Einer ist störrisch

Immer öfter geschieht es, dass ich dinge nicht tun möchte, auch solche, die eine gewisse notwendigkeit haben. An der stadtbahnhaltestelle in meiner nachbarschaft fehlt noch ein hochbahnsteig. Wenn die bahn dort anhält und die türen sich geöffnet haben, fahren treppen hinab zum bürgersteig. Da ich bei jedem wetterwechsel schmerzen in meinem genagelten schienbein habe, fällt mir schwer, die stufen aus der bahn hinabzusteigen. Besonders die letzte stufe hat viel abstand zum abschüssigen bürgersteig. Schon öfter hat mich auf den stufen aus der bahn die große unlust befallen und ich musste mich zwingen, den letzten schritt zu tun. Das gelingt nicht immer.

Irgendwann schaltet die Stadtbahnfahrerin den Lautsprecher ein und sagt: „Bitte geben Sie die treppe frei!“ Ich denke ja nicht daran. Deshalb ruft sie hinterher: „Geh weiter mann!“
Nach einer weile, verlässt sie den leitstand, kommt über den bürgersteig zu mir nach hinten und fragt: „Was ist los? Warum gehen Sie nicht weiter?“
„Mich hat auf der treppe die große unlust überkommen, und jetzt muss ich leider hier verharren.“
„Sein ernst?“, fragt sie.
„Yo, sein ernst.“
„Wenn Sie die tür blockieren, fahre ich mir eine verspätung ein.“
„Das ist nicht logisch. Wenn ich die tür blockiere, fahren Sie gar nicht, mithin können Sie keine verspätung einfahren.“
„Entweder geben Sie die treppe frei oder ich komme Ihnen mit dem großen hammer.“
„Oho, der große hammer! Sie bluffen.“
„Gar nicht.“
Inzwischen sind die anderen fahrgäst aufgestanden und haben sich um die offene tür versammelt. Einige filmen die situation mit dem smartphone.
„Dann holen Sie doch Ihren hammer!“
„Er will es nicht anders, also: Sie erlauben sich diese frechheit nur, weil ich eine frau bin.“
Verdammt, sie schwingt den großen diskriminierungshammer! Jetzt hat sie mich.
„Yo, damit fegen Sie mich von der stufe. Bitte entschuldigen Sie die verzögerung!“
Sie entert triumphierend den leitstand, fährt die treppe hinter mir ein; die tür schließt und die bahn rauscht davon.

Ich überquere die straße auf dem zebrastreifen, betrete die bäckerei und sage … sorry! Ich habe nicht die geringste lust auf einen dialog mit dem bäckereiperso …

Der Schlüssel zu allem

Nach langer zeit saßen wir mal wieder zusammen. In Costers dienstwohnung im gartenpavillon der reichen tuchhändlerfamilie Mantels auf dem Aachener Lousberg hatten sich eingefunden, der kulturwissenschaftler Steffen Gaukler, pataphysiker Jeremias Coster und ich als chronist, der schriftsteller Julius Trittenheim.
„In dieser konstellation haben wir noch nie zusammen gesessen“, widersprach Coster. „Wenn Gaukler im pataphysischen institut auftaucht, bin ich längst tot, also nicht, dass ich mich aus dem staub gemacht hätte, um ein zusammentreffen mit ihm zu vermeiden, sondern weil deine eingangsszene hier auf einer zeitdiffusion beruht, Trittenheim.“

„Still, Coster!“, sagte ich. „Dann sitzen wir meinetwegen in einer zeitschleife. Schon der gartenpavillon der Mantels an diesem ort ist ein anachronismus. Wir wollen uns nicht drum bekümmern, solange herr Mantels keine büttel vorbeischickt und eigenbedarf anmeldet.“
„Haben wirs dann?“, fragte Gaukler ungeduldig. „Ich nehme übrigens noch einen printenlilör, Herr Coster.“
Derweil Coster ihm einschenkte, beobachtete Gaukler aufmerksam, wie die dunkle flüssigkeit sämig aus der flasche floss und den spiegel in seinem gläschen ansteigen ließ. Dann lehnte er sich zufrieden zurück und sagte: „Manchmal kreist in mir eine vage idee. Wenn ich mich dann hinsetze und zu schreiben beginne, ist mir, als ob diese idee wie ein schlüssel einen wust von gedanken ordnet. Im bild: du legst eine lochschablone gleich einer Fleißnerschen Schablone über einen haufen schier sinnloser buchstaben, und in den löchern erscheint ein lesbarer text. Ja, mir scheint, dass alle information bereits in der welt ist, und alles trachten der philosophie geht dahin, die information auszulesen.“

