Forschungsreise zu den Franken (7) – Grau fahren

Anna bringt mich noch zur U-Bahn. Ob ich wieder mit einer fahrerlosen U-Bahn davon rausche, beachte ich nicht. Es wird jedenfalls keine Bahn gewesen sein, die die Nürnberger von der Münchener Verkehrsgesellschaft (MVG) ausgeliehen haben. Denn bevor die abfährt, ruft ein U-Bahn-Kapitän: „Zurückbleiben!“ Man kann in Münchens U-Bahn kaum verhindern, einmal auf der Schwelle von diesem Befehl erwischt zu werden. Dorfbewohnern und Deppen sagt man ja nach, sie wären ein bisschen zurückgeblieben. Doch muss die MVG die Münchner ständig zum Zurückbleiben auffordern? Das grenzt an Gehirnwäsche, ist aber offenbar nötig, denn einmal am Tag muss jeder Münchner, jede Münchnerin sich zum Marienplatz begeben und sinnlos am prächtigen Rathaus vorbeilaufen, weshalb da ein unfassbares Gerenne ist. So habe ich es jedenfalls vor fünf Jahren und mehr erlebt, als es noch eine Frau an meiner Seite gab, die mich sicher durch die Fährnisse einer fremden Großstadt geleitet hat. Heute könnte ich höchstens eine sterile Smartphone-App haben. Von der fahrerlosen Nürnberger U-Bahn, ihren Vorzügen und Nachteilen hatte ich jedenfalls schon durch Matthias Egersdörfer gehört:

An der Hotelrezeption knubbelt sich eine vielköpfige Reisegruppe. Ich muss warten, bevor ich bitten kann, meinen Koffer herauszugeben. Eine genervte und überforderte Angestellte verlangt meinen Rückgabe-Beleg zu sehen. „Den habe ich von Ihrer Kollegin nicht bekommen“, behaupte ich. „Dann kann ich Ihnen doch nicht einfach einen Koffer geben!“ Inzwischen hat sie den Raum aufgeschlossen und ich sehe meinen Koffer. „Da ist er, ich kann Ihnen sogar sagen, was drin ist!“ „O nein,“, sagt sie, „Ich werde nicht einfach einen fremden Koffer aufmachen.“ Die kleine Angestellte von heute früh kommt dazu und erinnert sich an mich. Sie hätte mir doch einen Beleg gegeben. Da zücke ich meinen vermeintlichen Fahrschein, alle atmen erleichtert auf, und ich bekomme meinen Koffer noch rechtzeitig.

Am Abend kickt die Frau ihre unbequemen Pumps von ihren müden Füßen, lässt sich aufstöhnend aufs Sofa fallen und erzählt ihrem Liebsten, was wieder los war im Hotel. „Und im schlimmsten Trubel wollte einer seinen Koffer ohne Legitimation abholen. Behauptete, man hätte ihm keine gegeben, fand das Kärtchen dann aber doch in seiner Brusttasche. Und was soll ich dir sagen, der Depp hatte den Kofferbeleg zweimal in der U-Bahn vom Automaten abstempeln lassen!“

Schon um 6 Uhr in der Früh war ich im Bahnhof gewesen und hatte gefrühstückt. Während ich meine Lebensgeister mit einem Kaffee weckte, beobachtete ich die Angestellten bei der Bäckerei und angrenzenden Imbissen. Ich sah wie Fischgerichte abgepackt und Imbisse auf den Kundenansturm vorbereitet wurden. Alle beachteten ein gemäßes Tempo, denn es würde wieder heiß und anstrengend werden heute. Eine junge Frau in Bäckerei-Uniform schmiert stoisch Brote, Berge davon. Ich Müßiggänger profitiere von ihrer Arbeitsleistung und bedauere sie für ihre Tätigkeit tagein tagaus. Irgendwann wird die Frau darüber alt geworden sein, das letzte Brot schmieren und sich fragen, wieso ihr dieses öde Butterbrotleben bestimmt war und ob sie nicht etwas Besseres aus ihrem Leben hätte machen können, denn schließlich war sie auch mal ein hoffnungsfrohes Kindlein gewesen, damals als man ihr Lesen und Schreiben beibrachte.

