Auf den schrägen Wegen der Vergangenheit

Er hatte den Gang anders in Erinnerung, nicht so finster und so niedrig. Auch führte er nicht im rechten Winkel von der Straßenfront weg, wie er gedacht hatte. Klar, es war eine Toreinfahrt zum Hinterhof und Hinterhaus, die quasi unter der ersten Etage des Vorderhauses verlief, die Schrägführung des Ganges schien ihm aber nicht logisch. Andererseits ist in dieser Welt kaum etwas logisch, obwohl die verfälschende Wahrnehmung ihren Bewohnern etwas anderes vermittelt. „Wahrnehmung müsste korrekt Falschnehmung heißen“, dachte er.

Vor neun Jahren, als er diesen Gang zum Hinterhaus oft durchschritten hatte, war ihm seine Schräge nicht aufgefallen. Andererseits musste er sich eingestehen, dass ihm schräge Verhältnisse früher nie aufgefallen waren. Zu der Frau im Hinterhaus hatte er eine überaus schräge Beziehung unterhalten. Zuerst hatte es ihn geschmeichelt, dass sie so viele Jahre jünger war als er. Er hatte Verantwortung für ihre achtjährige Tochter übernommen, sie dienstags von der Schule abgeholt, sie bekocht und den ganzen Tag betreut, hatte sich bis zum Überdruss die Hannah-Montana-Tanzvorführungen des Mädchens angesehen, damit ihre Mutter in Ruhe studieren konnte. Er hatte auch eingewilligt, sich die Haare zu färben, um nicht auszusehen wie der Großvater des Kindes. Nur in ihr Elternhaus hatte er sich geweigert mitzukommen. Die Eltern hatten eine Fleischerei und im ganzen Haus das Blut toter Tiere zu riechen, hatte er nicht über sich gebracht.

Es war Licht auf der ersten Etage. Er trat an die Haustür und warf einen Blick auf das Klingelbrett. Die Brille hervorzuholen, um die Namen lesen zu können, vermied er. So zog er ab, ohne zu erfahren, ob sie noch im Haus wohnte. „Besser ist das“, dachte er, als er den schrägen Gang zur Straße durchschritt. Er wäre überhaupt nicht hergekommen, wenn er nicht zu viel Wein und Maibowle getrunken hätte. Die Maibowle hatte ihm im Kleefelder Kulturhaus die aparte neue Frau seines Freundes Klaus serviert. Klaus ist ehedem Professor an der Leibniz-Universität gewesen und ist heute ein erfolgreicher Poetryslammer. Zusammen mit einem jungen Slammer hatte er das Programm „Lesen für Maibowle“ auf die Bühne gebracht. Die beiden hatten Texte anderer Autoren vorgetragen, und Klaus hatte auch zwei von ihm gelesen, den und den, beide perfekt intoniert. Um die Bühnenpräsenz und den perfekten Vortrag beneidete er ihn. Für die Texte hatte es Maibowle gegeben. Er hatte Klaus mehr als acht Jahre nicht mehr gesehen, zuletzt vor dem Schlaganfall. Als er von der Kur in Bad Godesberg zurückgekommen war, hatte eine Ansichtskarte im Briefkasten gesteckt, die Fotografie einer großen Gesellschaft. Der Text auf der Rückseite war dem Briefträger wohl nass geworden, so dass die Tinte völlig verwischt war. Erst später hatte er verstanden, dass Klaus wieder geheiratet hatte.

Der junge Slammer hatte auch schön gelesen, unter anderem einen Text aus einer Burda-Zeitschrift aus den 1950-er Jahren. „Soll die Hausfrau am Putztag Besuch empfangen“ oder so ähnlich. Eine Frau Sybille gab Ratschläge, wie eine Hausfrau sich zu kleiden habe, um trotz Hausputz einen unerwarteten Besucher einlassen zu können, ohne ihre Attraktivität zu verspielen. Der Slammer, ein studierter Psychologe, entschied sich spontan, „Hausmann“ statt „Hausfrau“ zu lesen. Leider ging durch das politisch korrekte Gendern die angestaubte Diktion des Textes verloren, die ganze Spießigkeit der 1950-er Jahre und die latente Frauenfeindlichkeit. Blöd ist es, vergangene Texte auf heutige politische Korrektheit zu bügeln.

Es war trotzdem ein schöner Abend gewesen. Nach neun Jahren mal wieder in Kleefeld gewesen zu sein, das von Linden aus ganz am anderen Ende von Hannover liegt, den Kontakt zu Klaus erneuert zu haben und überhaupt alte Wege gegangen zu sein. Es war auch gut, dass er nicht in Erfahrung gebracht hatte, ob die inzwischen nicht mehr ganz junge Frau noch im Hinterhaus lebte. So blieb das Kapitel geschlossen.

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