„Und über die jahrhunderte stellt sich der mensch andere fragen, hat also jeweils andere schablonen mit anders angeordneten löchern“, ergänzte ich, da mir das bild unmittelbar einleuchtete.

„Männer, das ist quatsch!“, bremste Coster, „zumindest geht ihr von einem mechanistischen weltbild aus.“

„Wie meinen?“, fragte Gaukler.
„Dass in der welt ein wust von information vorhanden ist und man braucht nur ein passendes netz, um den gesuchten sinn herauszufischen.“

„Und wenn dem so wäre?“, sagte ich. „Mir gefällt die vorstellung von den verschiedenen lochschablonen. Im mittelalter hat man sich beispielsweise mit der frage beschäftigt, ob Jesus ein portemonnaie hatte und hat die Bibel nach hinweisen durchstöbert. Heute stellt sich den menschen eher die frage nach dem sinn ihres daseins. Reichtum und besitz scheinen nicht alles zu sein.“

„Die schablonenidee führt in die irre!“, versetzte Coster. „Ich kann nicht fassen, wie ihr euch damit beschäftigen könnt.“

„Was ist Ihr konkreter einwand?“, fragte Gaukler.

„Ihr sagt, je nach epoche habe sich der mensch andere fragen gestellt. Seine erkenntnisschablone hat jeweils entsprechende löcher, richtig? Damit filtert er gleich einem schlüssel zu allem die antworten aus dem bereits vorhandenen wust an information“

„Ja, genau.“

„Wenn man jetzt die jeweiligen löcher verschiedener epochen zusammenfasst, was wir heute tun können, da wir viele epochen historisch überblicken, hat die lochschablone so große löcher, dass sie gar keine erkenntnisse mehr ermöglicht, da nur der wirrwarr an informationen aufscheint, versteht ihr? Mit eurer schablone wollt ihr sinn aus einem haufen unsinn herausfiltern. Das funktioniert aber nur, wenn die schablone nicht zu große löcher hat.“

„Zumindest etwas zeigt sich dann.“

„Was?“

„Warum die leute irre werden.“

„Dass wir alle an einem zuviel an informationen irre werden, für diese erkenntnis braucht es eure entschlüsselungsschablone nicht“, sagte Coster und hob seinen printenlikör. „Besinnen wir uns auf etwas konkretes und würdigen wir diesen wunderbaren printenschnaps. Prost!“

„So bleiben!“

Schon während ich das schreibe, schaffe ich nicht, was der reich tätowierte mann beim abschied von mir verlangte: „Bleib wie du bist!“ Das war erst gestern. Inzwischen ist unser planet auf seiner bahn um die sonne etwa 2,5 Millionen kilometer weitergedonnert. Falls wer nachrechnen möchte, das sind 107.200 stundenkilometer x 24 Stunden. Obendrauf käme noch die rotationsgeschwindigkeit der Erde von 1670 km/h, jetzt auch mal 24, wäre gerundet 40.000 + 107.200 = etwa 150.00 km/h. Genau genommen käme hier noch die geschwindigkeit unseres sonnensystems hinzu. Das solare sonnensystem kreist wohl mit 800.000 km/h um das zentrum der milchstraße.

Macht zusammen 2.500.000+150.000+800.000=3.450.000 km/h. Mit welcher geschwindigkeit unsere Milchstraße sich vom zentrum des urknalls fortbewegt, will ich lieber nicht wissen, desgleichen nicht, ob sich unser universum irgendwo hinbewegt. Mir ist jetzt schon schwindlig. Weil derlei kräfte seit gestern auf mich eingewirkt haben, bin ich schlicht um einen tag gealtert. Folglich bin ich beim besten willen nicht mehr so, wie ich gestern auf der terrasse im Von-Alten-Garten war, als der tätowierte mann mir abverlangte zu bleiben, wie ich bin.

