Wie ich den Mindestabstand zu mir selbst einhalte? In der katholischen Ohrenbeichte kann man sich von all seinen Übeltaten distanzieren. (Zum Thema Beichte erzähle ich morgen die Geschichte meines Urgroßvaters, wie er den Beichtstuhl samt Pastor umgeworfen hat.) Da ich aus der Kirche längst ausgetreten bin, distanziere ich mich auf eigene Hand von allem, was ich wissentlich oder unwissentlich meinen Mitmenschen angetan habe. Eine andere Form der sozialen Distanz von mir selbst praktizierte ich gestern beim Zahnarzt, wo ich wegen einer entzündeten Zahnwurzel war.
Wie ich machtlos auf dem Zahnarztstuhl lag, der ja mehr eine höhenverstellbare Pritsche ist, als ich den Mund öffnete, damit die Zahnärztin und ihr Assistent darin hantieren konnten, verlegte ich mein Ich in den Mann, den ich bei meiner Ankunft gesehen hatte. Die Praxis erreicht man durch ein Gärtchen mit einem kleinen Teich. Dort stand ein Mann und fischte mit einem Kescher die herabgefallenen Kirschblüten aus dem Wasser.
„Besser das tun als gar keine Arbeit zu haben“, dachte er. Da war ich die mahnende Stimme in seinem Hinterkopf:
„Hat dich deine liebende Mutter an ihrer Brust genährt, damit du im Hinterhofgärtlein einer Zahnarztpraxis einen Teich reinigst? AUA! Ich würde meinen, diese Arbeit ist für einen müden Gaul, der sein Gnadenbrot verdienen muss, und nicht für ein kraftstrotzenden jungen Mann.“
„Lass meine Mutter aus dem Spiel!“
„Sie hatte wohl andere Hoffnungen für dich.“
„Hallo? Ich muss mich konzentrieren.“
„Was gibt es denn da zu konzentrieren? Zählst du etwa jedes Blütenblatt einzeln? AAAARGH!
Sorry, ich muss mal zurück auf den Stuhl, mir wird grad schlecht.“
So einfach war die soziale Distanz von mir selbst dann doch nicht.
ÄÄÄCHZ!
Geschafft. Ein Teil von mir hält für immer Abstand. Der Zahn liegt auf einer Ablage. Die Zahnärztin triumphiert: „Ein Siebener! Da wird sich meine Schwester freuen, der fehlt noch in ihrer Sammlung.“
Und ich wurde nicht mal gefragt, ob ich ein Stück von mir für die dubiose Sammlung ihrer Schwester stiften wollte.
Der Abstand zu sich selbst der für jeden Menschen hilfreich, lässt sich wohl kaum mit einem Zollstock messen.
Ich bin nicht religiös und verstehe einfach nicht, das allen Menschen Schuld erlassen sein soll, wenn sie einem „Urbi et Orbi“ vielleicht beim Putzen im Radio erlassen werden soll, auch solchen, die an „Schuld“ nicht glauben … Allmachtsfantasie?
Mein Zahnartzt versteht sich als akademischer Handwerker. Das kann ich leichter nachvollziehen, nach manchen Wurzelbehandlungen bei ihm.
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Mal kurzzeitig Abstand zu nehmen von sich und seinem Trachten und Tun, ist sicher gut. In der Selbstreflektion kann dem Menschen ein LIcht aufgehen. Manche tun das zu selten, weshalb es finster in ihren Köpfen ist.
Ich glaube, bei der katholischen Ohrenbeichte geht es darum, sich zu seinem Handeln zu bekennen, seine „Sünden“ auszusprechen. Die Idee dahinter ist nicht schlecht. In der Praxis kann der gläubige Katholik fröhlich sündigen und sich in der Beichte davon reinweichen lassen.
Der päpstliche Segen Urbi et orbi gewährt allen den Ablass ihrer Sünden, die guten Willens sind. Wer nicht daran glaubt, hat davon gar nichts.
Ich hoffe doch, dein Zahnarzt versteht sein Handwerk 😉
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Danke für Deine Katholischnachhilfe in Sachen Urbi et Orbi.
Das Abwaschprinzip der Beichte hat mich noch nie überzeugt, als ein Weg, der zu Veränderungen führen kann, der protestantische Weg ist mir näher.
Zweifelte ich an den handwerklichen Fähigkeiten meines Zahnarztes, hätte ich einen Anderen.
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Wenn man mich fragte: Wenn du zurückblickst, was würdest du lieber machen, dein Arbeitsleben so verbringen, wie du es verbracht hast, oder dein Geld damit verdienen, herbgefallene Kirschblüten aus Teichen zu fischen? Ich würde ganz gewiß letzteres wählen. Ich bin mir sicher, ich wäre mir viel näher gewesen.;-)
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Ich schätze dich ja schon lange als außergewöhnlichen Menschen und bin fast sicher, dass dir das Kontemplative an der Tätigkeit gefallen würde, aber es gäbe wohl sehr wenig Geld und du könntest in deiner Freizeit nichts von dem tun, was dir etwas bedeutet.
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Deine Einschätzung ehrt mich, danke!:-)
Ja, wahrscheinlich hast Du recht, das ist eine romantische Vorstellung, ähnlich der, als Ziereremit in einem englischen Garten zu arbeiten.
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Beim Zahnarzt ausgerechnet bin ich so derart geworfen auf mich selbst, dass jede gedankliche Möglichkeit, jemand anders zu sein bereits an der Wurzel (😲), schon im Ansatz scheitert.
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Ja, es kann einen überwältigen. Auch für mich war es schwerer als es im Text wirkt. Zum Abschied sagte meine Zahnärztin: „Wir sehen uns wieder in zwei Jahren, wenn der nächste Notfall droht.“ Bis dahin habe ich Zeit zu trainieren.
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Ich hoffe, du verschwendest die schönen zwei Jahre mit anderen Dingen 😊!
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„Verschwendest“ gefällt mir gut.
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Ich hab meiner Lieblings – Zahnarzthelferin meine mit dem zunehmenden Alter steigende Angst gestanden und dass ich die Zahnsteinentfernung mit jedem Mal schlimmer finde. (als Kind war ich saucool beim Zahnarzt) Sie war gar nicht verwundert – das sei bei vielen so, das sie empfindlicher werden. Na toll, und ich bin erst 34
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Und ich bin doppelt so alt 😉 Aber ich kann dich beruhigen, die Empfindlichkeit verdoppelt sich nicht im Alter.
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Das diskutieren wir nochmal wenn ich 70 bin!
Zwischen 17 und 34 ist es bei mir nämlich schon doppelt so schlimm geworden. Wie hast du die Kurve abgeflacht?
Guten Morgen 🤗
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104 will ich aber nicht werden. Entspannung.
Guten Morgen
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Doppelt so alt wäre 140 🙂
Üb ich noch dran.
Guten Mittag.
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