Manche aber gehen auf in ihrem Beruf und erfüllen ihn mit ihrer ganzen Existenz, so der junge Zugschaffner im ICE. Nachdem er meinen Fahrschein geknipst hat, fragt er nach der Bahncard. Ich habe nur eine provisorische Bahncard 25, gemeinsam mit dem Fahrschein erstanden. Er stutzt und sagt: „Kann ich den Fahrschein nochmal sehen? Da stand doch Bahncard 50.“ Und ja, die freundliche Frau im hannoverschen Reisezentrum hat sich zu meinen Gunsten vertan. Er schaut mich böse an. Ich sage: „Aber das ist nicht meine Schuld. Wie Sie sehen können, habe ich Bahncard und Fahrschein gleichzeitig gekauft.“ Da guckt er noch böser, und ich denke, jetzt zieht er den Elektroschocker, denn neben mir sitzt keine blonde Schönheit, sondern nur ein nach Zigarettenqualm stinkender Blödmann. Zum Glück überzeugt den Schaffner mein Argument, und er wendet sich ab. Immer nur Ärger mit den Unterbetreuern.

Vor mir an der Rückenlehne ein quadratischer Aufkleber mit Scann-Kode, darüber die Aufforderung: „Bitte beurteilen Sie die heutige Fahrt!“ Wer sein Smartphone tatsächlich an den Scann-Kode hält, um die Fahrt zu beurteilen, nein, dessen Kopf möchte ich lieber nicht haben, und wenn ich hundert mal schon grau auf dem Kopf bin. Ich bin so froh, dass mich die Bahn nach Nürnberg und zurückbefördert hat, denn müsste ich zu Fuß laufen, hätte ich all die schönen Begegnungen und Erfahrungen erfinden müssen. Und wer kann das schon?

Epilog

Die 50 Häuser des Leonardo Fibonacci

Was der Mensch als schön empfindet, entzieht sich gemeinhin der Beschreibung. Da verschiedene Menschen unterschiedliche Dinge als schön empfinden, scheint Schönheitsempfinden völlig subjektiv zu sein. Darum hat mich als junger Mensch fasziniert, dass schon im antiken Griechenland ein mathematisches Verfahren zur Bestimmung von Schönheit, genauer der schönen Proportion gefunden wurde: Der Goldene Schnitt. Proportionen nach dem Goldenen Schnitt finden sich seither in der Architektur, in der Malerei, ja, sogar in der Natur ist der Goldene Schnitt auffindbar.

Die Formel minor zu major wie major zum Ganzen beschreibt den Goldenen Schnitt. Das bedeutet, wenn es eine Strecke aufzuteilen gilt, verhält sich das kleinere zum größeren Stück wie das größer zum Ganzen, also der Summe beider Abschnitte, in ganzen Zahlen ausgedrückt:
3:5 wie 5:8 wie 8:13 wie 13:21.
Den Goldenen Schnitt lernte ich während meiner Schriftsetzerlehre kennen. Im Kunststudium begegnete mir die Fibonacci-Folge, eine Zahlenreihe, der man auf Anhieb ansieht, dass sie dem Goldenen Schnitt entspricht. Die Fibonacci-Zahlen sind nach dem Mathematiker Leonardo Fibonacci (1170 – 1240) benannt.

Fibonacci hat die unendliche Zahlenreihe 3, 5, 8, 13, 21, 34 usw. an der Vermehrungsrate von Kaninchen festgestellt. Dass sich wildlebende Kaninchen nach dem Goldenen Schnitt fortpflanzen, ist nur ein Grund, warum die Fibonacci-Folge mich fasziniert. Sonst wirkt die rasch anwachsende Menge von Kaninchen eher bedrohlich, weshalb die Fibonnacifolge im unten stehenden Auszug aus den Papieren des PentAgrion dekonstruiert wird.