Er hatte dort an einer bierflasche lutschend auf einer bank neben meiner gesessen, war dann aufgestanden, um die leere flasche sorgsam an den abfalleimer zu stellen. Im vorbeigehen sagte er: „Jetzt kannst du dich rüber setzen, da hast du mehr sonne. Außerdem“, fügte er mit schier kindlicher freude hinzu, „wohnt in der buche ein eichhörnchen.“
Ich habe schon mal ein eichhörnchen gesehen, war ich versucht zu sagen, wollte ihn aber nicht vor den kopf stoßen, sondern sagte: „Ein eichhörnchen? Wie schön!“

„Bleib, wie du bist!“ auf menschliches maß heruntergebrochen, sagte vielleicht ein früher Photograph zu seinem modell, damit das bild nicht verwackelte. „So bleiben! Gleich kommt das vögelchen!“ Das modell des malers muss nicht in einer position verharren. Einmal sollte Kurt Schwitters einen befreundeten arzt, den Dr. Schenzinger malen, derweil er klavier spielte. Schwitters berichtet: „Neben mir lag ein bierfilz. Dr. Schenzinger spielte die Mondscheinsonate erster Satz. Ich versuchte herauszufinden, ob seine Bewegungen charakteristisch für die Mondscheinsonate waren. Plötzlich kam mir die geniale, vielleicht minder geniale, jedenfalls eine Eingebung. Ich stand auf, bestrich den Bierfilzdeckel auf seiner Rückseite mit roter Farbe und klebte ihn auf die Wange des Profilbildes, das ich gemalt hatte. Es reichte vom Ohr bis zur Nase. Die Mondscheinsonate verstummte und Dr. Schenzinger fragte, was ich getan hätte. Ich hätte ihm den Bierfilz auf die Backe geklebt. Er sagte: ‚Nehmen Sie den Bierfilz ab.‘
‚Das tue ich nicht!‘
‚Dann nehme ich ihn ab!‘
‚Das werden Sie nicht tun, Sie würden die Einheit des Kunstwerks zerstören.‘
‚Der Bierfilz ist eine Beleidigung für mich.‘
‚Der Bierfilz charakterisiert Sie irgendwie.‘
‚Wie kann mich der Bierfilz charakterisieren?‘
‚Ich kann nicht sagen wie, aber er tut es, das fühle ich.‘
‚Und drückt er vielleicht die Mondscheinsonate aus? Wie stehen Sie zu der Frage, ob der Bierfilz Beethoven ausdrückt?‘
‚Mein Herr, denken Sie vielleicht, dass Sie selbst Beethoven ausdrücken?‘

Schwitters fuhr fort: „Dr. Schenzinger ging hinaus und schloss die Tür hinter sich. Seit der Zeit waren wir nicht mehr Freunde, besonders als ich das Bild mit der Bierfilzbacke als Portrait Dr. Schenzinger ausstellte.“ Dr. Schenzinger müsste inzwischen tot sein. Sein Bierfilzbackenportrait blieb wie es ist und sauste noch eine weile durch den Kosmos.

Bei einem spaziergang am beginn des ersten lockdowns begegnete mir ein vierschrötiger mann. Als wir uns passierten, befahl er mit hässlich quäkender stimme: „Bleiben Sie gesund!“ Mir war klar, dass damit ein wunsch gemeint war. Aber die befehlsform erregte nachhaltig meinen widerspruch. Möglicherweise wäre es anders gewesen, wenn die wunschformel schöner geklungen hätte, etwa wie aus dem mund eines engels. So aber konnte ich mich mit der übergriffigen formel: „Bleiben Sie gesund!“ nie anfreunden und oft habe ich gedacht: Ob ich gesund bleibe oder nicht, das geht dich einen dreck an!

