Perspektivwechsel

Ich habe weiß Gott einen schönen Weg zur Arbeit gehabt. Meistens bin ich mit dem Fahrrad gefahren, und ich fuhr in Gegenrichtung. Während sich Autoschlangen stadtwärts wälzten, fuhr ich abseits der Hauptverkehrsstraßen hinaus aufs Land, nicht irgendwohin, sondern ins schöne Münsterländchen, benannt nach der ehemaligen Reichsabtei Kornelimünster. Im Ortsteil Niederforstbach durchfuhr ich ein Neubaugebiet, und dann schoss ich eine kurze Rampe hinab auf die Vennbahntrasse, ein altes Bahngleis, das nun Fahrradweg ist. Der schwingt im weiten Bogen auf ein Tal zu. Schon bald rollte ich über einen Viadukt, dessen mächtige Pfeilerbögen aus den Bruchsteinen der Nordeifel gemauert sind. Unten schlängelte sich der Rollefbach durch die Wiesen. Unvorstellbar, dass dieses Rinnsal so ein tiefes Tal geformt hat. Stünde man im Bach und würde hinaufblicken, könnte man auf die Idee kommen, den Radfahrer um seinen Weg zu beneiden, dass es doch herrlich sein müsste, hoch oben über den Viadukt zu rollen.
[Vennbahn-Viadukt – Foto: JvdL – größer: Klicken]

Die Wahrheit ist, das bisschen Herrlichkeit geht durch das Alltägliche rasch verloren. Man flucht höchstens, wenn es an den Rinnen in der betonierten Fahrbahn rumpelt. Du bist irgendwo ganz oben, aber so richtig wertschätzen könntest du es nur, wenn du unten stündest. Ob es eine menschliche Eigenart ist, nicht wirklich schätzen zu können, wenn man oben ist? Es schadet jedenfalls nicht, die Perspektive zu wechseln.

Aber da unten wartete niemand und schaute zu mir hoch. Da hatten sich rotbunte Kühe unter den überhängenden Büschen versammelt, um Schatten zu finden. Die flachen Bachufer hatten sie mit ihren Hufen zertrampelt. Perspektivwechsel schön und gut. Aber da unten möchte ich nicht als permanent schwangere Hochleistungsmilchkuh mit nassen Hufen im Schlamm stehen. Ähem, übers Thema hinausgeschossen. Es rollte einfach zu gut.

Aber um Kühe und ihre Perspektive geht es. Wir müssen leider einige hundert Meter zurück. Ich bin spät dran. Wo die Vennbahntrasse, vom Bahnhof Brand kommend, die Münsterstraße quert, eine Schlaufe, die ich aus Zeitgründen nicht fahre, just dort treibt ein Bauer seine gut 50 Kühe über die Straße, so dass wir warten müssen. Links und rechts der Vennbahntrasse hat er Wiesen. Die linke Wiese ist abgegrast. Darum treibt er die Herde auf die rechte Wiese. Die Kühe traben gleichmütig durchs offene Gatter, da plötzlich regt sich Aufregung in der Herde. Einige Kühe haben sich verlaufen, streben auf gleicher Höhe mit der Herde vorwärts auf der parallelen Wiese. Eine um die andere Kuh der Herde bemerkt den Irrtum ihre Artgenossinnen, bleibt stehen und blökt hinüber. Ich verstehe kein Muhen, aber sie rufen wohl: „Hallo, liebe Freundinnen! Ihr seid auf der falschen Seite!“ Blöken es ausdauernd hinüber, bis die Irrläufer sich besinnen und umkehren.

Das Erlebnis fiel mir ein, als ich die Meldung über die lautstarke Wiedersehensfeier von Kühen in der Zeitung las. Landläufig geht die Rede von dummen Kühen, womit der Mensch sich vom Leib hält, das Leid wahrzunehmen, das dem Nutzvieh bedenkenlos angetan wird. Aber Kühe, die ihre Artgenossinnen rufen, die sich verlaufen haben, oder ein lautstarkes Wiedersehen feiern, erinnern daran, dass auch im Umgang mit Tieren ein Perspektivwechsel fällig ist.

9 Kommentare zu “Perspektivwechsel

  1. Neulich hatte ich von einer Höhenstrasse in den Vogesen einen herrlichen Blick auf die Stadt Gerardmer und den See, an dem sie liegt. Eine wunderschöne Perspektive, die einem den Wunsch entstehen lässt, dort unten an diesem schönen See zu sein. Ich fuhr dann auch hinunter und parkte in einer vor sich hin dämmernden Stadt mit einer schönen Aussicht auf die Vogesen und dem Wissen, dass hinter den Häusern noch ein See liegt. Ich fragte mich, welche Perspektive die schönere ist, die von oben nach unten oder die von unten nach oben. Und kam zu dem Ergebnis „beide und keine“. Und beide gleichzeitig geht sowieso nicht.