Ihr Gesicht verdunkelte den Himmel.
„Darüber weiß ich nicht das Geringste“, sagte ich und hoffte, sie würde bald weggehen.
„Wovon wissen Sie nicht das Geringste?“, fragte die Frau.
„Weshalb der Überschuss von Kaninchen in Brand gesteckt wurde.“
„Welche Kaninchen?“
„Das weiß ich nicht. Stijn van de Voorde hat zu schnell gesprochen. Hab nur die Hälfte verstanden.“
Sie legte ihre Hand beruhigend auf meine Stirn und beschattete ein wenig meine Augen. „Machen Sie sich keine Gedanken“, sagte sie nah bei meinem Ohr. „Sie haben den Mann gewiss falsch verstanden. Nicht ein Kaninchen ist abgebrannt worden.“
„Doch! Er hat gesagt, sie gälten in Deutschland als Plagdiere, und deshalb würden sie abgefackelt.“ Da habe ich gleich gedacht, warum das denn? Wie viele Kaninchen umfasst der Überschuss? Ab wann werden Kaninchen zu Plagdieren, so dass man von einem Überschuss reden kann? Reichen 34? Vielleicht sogar schon 21 oder 13? Wenn man Kaninchen im Stall hält, wären vermutlich acht schon eine Überbelegung und würden eine drangvolle Enge verursachen. In einer Dreizimmerwohnung würde der Vermieter bereits fünf Kaninchen einen Überschuss nennen und unverzüglich ihre Verbrennung fordern. Und ist die Wohnung klein, wären drei, sogar zwei Kaninchen eine Last und müssten abgebrannt werden. Tatsächlich könnte ein einziges Kaninchen stören, wenn es ständig im Weg rumhoppelt. Demgemäß ist jedes einzelne Kaninchen ein überschüssiges Plagdier und muss ohne Mitleid angezündet werden. Selbst das, auf dem ich gerade liege.
„So beruhigen Sie sich doch!“ raunte die Frau. „Nicht ein Kaninchen wird verbrannt. Und außerdem liegen Sie nicht auf einem Kaninchen. Das ist mein roter Mantel, aus Kaschmir.“ Sie richtete sich auf und schaute gegen den blauen Himmel. „Hören Sie doch das Tatütata! Da kommt schon der Krankenwagen den Lousberg hinauf. Sie werden gleich hier sein und Ihnen helfen.“
„Die sollen sich beeilen“, sagte sich. „Ich habe eine Wollallergie und spüre schon, dass mein Kopf zerspringen will.“
„Das liegt nicht an der Kaschmirwolle. Sie sind gegen den Obelisken gestoßen.“
„Nein!“, sagte ich und fuhr hoch. Über mir der gewaltige Obelisk. O Gott, wie ragte er hinauf. Irgendwo da oben, wo seine fluchtenden Kanten sich zu vereinen schienen, durchstieß er die Himmelbläue und verschwand in den Schwärzen des Weltalls. Dieser Obelisk war mir so fern entrückt, der konnte mir nichts anhaben. Ein Mann war um die Ecke des Sockels gekommen und hatte mir seine Faust ins Gesicht gestreckt.“

Ganzer Text hier

Man sieht, die Fibonaccizahlen beschäftigen mich schon länger. Damit bin ich nicht der einzige, wie die Auflistung „Rezeption in Kunst und Unterhaltung“ bei Wikipedia zeigt, wo freilich das Projekt 50 Häuser noch fehlt.

Das künstlerische Fotoprojekt „50 Häuser“ beginnt mit der Hausnummer 3 und ist eine Visualisierung der Fibonacci-Folge. Zu sehen sind drei Häuser der Hausnummer 3, fünf Häuser der Hausnummer 5, acht Häuser mit der Hausnummer 8, 13 Häuser der Nummer 13 und 21 Hausnummern 21. Die meisten Häuser mit den jeweiligen Hausnummern habe ich in Hannover fotografiert. Weitere Fotos stammen aus München, fotografiert von Mitzi Irsaj, Careca und Dinogenes, aus Hamburg, fotografiert von lunarterminiert, und aus Köln, fotografiert von Videbitis.
Obwohl alle Häuser des Projektes „50 Häuser“ an verschiedenen Orten zu unterschiedlichen Zeiten von verschiedenen Personen fotografiert wurden, sind sie auf einer Metaebene durch das Konzept der Fibonaccifolge verbunden, abzulesen an einem Zähler, der in der Gif-Animation unten rechts mitläuft. Die erste Zahl zählt die Hausnummern einer Fibonaccizahl, die zweite Zahl zeigt die jeweilige Fibonaccizahl, die dritte Zahl zählt die gesamten Häuser. Sieh selbst:

50-häuserkorrekturKonzept & Gif-Animation: Jules van der Ley (Trithemius)