„Bleib wie du bist!“, kann ich grad akzeptieren aus dem mund eines mannes, der sich freute, dass ich ihm mit achtung begegnet war.
Wenn nur die kosmischen kräfte nicht wären 😉

Frühling in der Edition Blumen

In einem früheren leben habe ich für die druckerei meines bruders als werbegeschenk von mir so genannte „Lenzkalender“ gestaltet. Die Lenzkalender zählten das jahr ab märz, getreu der idee, dass alle menschlichen aktivitäten am besten im frühling begonnen werden, wenn alles knospt, sprießt und gedeiht. Ein gute entwicklung ist auch dem verlagsprojekt „Edition Blumen“ unseres Mitbloggers Christian Dümmler (CD) zu wünschen. Ich werbe dafür ganz uneigennützig, weil CD erneut eine anthologie meiner texte in der bewährten heftform herausgebracht hat. Die anthologie enthält sieben von CD ausgewählte texte aus meinem 2022 erschienenen taschenbuch „Das Ächzen der Dinge.“

Für die ansprechende gestaltung ist auch seine mitarbeiterin Tanja Albert zu loben. Bestellungen beim verlag EDITION BLUMEN. Edition Blumen c/o Atelier für freie und angewandte Grafik – Ernst Christian Dümmler – Regensburgerstraße 28, Rückgebäude –
90478 Nürnberg (bequem über das formular auf der website.)

Drei wochen gemäßigte kleinschreibung

Liebe Teestübchenbesucherinnen und –besucher,
vor gut drei wochen kündigte ich in einem Nettesheim-Trithemius-dialog den wechsel zur gemäßigten kleinschreibung an. Mir war die theoretische diskussion vergangener tage bekannt, und die argumente der befürworter erscheinen mir schlagend. Da ich nicht mehr im schuldienst bin, muss ich mich schon länger nicht mehr an die amtlichen regeln halten. Und das argument: „Falls hier kinder mitlesen“ darf ich getrost ignorieren. Aber es ist ein unterschied, etwas theoretisch zu vertreten oder praktisch umzusetzen. Inzwischen hatte ich zeit, die gemäßigte kleinschreibung zu erproben.

Vorab: Es hat sich nur eine leserin über das ungewohnte schriftbild beschwert. Da hoffte ich auf den gewöhnungseffekt. Es ist ja, als ob jemand mit zuvor wallender haarpracht plötzlich mit einem praktischen kurzhaarschnitt daherkommt. Der vergleich hinkt nicht so stark wie es scheint: Die groß- und kleinschreibung ist im Barock entstanden, als schreiben noch in den händen von schreibmeistern lag. „Wertlose einfälle von schreiberknechten“, nannte der dänische sprachforscher Otto Jespersen die großschreibung während der diskussion um deren abschaffung in Dänemark. Sich vor vermeintlich wichtigen wörtern zu verneigen, hat etwas von barocken höflichkeitsgesten und gepuderten perücken. Entsprechend ist der verzicht auf die barocke großschreibung wie alberne zöpfe abzuschneiden.

Schon in den 1920-er jahren war die amtliche groß- und kleinschreibung heftig diskutiert worden, besonders von schulpraktikern und typografen. Lehrer und germanisten beklagten zu komplizierte und teilweise unlogische regeln (Siehe: Das Kosogsche Diktat) . Zudem begünstige die groß- und kleinschreibung den hässlichen nominalstil, wie er in amtsstuben verbrochen wurde. Typografen bemängelten, dass sich die historisch älteren großbuchstaben nicht organisch mit den kleinbuchstaben verbinden. Entsprechend wurde diskutiert, die großbuchstaben gar nicht mehr zu verwenden. Jeder text in latein (gänzlich ohne großbuchstaben) sähe besser aus als einer in deutsch, hieß es richtig. Mein freund und kollege, der Nürnberger verleger und buchgestalter Christian Dümmler, bekennt sich in einer mail zur totalen kleinschreibung. Diesen radikalen schritt gehe ich noch nicht, weil ich finde, dass die großbuchstaben unser kulturelles erbe sind.