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  2. Lieber Jules,
    Sieht man Besonderes wie Viadukte jeden Tag – werden sie dann irgendwann alltäglich? Heute Morgen las ich Deine Perspektivwechsel. Sie waberten zu ‚If‘ von der Atomic Mother Heart in einer pinken Gedanken-Wolke in meinem Kopf herum – Als ich mich irgendwann in die TdF zappte, fuhren die Radrecken gerade an klugen Kühen vorbei. Wer sich zurufen kann, kann mehr als Milch machen. Diese hier fraßen aber gerade alle Gras und dass soeben die TdF mit Riesenfiderallala und Getröte an ihnen vorbeirollte, brachte die Kühe nicht einmal zu einem Ohrenwackeln.

    In den Ferien besuchte ich in der Kindheit die Großeltern. Dort gab es ein Viadukt. Wenn ich sonst nirgendwo aufzufinden war (und ich war öfter mal unauffindbar) suchten sie mich an dieser Lieblingsstelle zwischen den steinernen Bögen, oben an der Böschung oder unten am Bogen, hinter dem sich damals noch die Johannisbachaue ausbreiteten. Immer hatten sie Angst wegen der Züge, die so nah vorbeischossen.
    Im Viadukt gab es ein formidables Echo. Es setzte sich wie unendlich von einem Bogen zum nächsten fort. Besonders gerne lehnte ich an den alten Steinen und nannte sie Freunde, ahnte dabei, dass das Ding nur eine Illusion des mir bekannten war: es steckte voller mir fremder und unbekannter Geschichten. Eine Stunde am Viadukt wog wenige Minuten leicht, selbst im Regen und da war es dort besonders mauschelig.
    Die Perspektiven wechselte das Viadukt dauernd. An manchen Tagen kroch es um mich herum wie ein Elefant mit einem Stahlgebiss. Im Krieg sprengten die Amis den Mittelteil. Im Schnaterwald erzählen Bombentrichter von damals, tiefe Löcher, in denen hoch genug Wasser steht, dass ein Nichtschwimmer drin ertrinken könnte.

    Allerdings war das Viadukt ja mein Ziel und das erhielt seine Schönheit zeitlos.
    Bei einem Arbeitsweg sieht das anders aus.
    Brücken allerdings und seien sie noch so klein – wirken irgendwie besonders auf mich.
    Vielleicht, weil sich dann mein Vorschuss-Vertrauen bemerkbar macht wie ein alter Knarzbruchknochen wenn der Wind sich dreht.

    Liebe Grüße und sehr fein zu lesen, Deine Beobachtungen zum Perspektivwechsel

    P.S. Kuhmilch macht Pickel

    Amélie

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    • Tatsächlich hatte ich das Cover des Pink-Floyd-Albums „Atom Heart Mother“ mit Kuh vor Augen, als ich den Text schrieb, liebe Amélie. Zum Thema Kühe und Tour de France habe ich mal von einem niederländischen Radsportreporter aufgeschnappt:
      „Heutzutage geht es überall auf den Dörfern ruhig zu. Wenn früher die Tour de France vorbeikam, stürmten die Bauern aus den Häusern und schlugen mit Knüppeln auf die Fahrer ein, weil die Kühe danach tagelang weniger Milch gaben.“ (Jan Nelissen von Studio Sport auf NL 3) Heutige Kühe sind vermutlich eher an Lärm gewöhnt. Im Netz hibt es Fotos vom Viadukt in der Johannisbachaue. Danke für deinen Erfahrungsbericht davon und für deinen hübschen Kommentsr sowieso,

      Lieben Gruß

      P.S.: Nur als Schriftsetzerlehrling habe ich Milch getrunken. Denn ich hatte gehört, das würde mich vor Bleivergiftung schützen. Weiß nicht mal, ob das stimmt 😉

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      • Lieber Jules,
        Wenn ich Milch trinke, werde ich sowas wie Nitroglyzerin: wenn man mich schüttelt, explodiere ich davon. Dass ich unverträglich bin, lernte ich erst spät. Heute lasse ich sie ganz aus dem Hals. Um die TdF-Fahrer habe Bange, wenn wütende Bauern sie attackieren, das geschah im letzten Jahr und das war übel…
        Ansonsten fiebere ich mit den Anfeuer-Fans am Straßenrand mit…allez-allez! rufen sie und das hilft den Fahrern. In welchem Sport kommt man sonst noch seinen Sport-Helden so nah wie beim Radsport? Mir fällt da nichts Vergleichbares ein…
        Und ja, die Fotos habe ich auch schon entdeckt. Sie haben das Stahlgebiss-Provisorium inzwischen herausgenommen und die Steinbögen rekonstruiert. Es ist ein hübsches Viadukt. Dort wachsen Hallimasch und sogar einen Steinpilz fanden wir dort einmal.
        Die Johannisbach-Auen sind verschwunden, heute ist dort der große See. Ich vermisse die idyllische Auenlandschaft mit den alten Weiden obwohl der See auch sehr schön ist. Nur eben künstlich angelegt und ein prominentes Bielefelder Menschballungsziel. Hannes Wader schrieb ein Lied über die Auen und den Johannisbach:

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