchfall“ sich direkt ein Bild vor meinen Augen formte, löste „digitale Logorrhoe“ das unangenehme Geräusch desselbigen aus 😉

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  3. Höre ich da etwa ein „früher war alles besser“? Verlage haben nie nur unter Qualitätsgesichtspunkten entschieden, was gedruckt wird, sondern hatten immer auch ökonomische und ideologische Kriterien. Klar, der geschulte Blick eines Lektores tut wohl jedem Text gut, aber die Öffentlichkeit, die wir im Netz herstellen können, war ein alter Traum der sechziger Jahre. Klar, er hat sich auch zu einem Albtraum entwickelt, weil wir in Texten ertrinken und kaum finden, was wir suchen – aber es ist da, es kann gefunden werden und das ist es dann auch wert, sich durch die Textwüsten und Bilderdschungel zu kämpfen.

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      • Hat sie das? Die Orte und die Medien der Diskussionen haben sich verändert, das Netz ist zu einer zentralen Instanz geworden – aber wir reden über die Themen, die uns immer beschäftigt haben, über Freiheit, über Kreativität, über Kinder, über Flüchtlinge, Finanzkrisen, Kriege, Diktaturen. Wir führen diese Gespräche anonymer, manchmal, aber auch bei einem Glas Bier in der Kneipe. Moden folgen schneller aufeinander, jede Woche wird eine neue Sau durchs Dorf gejagt und eine Panik folgt der anderen. Alles wird immer anders und nichts ändert sich.

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        • ja, sie hat !Sie ist längst nicht mehr so gekünzelt intellektuell. Ich denke, vieles ändert sich, die Welt ist kleiner geworden, wenn man sich die Mühe macht, über den Tellerrand zu schauen !

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          • Ja, natürlich können wir mehr wissen, wir haben die Chance, über den Tellerrand zu schauen – aber wir als Gesellschaft betreiben trotzdem lieber Nabelschau und lassen und bespaßen. Das Internet bietet große Chancen und Möglichkeiten, aber wohin geht die Tendenz? Facebook und Google, Apple oder wer auch immer noch dazu kommen mag, ökonomisieren die einstige Spielwiese. Ob ein Angebot kostenlos bleibt, hängt doch von den Werbeeinnahmen ab, die es generiert. Das sehen wir auch bei wordpress.

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            • Facebook ist im Downtrend. Sicherlich kostenlos bedeutet nicht, dass keine Gegenleistung erwartet wird. Ich bin mir der Konsequenzen auch noch nicht so sicher! Sicherlich ist auch das hier Bespassen, aber sehr informatives 😉

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      • Wie der Buchdruck das Denken der Neuzeit eingeleitet hat, verändert auch das Internet unser Denken . Darum glaube ich schon, dass sich etwas ändert. Wir können das vielleicht noch nicht genau bestimmen. Auf jeden Fall habe ich im Internet bislang weit mehr interessante Gesprächspartner erlebt als in der Kneipe 😉 Diese intensive schriftliche Interaktion macht ja etwas mit uns, verändert und erweitert das Denken.

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        • Mir geht es ähnlich. Für mich ist das Internet ein unendlicher Fundus von Wissen. Allein spiegel online mit spiegel online international zu vergleichen, ist ein Erlebnis. Man kann Deutschland von aussen sehen, ohne es zu verlassen!

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  4. Anfang der 90er Jahre hatte ich ein kritsches Verhältnis zum Computer und seinen Auswirkungen auf das Schreiben. Das hat sich gewandelt. Im Gegenteil begrüße ich inzwischen die Demokratisierung der technischen Schrift. Meinen Einstellungswandel habe ich hier
    http://abcypsilon777.blog.de/2009/05/20/ohnmacht-federkiels-macht-tasten-6142736/
    ausführlich begründet. Es ist leider ein ziemlich langer Text, hebt aber auch ab auf den emanzipatorischen Aspekt, den du mit dem Hinweis auf die 68er sicher meinst.

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