Wie bewährt sich die gemäßigte kleinschreibung beim schreiben? Zunächst eilt der finger noch gelegentlich zur großschreibtaste und mogelt mir großbuchstaben in den text. In einem artikel im Spiegel 26/1982 wurde aufgezeigt, dass sich beim schreiben entscheidungsfragen stellen würden, da die grenzen zwischen name und klassenbezeichnung durchaus fließend seien. Der Wiener ministerialrat Walter Sacher hatte dazu grenzfälle zusammengetragen. Sähe man beispielsweise den biblischen gott als eigennamen an und schreibe man ihn groß, erhebe sich die frage, ob dem teufel die gleiche ehre zukäme. Mir erscheint das problem konstruiert wie die erzeugnisse der linguistenpoesie, mit denen verständnisprobleme demonstriert werden (wer ist bräutigam und braut zugleich? ɹɹǝnɐɹqɹǝıq ɹǝp) Beim schreiben sind mir derlei dilemmata noch nicht begegnet. Dafür erlebe ich den positiven stilistischen effekt, dass ich substantivierungen vermehrt durch verbale phrasen ersetze.

Ich hoffe, liebe leserin, lieber leser, Sie unterstützen meinen versuch mit gemäßigter kleinschreibung. Sollten Sie, solltest du einen fälschlich gesetzten großbuchstaben in meinen texten entdecken, bitte ich, ihn mir aufzuzeigen. Vier augen sehen mehr als zwei.

Vielen dank und beste grüße,
TrithemiusUnterschrift
(Jules van der Ley)

Als tourist auf der linie 13 (7) – Geschafft

Inzwischen hat mich ein schwarm schwarzer kriebelmücken entdeckt und lässt sich nicht verscheuchen. An der Rur nahe Jülich sind mal einige rinder verendet, die von kriebelmücken geplagt worden waren. Sie waren den rindern in die nüstern geflogen, weshalb das arme vieh panisch losgerannt ist, bis es wohl tot umfiel. Ein studienfreund gab sich damals die schuld für die kriebelmückenplage an der Rur. Er hatte in Schottland einen anhänger angekauft, um einige teile zu transportieren, die er dort erstanden hatte. Sie schützte er vor dem anhaltenden regen mit einer plane. Als er die plane zu hause erstmals abnahm, quoll ein dichter schwarm schottischer kriebelmücken hervor …

Weil mich die mücken hartnäckig umschwärmen, gebe ich mich geschlagen und verlasse das mausoleum. Ich hasse, auf dem weg zurückzugehen, auf dem ich gekommen bin. Aber die alternative wäre deutlich weiter, wie mein smartphone anzeigt, und so geht es wohl oder übel auf dem herkunftsweg zurück. Damit uns nicht langweilig wird, ein paar gedanken:

Das bei schülerinnen beliebteste langzeitthema im bundesweiten projekt „Zeitung in der Schule“ war und ist „Gekrönte Häupter.“ Das geht vielleicht auf das konto von märchen wie Aschenputtel und gehört zu kindlichen prinzessinnenfantasien. Darüber hinaus finde ich die gesellschaftliche adelsbesoffenheit befremdlich. Ja, sie haben große bauwerke hinterlassen, aber mehr noch verbrannte erde, leichenberge, grabhügel und ruinen. An beeindruckenden schlossbauten darf sich das volk mit recht erfreuen, denn sie sind mit dem blut und leben unserer vorfahren bezahlt.

Wenn es um den adel geht, setzt bei einigen leuten das denken aus und eine erstaunliche obrigkeitsmentalität bricht sich bahn. Als der Baron Karl-Theodor zu Guttenberg wegen seines ergaunerten doktortitels von seinem amt als bundesminister zurückgetreten war, wurde für ihn demonstriert. Oder war doch der erfinder des buchdrucks gemeint?

Bei hochzeiten oder trauerfällen in königshäusern wundere ich mich immer wieder, wie viele „adelsexperten“ aus ihren löchern kriechen. Jede der neun landesrundfunkanstalten der ARD hält sich wenigstens eine adelsexpertin. Die weitgehend erfundenen inhalte der Regenbogenpresse ernähren nach wie vor ganze heerscharen von schmocks adelspoeten.

