Auch schwarzes Wasser kann den Himmel spiegeln

Als ich Kind war, wurde viel über Doktor Reinhard, den neuen Hausarzt im Nachbardorf gewettert. Doktor Reinhard hatte den beliebten alten Landarzt abgelöst, den Doktor Felten, der die meisten Dorfbewohner von Kind auf kannte, und dem uneingeschränkt vertraut wurde. Der neue Landarzt hatte demgemäß einen schweren Stand. Es fehlte ihm aber auch Geschick. Einmal kam die Nachbarin zu uns und erzählte aufgebracht, sie habe dem Neuen gesagt: „Herr Doktor, mir ist immer so duselig!“, worauf der unverschämte Kerl gebrummt hätte: „Ach, Sie dusselige Frau.“

Das Wort duselig beschreibt am besten, wie ich mich am Mittwoch fühlte. Mir war nicht richtig schlecht, nur ein bisschen flau. Schon als ich aufstand, fühlte ich mich, als hätte ich gehörig Restalkohol im Blut. Ich war blass und ein bisschen zittrig, zwang mich aber zu schreiben, mittags mit dem Rad zum Essen zu fahren und vorsorglich etwas einzukaufen. Meine Ärztin hatte Mittwoch frei, aber ich bekam einen Termin für Donnerstag. Wenn du jetzt fragst, warum macht der so ein Gewese um eine Sache, die doch schon der neue Dorfarzt nicht ernst genommen hatte?, dann gebe ich zu, dass ich gerade um diese Jahreszeit ein bisschen überzogen reagiere, denn ich leide im Juni unter Endzeitstimmung. Im Juni 2011 hatte mich der Herzinfarkt erwischt und ein Jahr darauf der Schlaganfall, beides an meinem Geburtstag. Zweimal hatte Gottes Stiefelabsatz nach mir gezielt, und zweimal war ich darunter weggekrochen, beim zweiten Mal reichlich ramponiert, so dass ich Stehen, Gehen und Sprechen wieder lernen musste und vor allem mit der eigenen Endlichkeit konfrontiert war, wohingegen ich vorher fast zeitlos im Leben gestanden hatte.

Seit einigen Monaten arbeite ich an einem Manuskript mit dem Titel „Buchkultur im Abendrot.“
Gut 15 Jahre hatte ich zum Thema Schrift geforscht, über die Grenzen der Disziplinen hinweg und unzählige Karteikarten mit Zitaten und eigenen Reflexionen beschriftet, aber meine Befunde in eine lesbare Form zu bringen, hatte ich immer wieder vor mir hergeschoben. Einzelne Themen habe ich gelegentlich für meine Blogs aufbereitet und veröffentlicht. Dass ich mich jetzt aufgerafft habe, alles in einen Sinnzusammenhang zu bringen, zu ergänzen und sorgfältig zu bearbeiten, verdanke ich meinem mittleren Sohn.

Er hat mich gedrängt und mir versprochen zu helfen, hat das Manuskript vorzüglich lektoriert und die E-Book-Fassung erstellt. Als nun layouttechnische Probleme bei der Umsetzung meiner Vorstellungen auftauchten und sich alles verzögerte, fürchtete ich schon, meine Zeit nicht genutzt zu haben und jetzt die Veröffentlichung meines quasi Lebenswerkes nicht mehr zu erleben. Ohne es zu wollen, nervte ich meinen hilfsbereiten Sohn mit meiner Endzeitstimmung, so dass er sogar Nachtarbeit eingelegt hat, damit das Buch fertig wurde. Seit gestern ist es endlich soweit. In einigen Tagen wird es an den Buchhandel ausgeliefert und dort sowie online zu haben sein. Ich gebe Bescheid. Derzeit arbeite ich am Layout der Printversion.

