Wenn im Wind sich Wellen wellen

In frischer Morgenluft fuhr ich mit dem Rad ein Stück flussaufwärts, vorbei am Wehr, wo aus dem schnellen Graben das Wasser der Leine in den Bach Ihme stürzt und ihn für wenige Kilometer zum Flussabschnitt macht. Auf der Wiese lud man zu mietende Kanus von Anhängern ab. Kleine Gruppen standen beieinander und wurden für Kanufahrten instruiert. Jede(r) hatte schon die leuchtend orangefarbene Schwimmweste umgetan. Ich überquerte die Leinebrücke zum Maschsee hin. Ah, wie sanft die Leine dahin zieht mit dem wenigen Wasser, das man ihr gelassen hat. Zuvor war die Ihme vom Uferweg nicht zu sehen gewesen. Ein Meer hoher Stauden verwehrt die Sicht.

Das Kraut blüht dunkelrot mit einem Stich zum Violetten, und die Blüten duften durchdringend bis hart an den Rand des Unangenehmen. Vermutlich ist das Zeug von irgendwo eingewandert, als Same mit Meteoriten von fernen Planeten zu uns gekommen, und breitet sich langsam von der Ihme aus, um irgendwann zuerst Niedersachsen, dann Deutschland, Europa, weiter Asien und den ganzen Erdball zu erobern. Man soll nicht sagen, ich hätte nicht gewarnt.

Aber egal jetzt. Ich muss mir nicht immer Gedanken um den Planeten machen. Es ist schön am Maschsee. Glücklicherweise sind auch die letzten Vergnügungstempel, Sauf- und Fressbuden vom Maschseefest abgebaut. Ich kann den See wieder ungehindert umrunden und genieße, wie hübsch mein Fahrrad dahinrollt. Doch drüben bei der martialischen Löwenbastion lockt in der Sonne eine leere Bank. Warum nicht eine Weile hier sitzen? Es ist ja noch früh!

Ein leiser Wind streicht von Süden über den See und kräuselt die Wasserfläche. Kleine Wellen streben dem Nordufer zu. Nach einer Weile frage ich mich, was geschieht, wenn sie bei der Promenade an die Ufermauer treffen. Wohl gar nichts; sie werden sich dort nicht auftürmen. Dazu sind sie zu schwach. Sie werden einfach aufhören, Wellen zu sein.

Ach, wie holzschnittartig die deutsche Sprache manchmal ist, indem sie jederzeit liebedienerisch Substantive anbietet für Vorgänge wie Wind und Welle. Indem wir Luftbewegungen „Wind“, Wasserbewegungen „Welle“ nennen, denken wir wie Starrköpfe. „Zu Wind gibt es gar kein passendes Verb im Sinne von bewegter Luft, „winden“ bedeutet etwas anderes. Wir haben zwar das Verb „wellen“, nutzen es aber selten. Wollte ich schreiben „Das Wasser wellt sich“, denkt man sogleich an eine Riesenwelle, die sich aufbaut und, einen Tunnel bildend, nach vorne rollt, um an ihrem Kamm zu brechen. Ein todesmutiger Surfer schneidet die Welle im Tunnel an und lässt sich in ihr vorwärts treiben, bis die Gischt über ihm zusammenbricht, ihn mit sich reißt bis auf den Grund. Ob er noch mal auftauchen wird? Das sind bange Minuten.

Hallo?! Wir sitzen am Maschsee. Das ist kein Gewässer für Wellensurfer. Wie die Wasserfläche vor dem Wind sich kräuselt und scheinbar vorbeiströmt, wirkt der See wie ein Strom, breit wie der Rhein. Von links nach rechts wellt es sich unablässig als wäre ich sehr betrunken, besoffen, richtig hackevoll, wenn sich das Bild meiner Umgebung gegen alle physikalische Logik unablässig vor meinen Augen von links nach rechts schiebt, ohne je nach links wieder zurückzukehren. Es heißt in solchen Fällen, dass die Welt sich drehe, aber es ist gar kein Drehen. Es ist immer das gleiche Bild, das sich vorbeischiebt. Wie das Bild dieser Wellen hier, die ja keine Individualität haben, auch gar nicht bestehen, sondern sich nur gleichförmig immer wieder neu bilden, so dass es besser wäre, nur von „wellen“ zu sprechen, weil sie gar keine Wellendinger sind.

Mal gucken, ob die Stadt noch steht – 2. Etappe

Im gestrigen Beitrag war von einer Ladesäule und einem Stromabnehmer die Rede. Aus einem Informationsblatt der ÜSTRA weiß ich inzwischen, dass es „Lademast“ und „Panthograph“ heißen muss. Der neue Bus hat etwas Steriles. Vertraut von außen ist das Farbkonzept, Lindgrün mit Grau. Dieses Lindgründ findet sich als verstreutes Akzent auch im Inneren. Die Sitze sind sparsam gepolstert, aber haben einen anthrazitfarbenen Plastikbezug. Gut zu reinigen, aber nicht besonders einladend. Mit mir ist eine junge Frau eingestiegen. Bis zum Siloah-Krankenhaus bleiben wir die einzigen Fahrgäste. Den Namen Siloah trug das Krankenhaus seit seiner Gründung im 19. Jahrhundert.