Einmal stand ich im Supermarkt an der kasse, als vor mir eine frau einen ganzen stapel aus der regenbogenpresse aufs band gelegt hatte. Ich sagte: „Ich habe mich schon immer gefragt, wer diese hefte liest.“
Sagt sie: „Ach, die nehme ich mit für die alten leutchen im altersheim. Die schauen sowieso nur noch die bilder.“

Schon ist die endhaltestelle der linie 13 am ortsrand von Hemmingen erreicht. Wir steigen in die wartende bahn und lassen uns ganz herrschaftlich zurück kutschieren. Ich danke für die aufmerksame begleitung!

Lorde; Royals

Als Tourist auf der Linie 13 (6) – Alte Knochen

Man wird mir das mausoleum nicht entgegentragen. Ich muss es selber aufsuchen, wiewohl das banksitzen mich wie gelähmt hat. Vor drei jahren habe ich mir ein bein gebrochen und brauche nach dem aufstehen immer noch ein weilchen, bis ich meinem genagelten unterschenkel vertraue und losgehen kann. Nach 200 Metern taucht ein gebäude auf, vielleicht ein forsthaus? Ein hinweisschild zeigt, dass ich auf dem richtigen weg bin. Dann schimmern zwischen flirrendend grünen blättern die roten ziegel des gemäuers. Ich nähere mich und bedauere die plünderung des bauwerks. Das portal, war zu lesen, wurde in der nähe in einem wohnhaus verbaut gefunden.

Dass die leute sich nach dem krieg bedient haben, ist verständlich. Als alles darniederlag, konnte man nicht einfach in den baumarkt gehen und ein paar kubikmeter feldbrandziegel und eine neue haustür holen. Man musste nehmen, was da war. Was lag näher, als ein nichtsnutziges mausoleum abzubauen und das material zu plündern?

Mit der gleichen mentalität waren einst adelige kriegsherren wie Carl graf von Alten mit ihren soldaten durchs land gezogen. Auf den wegen zu den schlachtfeldern ließen sie sich von der bevölkerung versorgen, besetzten und plünderten häuser und bauernhöfe. Selbstverständlich beanspruchte der graf das beste bett, und das war in der regel das der hausbesitzer. So hat es die soldateska zu allen zeiten gehalten. Noch aus dem 2. weltkrieg berichtete mir auf dem dorf nahe Aachen eine alte frau:

    „Als die front von westen heranrückte, da waren in allen häusern soldaten einquartiert. Die lagen zum schlafen überall auf dem boden herum. Sogar unterm küchentisch lagen welche. Aber der feldwebel, der musste ein bett haben. Und abends bekam er einen heißen stein ins bett, der in zeitungspapier eingewickelt war.“

Wohl denen, wo der heiße stein gereicht hat. Nicht selten ließ sich ein besatzer vom hübschen töchterlein des hauses das bett wärmen. Der durchzug eines heeres zur zeit Napoleons war für die dörfer buchstäblich verheerend. Waren die ungebetenen gäste weg, hatten sie den leuten das vieh geschlachtet und alle vorräte geraubt. Als nachhut zog der hungertod durch. Den machtspielen des europäischen adels fiel manches friedliche menschenskind zum opfer, und es wurde seinen knochen kein aufwändiges mausoleum errichtet. Unsereiner wollte sowieso keinen geröllhaufen überm kopf. Mir würde ein blechkranz genügen, damit ich hören kann, ob es regnet. Die wichtigen knochen unter protzbauten zu verbuddeln, ist noch der heidnischen idee verpflichtet, dass man seine reichtümer mit ins jenseits nehmen kann. Diese idee zeigt auch eine parabel, die ich schon lange einmal nacherzählen wollte:

    Der reiche herr und der schwarze john sind gestorben, der schwarze john zuerst. Er macht sich auf den langen weg zur himmelspforte und klopft an. Petrus schaut aus einem fenster der pforte und fragt: „Was willst du?“
    „Ich möchte gerne in den himmel.“
    „Kommst du zu fuß oder kommst du geritten?“
    „Ich bin zu fuß.“
    „Dann kann ich dich leider nicht hereinlassen.“
    „Enttäuscht trabt der schwarze John den langen weg zurück. Da begegnet ihm der weiße herr. Der schwarze john fragt: „Weißer herr, wohin des wegs?“
    „Wohin wohl, wenn ich hier unterwegs bin, in den himmel natürlich!“, knurrt der weiße herr unwillig.
    „Da gibt es ein problem. Petrus lässt nur die ein, die geritten kommen.“
    „So?“
    „Ich hätte eine idee“, sagt der schwarze John. „Ich gehe auf alle viere, und du reitest auf mir zum himmel. So kommen wir beide hinein.“
    Gesagt getan. Der schwarze john geht auf die knie, der weiße herr sitzt auf, gibt John die sporen und reitet den langen weg hinauf zur himmelspforte. Petrus öffnet das fenster und fragt: „Was ist dein begehr?
    „Ich will in den himmel.“
    „Bist du zu fuß oder kommst du geritten?“
    „Ich komme geritten, wie du siehst.“
    „Dann binde deinen alten gaul draußen an und komme herein!“
    (Nach Fredrik Hetmann)

Was geschah nun mit den gebeinen des grafen nach plünderung seines mausoleums? Zuerst haben diebe die zinksärge gestohlen und adelige knochen im wald verstreut. Später wurden eingesammelt, was da an knochen herumlag, und standesgemäß in der Neustädter Hof- und Stadtkirche St. Johannis zu Hannover beigesetzt.

Ich gehe in den ruinen der grabkapelle umher wie einer, der wegen irdischer sünden keine ruhe findet. Mein plan, hier zu sitzen und eindrücke zu notieren, geht nicht auf. Durch das gemäuer zieht ein eisiger hauch. Den will ich nicht in meinen texten haben.

(wird fortgesetzt …)

Als tourist auf der linie 13 (5) – Feldrain am auwald

Die Göttinger Landstraße taucht hinter einem kreisel zielbewusst in ein waldstück ein und führt geradeaus aufs land. Auf dem fahrradweg überholt mich eine radfahrerin. Sie hat ein körbchen mit ihrem einkauf auf dem gepäckständer. Da ragt ganz anheimelnd eine porreestange hervor und wippt mir die idee von dörflichem idyll zu. Brauchst dir nichts drauf einzubilden, denke ich, kommst vermutlich ganz popelig von Lidl und wanderst, anders als ich, gleich in den kochtopf. Ich schreite hurtig aus. Andere würden sagen, das Adjektiv könnte weg. Es wäre sowieso ergaunert. Mal gehe ich rasch, dann wieder schleppe ich mich voran. „Intervalltraining“ wäre zu hoch gegriffen.

Im wald linker hand schimmert wasser. Was ich zunächst als tümpel angesehen hatte, zeigt sich als weitreichende überschwemmung. Ich weiß, dass unweit die Leine fließt. Der wald steht nach dem regen der letzten tage und wochen mit nassen füßen in einer kaum verlandeten altarmschleife. Entlang der straße zieht sich der Maschgraben, der das gelände entwässern sollte, aber offenbar überfordert ist. Deshalb gibt es auch keinen weg schräg hinüber zum mausoleum. Ich muss bis zum flecken Sundern gehen, um es zu erreichen. Dort biege ich von der landstaße in den Sundernweg am waldrand.

Klick mich! Quelle: Google maps

Wo beim Sundernweg die bebauung endet, zweigt der weg ab zum mausoleum. Links der auwald, rechts feld. Ich liebe solche wege am feldrain entlang, besonders wenn sie schön in der sonne liegen wie heute. Zu meinen füßen zwei stattliche pfützen. Da fliegt mich die erinnerung an meine kindheit an. Meine mutter half dem bauern aus der nachbarschaft bei der feldarbeit. Ich musste sie oft begleiten und vertrieb mir an den feldwegen die zeit. Gerne spielte ich an solchen pfützen, grub kanäle und leitete die wässer der oberen pfütze in die untere, herrschte wie ein eigensinniger despot über die winzigen Pfützenbewohner.