Gestern war ich bei meiner Ärztin. Eine anzulernende junge Ärztin war mit im Raum. Nachdem Frau Doktor die Schilderung meiner Symptome angehört, meinen Blutdruck gemessen und mein Herz abgehört hatte, sah sie keinen Handlungsbedarf. Ich kann mir denken, was sie, als ich gegangen war, der jungen Kollegin gesagt hat: „Patienten wie der wollen beruhigt werden.“ Mir hat sie mal gesagt: „Vertrauen Sie auf die Selbstheilungskräfte ihres Körpers!“ Seither ist sie für mich die beste Ärztin nördlich und südlich der Alpen. Mein Sohn war am Telefon erleichtert, mich wieder zuversichtlich zu hören. Was er mit mir erlebt hätte, kenne er von anderen und nenne es: “Blicken in den dunklen Teich.“ Einen solchen Teich hatte ich sogleich vor Augen. Er ist eng von Weiden umstanden und scheint alles Licht zu verschlucken. Anders als der landläufige Begriff „Schwarzsehen“ verweist das Bild des dunklen Teiches auf ein ihm innewohnendes lustvolles, romantisches Element. Sich im dunklen Teich zu suhlen, ist sicher nicht gesund, zumal das Wasser solcher Teiche seine Schwärze von den Ausscheidungen der Blattläuse hat. Der richtige Blickwinkel lässt ihn jedoch silbrig glänzen.

28 Kommentare zu “Auch schwarzes Wasser kann den Himmel spiegeln

  1. höchste Zeit, dass Du mit so etwas aufhörst, lieber Jules. In der Medizin gibt es auch den Begriff der self fulfilling prophecy…..leb einfach nach einem hinduistischen Kalender ab jetzt 😉 Und herzlichen Glückwunsch!

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  2. Es ist eine unschöne Eigenart von mir, die Krankheiten (oder auch nur die Sorge um die Gesundheit) anderer mit einem flapsigen Spruch abzutun und schnell das Thema zu wechseln. Meine Lieben haben gesund zu sein und wenn es nach mir geht, dann haben sie mich bitte auch allesamt zu überleben. Da ich aber langsam wohl endgültig erwachsen werde und seit diesem Jahr manche Sorgen weit besser nachempfinden kann, bessert sich diese Eigenart.
    Das dir der Juni und der nahende Geburtstag nicht behagt, ist kein Wunder. Es ist ein wenig unfair dass dich die Schläge gleich zwei Mal rund um diesen Tag ereilt haben. Ich möchte allerdings bezweifeln, dass so etwas ein drittes Mal geschieht. Zum einen, weil es ein bizarrer Zufall wäre, zum anderen weil ich das einfach nicht möchte. Das mag dem Schicksal egal sein, aber wenn Heinrichs Anweisungen und Wünsche an das Universum schon so gut funktionieren…warum dann auch nicht meine? Demnach bleibst du gesund, lieber Jules und mir und viel wichtiger, deinen Lieben, auch erhalten. Und das in guter Form.
    Ich freue mich über dein Lebenswerk. Besonders da du es auch in der Print Version veröffentlichen wirst und damit in mein Bücherregal einziehen wirst. So sehr ich deinen Blog und die Behandlung des Themas Schrift dort schätze – es ist so viel Wissen zusammen getragen worden, dass es unbedingt in Buchform erscheinen muss.
    Gerade schreibe ich wohl meinen längsten Kommentar und ich könnte noch viel länger mit dir plaudern, lieber Jules. Wir führen unsere Unterhaltungen in den Kommentaren weiter. Noch sehr lange, denn du hast noch viel zu sagen und zu schreiben und ich werde mit großer Freude weiter lesen.
    Auf den Juni, lieber Jules! Das ist unser Monat. Krebse (auch wenn mir Sternzeichen schnurz egal sind) bekommt man nicht so leicht unter.
    Eine Umarmung und herzlichen Glückwunsch zum Lebenswerk!!!!