Das Wort „Siloah“ stammt aus dem Hebräischen und bedeutet „ausgesendet“. In der Nazizeit hieß die Klinik Krankenhaus Ricklingen. Im Jahr 2012 wurde ich erstmals zum Cyborg, als mir in der Klinik nach einem Herzinfarkt ein Stent ins Herz gepflanzt wurde. Damals war das Siloah im Umbau. Inzwischen sind im westlichen Klinikgelände eine Reihe von Neubauten fertiggestellt, und der Haupteingang wurde nach hier verlegt. Am Siloah steigen zwei Leute zu, ein Mann und eine Frau. Der Mann trägt eine Strickmütze in Lindgrün, so dass ich ihn für einen ÜSTRA-Mitarbeiter halte. Er scheint aber von außerhalb zu sein, denn er erkundigt sich später, wo er aussteigen müsse, um zum Bahnhof zu kommen. Wir fahren über die Stadionbrücke und überqueren die Ihme. Sie hat Hochwasser und leckt breit und behäbig über die Uferwiesen.

Um Hannovers Altstadt vor Hochwasser zu schützen, wird das Wasser der Leine auf Höhe des Maschsees über den Schnellen Graben in die Ihme geleitet, die vorher nichts als ein friedlich dahin murmelndes Bächlein ist. Als würde ein Säugling sich schlagartig verwandeln in einen Koloss von einem Mann, weitet sich das Bächlein unvermittelt zu einer schiffbaren Bundeswasserstraße.

Die Stürme der vergangenen Tage müssen am Oberlauf viel Regen gebracht haben. In Hannover hat es wie immer nur mäßig geregnet. Deshalb staune ich über soviel Wasser. Beim Schnellen Graben gibt es im Sommer einen Bootsverleih für Kanutouren über Leine und Ihme. Im Jahr 2017 haben mir Freunde eine solche Kanutour zum Geburtstag geschenkt. (Teestübchen berichtete)

Der Bus biegt vorher ab und nimmt schmale Wege, die hinter der HDI-Arena vorbeiführen, wo es Eingänge für Fans und eine Zufahrt für Mannschaftsbusse gibt. Im Jahr 2002 vermietete der Fußballclub Hannover 96 die Namensrechte für das ursprüngliche Niedersachsenstadion an Carsten Maschmeyers Finanzdienstleister AWD. Später gingen die Namensrechte an die Versicherungsgruppe HDI. Ab dem 1. Juli 2022 wird das Stadion den Sponsorennamen Heinz von Heiden-Arena bekommen. Das Isernhagener Unternehmen „Heinz von Heiden Massivhäuser“ hat für fünf Jahre die Namensrechte erworben. Für kurze Zeit fährt der Bus parallel zur Leine, die auch hier viel Wasser führt. Es ist trüb und hat offenbar wieder eine Menge Humus von überfluteten Feldern weggeschwemmt. Wir passieren die Robert-Enke-Straße, benannt nach dem populären 96-Torwart, der sich im November 2009 an einem Bahnübergang das Leben nahm. Die Straße heißt passender Weise vor der Einmündung in die Straße Arthur-Menge-Ufer auch Seufzerallee. Seufzend steigen wir aus und bummeln an der Maschseepromenade entlang zum Kurt-Schwitters-Platz.

Wird fortgesetzt

Drei Mann in einem Boot und auch noch ein Schwamm

Am Leinewehr rauscht und tost es. Man hört es schon von weitem. Da wälzen sich die Wassermassen der Leine hinab, und stürzen schäumend fast vier Meter hinunter und in die breit ausgebaute Ihme. Um Hannovers Altstadt vor Hochwasser zu schützen, wird das Wasser der Leine auf Höhe des Maschsees über den Schnellen Graben in die Ihme geleitet, die vorher nichts als ein friedlich dahin murmelndes Bächlein ist. Als würde ein Säugling sich schlagartig verwandeln in einen Koloss von einem Mann, weitet sich das Bächlein unvermittelt zu einer schiffbaren Bundeswasserstraße.

An diesem Sonntag ist die Sperre am Wehr völlig offen, denn die Leine muss viel Wasser loswerden, kein Wunder bei den heftigen Regenfällen dieses feuchten Sommers. Auf einer Wiese gegenüber dem Wehr haben sich etwa 50 junge Leute versammelt und lassen sich von Mitarbeitern eines Kanuverleihs einweisen für eine Kanutour über Leine und Ihme, legen orangefarbene Schwimmwesten an und tragen oder schieben dunkelgrüne Kanus zur Ablegestelle. Claus, Philipp und ihre Frauen haben mir diese Tour zum Geburtstag geschenkt. Wir hatten seit Anfang Juli auf einen passenden Termin warten müssen, denn die Ihme und selbst die um 90 Prozent ihrer Fluten gezähmte Leine sind mehrfach über die Ufer getreten, und oft hat es zu sehr geregnet.

Die erste Herausforderung ist, sicher ins schaukelnde Kanu einzusteigen. Ich lasse mir helfen. „Jules, alles geht, aber nichts muss!“, bekräftigt Philipp, will sagen, ich kann mich auch einfach paddeln lassen und bequem zurücklehnen. Von wegen. Man hockt wie ein Äpche op em Päcksche Tabak, wie der Rheinländer sagt, was bei latenten Rückenschmerzen kein Vergnügen ist (vom Affen später mehr.) Nicht hundert Meter werde ich so sitzen können. Doch nach einer Weile gewöhne ich mich an die Hocke im Schneidersitz und genieße die Fahrt.

Claus – seine Frisur und seine Schwimmweste – Foto: JvdL


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