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    • Liebe Mitzi,
      dankeschön für den rührenden Kommentar. Von deinem längsten Kommentar ever trifft jedes deiner wohlgesetzten Worte ins Ziel und auf keins wollte ich verzichten. Ich interessiere mich auch nicht für Astrologie, kann mir aber denken, dass die Jahreszeit der Geburt sich prägend auf menschliche Eigenheiten auswirkt, so auch Seelenverwandtschaften mit sich bringt, zumindest sicherstellt, dass man sich versteht. Weil ich mich so hübsch von dir verstanden fühle und weil mich aufbaut, was du geschrieben hast, will ich mich an deinen guten Wünschen orientieren. Ich genieße unseren schriftlichen Austausch sehr und freue mich, wenn ich mich wieder mit ganzer Aufmerksamkeit unseren Blogs widmen kann.
      Herzlichen Dank für deinen Glückwunsch zu meinem Lebenswerk. Ich wäre froh, einen Platz in deinem Bücheregal einzunehmen, wie dein Buch meines zieren wird. Fühle dich ebenfalls gedrückt,
      Jules

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  3. Freue mich auf das Buch. Von wegen „Benannt – Gebannt“, da bin ich nicht so ganz einverstanden. Ich bin eher fürs Verdrängen. Durch Benennen verfestigt man eher. Was zwar auch eine Form von „Bannen“ ist, wenn auch nicht von „Verbannen“, so doch von „Festhalten“, „Zementieren“. Herzliche Grüsse!

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    • Könnte sein, dass die sprachmagische Vorstellung „Benannt – gebannt“ (wie im Rumpelstilzchen) hier nicht hilft. Verdrängen hilft schon eher, beispielsweise sehr beschäftigt zu sein. Das Layout für die Printversion des Buches beschäftigt mich so, dass ich kaum etwas anderes denken kann. Dankeschön für den Besuch, den Kommentar und die geäußerte Vorfreude.
      Beste Grüße!

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  4. Gut, daß es Dir wieder besser geht. Ich verbrachte mal vier Stunden in der Notaufnahme, weil ich dachte, ich bekomme einen Herzinfarkt – die Ärzte waren besonders „freundlich“ zu mir, weil es Samstagabend war und sie gewiß besseres zu tun hatten, als einen Kerngesunden zu untersuchen, denn wie sich herausstellte, hatte ich nichts, obwohl ich doch schon seit ein paar Tagen Symptome an mir festgestellt hatte. Mir war’s egal, wie die das fanden, besser, man geht einmal zuviel als einmal zu wenig.
    Buch: Ist notiert, ich warte auf die Printversion. Ich bin gespannt darauf.

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    • Schön, wenn Befürchtungen sich als falsch erweisen. Im schlimmsten Fall wird man durch die diagnostische Mühle gedreht, wie es mir oft erging, weil ich als Beamter privat versichert bin.
      Mit der Printversion hoffe ich über Pfingsten fertig zu werden. Ich komme leider nur langsam voran, weil ich alle Abbildungen jetzt in 300 dpi brauche im Gegensatz zu 72dpi in der digitalen Version. Dafür wird die Printversion eleganter, weil ich das Layout selbst bestimmen kann.

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  5. Lieber Jules,
    ich habe wieder einmal einen Fehler gemacht:
    Nach dem Lesen des Artikels habe ich zuerst die anderen Kommentare gelesen, bevor ich über meinen Kommentar nachgedacht habe.
    NUN habe ich nichts mehr zu sagen.
    (Das ist zwar nichts Neues bei mir, dass ich viel rede, ohne etwas zu sagen, aber manchmal fällt sogar mir das Reden schwer.)
    Die lieben Menschen, die vor mir geschrieben haben, haben schon (fast) alles gesagt.
    Ja, man kann sich anschließen!
    (oder das Fahrrad 😉
    Besser wäre es, man könnte seine Gesundheit anschließen, damit sie uns nicht genommen werden kann.
    Ich wünschen Ihnen das Höchstmaß an Gesundheit, das möglich ist.
    Gruß Heinrich

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    • Lieber Heinrich,
      danke für Ihre freundlichen Worte. Die Idee, die Gesundheit anzuschließen, damit sie uns genommen werden kann, gefällt mir. Oft wundere ich mich, dass es überhaupt etwas wie Gesundheit gibt. Dankeschön für den guten Wunsch und
      beste Grüße,
      Jules

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  6. Der Körper hat verdammt viel Kraft. Die erwähnten Selbstheilungskräfte ebenso wie das unumgängliche „Pipi-Gefühl aus dem Nichts“ sobald man im Stau steht. Es ist sehr gut zu hören, dass es sich diesmal um „Körpergespinste“ gehandelt hat! 🙂

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  7. Zunächst finde ich es schon mal sehr gut, dass du deine Texte zu einem Buch bündelst bzw. ein Buch zur Buchkultur geschrieben hast. Weiterhin finde ich es sehr nachvollziehbar, dass dich die Verbindung zwischen einem bestimmten Datum und dramatischen gesundheitlichen Ereignissen belastet. Ich erinnere mich z. B. daran, dass mir ein Freund vor meinem 50. Geburtstag sagte, dass er bis dahin kerngesund gewesen sei und mit diesem Datum schlagartig eine Verschlechterung seines Gesundheitszustandes eingetreten wäre. Bei mir war es dann eine Lungenentzündung, die mich prompt an meinem Geburtstag erwischte. Ich erwische mich auch immer wieder dabei, dass ich darüber nachdenke, dass mein Vater gerade einmal 71 Jahre alt geworden ist und ob das etwas für mich bedeutet. Die Tatsache, dass Zeit verstreicht, wird uns eben bewusster, je älter wir werden. Also gibt dir Mühe, mach weiter, ich kenne keine gescheite Alternative dazu.

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    • Freut mich! Bald ist es aus dem Weg und ich kann „weiter“ machen, mich anderen Projekten widmen, der Kür sozusagen. Was du von deinem Freund berichtest, zeigt deutlich, wie stark die Gedanken an der Entwicklung von Krankheit berteiligt sein können. Ich hatte zuvor keine Gedanken an mein Lebensalter, nur kurz, als ich 49 wurde, weil mein Vater mit 49 gestorben ist. Ideen von Jahreszahlen und Alter waren bei mir nicht Auslöser, sondern was ich oben geschildert habe, ist die Folge von Ereignissen. Allerdings bin ich jetzt beruhigt, das Buch fertig zu haben. Morgen noch Endschliff am Layout. Dann ist auch die Printversion fertig.

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  8. Lieber Jules,
    dein Lebenswerk hast du ja mit deinen Kindern, deinem Blog und vielem anderen, das ich nicht kenne, längst erfüllt, wenn ich das so sagen darf. Es besteht also kein Grund zu irgendeiner Eile.
    Und natürlich Gratulation zu deinem Buch.
    Mein Schlaganfall liegt ebenfalls sechs oder sieben Jahre zurück. So genau weiß ich es gar nicht. Aber der Eindruck bleibt, man befinde sich bereits in der Verlängerung oder in der Nachspielzeit … und plötzlich ist vieles gar nicht mehr so ernst …

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    • Lieber Herr Ösi, danke für die aufbauenden Worte. Glücklicherweise habe ich noch was zu tun. Jahrelang hatte ich das Buchprojekt vor mir hergeschoben, ließ mich gerne ablenken durch mein Blog und anderes, weil ich dachte, endlos Zeit zu haben. Aber letztens wurde mir klar, dass ich die gar nicht mehr habe, endlich bin wie jedes Lebewesen, und dass ich mich jetzt ranhalten muss in der „Verlängerung.“ Das war ein wichtiger Impuls.
      Mir tut fast leid, dass ich über meine irrationalen Ängste geschrieben habe. Denn eigentlich gefällt mir die heitere Gelassenheit besser, die ich an dir wahrnehme, trotz oder wegen des Schlaganfalls. Daran kann man sich ein Beispiel nehmen.
      Beste Grüße!

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  9. Neulich brachte ich einen meiner (Fach)ärzte etwas aus dem Tritt, als ich ihm sagte, ich vertraue auf die Selbstheilungskräfte meines Körpers. Er meinte dazu, die Menschen dächten immer, sie seien etwas Besonderes. Bevor er jedoch seinen Gedanken weiter ausführen konnte konterte ich mit einem entschiedenen: jeder Mensch IST etwas Besonderes. Ich holte noch etwas weiter aus, aber wir ließen es rasch gut sein, denn die (= seine) Zeit drängte. Glück auf für Dein Buch, auf das ich schon sehr gespannt bin, lieber Jules!

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