Rübendarwinismus


Fast möchte man sich die kleider vom leib reißen nach der kälte der letzten tag. Am waldrand steht halb im gras versunken eine besonnte bank. Ich lasse die sachen an, setze mich und wickle nur mein butterbrot aus. Zum Glück! Gerade habe ich den mund voll, da taucht von hinter einer wegbiegung eine einsame wanderin auf, kommt näher, bevor ich schlucken kann, und grüßt. Ich bringe nur ein unartikuliertes brummen heraus, was entfernt wie „morgen“ klingen könnte, ihr aber gewiss wie der dialekt der hölle vorkommt. Täusche ich mich oder schwingt sie die hufe jetzt rascher als zuvor? Jedenfalls verschluckt sie der weg schneller als ich mein bisschen butterbrot. Ob sie auch zum mausoleum will? Sie hat hoffentlich fernere ziele, denn ich habe keine lust auf touristische gesellschaft.

(Fortsetzung …)

Als tourist auf der linie 13 (4) – Hurtig durch Ricklingen

Die bahn folgt einer gesichtslosen straße durch Ricklingen. Lediglich in der nähe des ricklinger bürgeramts erkenne ich das fotostudio, wo ich mir mal unter zeitdruck habe passbilder machen lassen. Der fotograf öffnete erst 9:30 uhr, und um 10 hatte ich im bürgeramt einen online gebuchten termin zur personalausweisverlängerung. Es war der einzige, den ich hatte bekommen können. Weitere termine gab es bei allen städtischen bürgerämtern hannovers erst in ferner zukunft. Da waren zwei dicke frauen vor mir gewesen, und derweil sie sich für die fotos in szene setzten, saß ich auf heißen kohlen. Beim bürgeramt biegt die strecke fast 90 grad ab, vorbei am stadtfriedhof Ricklingen.

Dahinter passend eine seniorenresidenz. Ein stattlicher industriekomplex hat auf einer giebelfront die aufschrift „GROSSDRUCKEREI PETERSEN“, ein relikt aus den 1970-er jahren. Das unternehmen ist verschwunden. Heute taugt das dach gerade mal für photovoltaik. In einer solchen großdruckerei habe ich 1967 meine praktische gesellenprüfung als schriftsetzer gemacht, ohne zu ahnen, dass mein handwerk fünf jahre später museal sein würde. Ich glaube, die Neußer großdruckerei hieß Wengener. Man hatte eigene lehrlinge, und die sollten gewiss besser abschneiden als externe wie ich. Für die prüfung im schnellsatz stellte man mir in einem abgelegenen Winkel des setzereisaals einen völlig verfischten kasten auf. Fische (auch zwiebelfische) nannte der schriftsetzer falsch abgelegte lettern. Besonders ärgerlich sind fische aus anderen schriften. Man erkennt sie nicht am anderen schuppenkleid, sondern an der abweichenden signatur, also an der kerbe an der vorderseite der letter und muss sie immer wieder aus gesetzten zeilen herausangeln. Als ich in dieser mittelalterlichen technik geprüft wurde, gab es schon maschinensatz und auch ansätze von computergestütztem fotosatz, wodurch handsatz großer mengen längst überflüssig war. Ich war also bereits unwissentlich aus der zeit gefallen.

Ein auszubildender heutiger zeit ist eingestiegen und erzählt einer jungen frau gegenüber von seinen prüfungsvorbereitungen. Was er lernt, kann ich nicht hören. Aber seinen reden ist zu entnehmen, dass er in der firma seines onkels arbeitet. Der ruft an, und ich höre eine sonore stimme, die weitschweifig erklärungen abgibt. „Das problem ist, mein onkel redet viel, sagt ‚wir müssen gas geben‘ und sowas, aber das passiert nie“, sagt der lehrling, nachdem das telefongespräch beendet ist. Da wäre er vielleicht bei Heinos „Onkel Werner in der werkstatt“ besser aufgehoben.

Ich bewundere die junge frau. Sie hört dem lehrling freundlich zu, wendet verständiges ein, fragt einiges nach, etwa wie alt der onkel sei. Er kann es auf seinem Smartphone nachgucken: „40“. Umgekehrt fragt er sie nichts. Woran liegt es, dass manche menschen, frauen zumeist, sich immer so einseitige kommunikation auf den hals laden? Als ich noch keine probleme hatte, vom boden aufzustehen, saß ich gerne beim sonnenuntergang auf der dornröschenbrücke. Da hörte ich eine junge frau sagen: „Der Philipp ist so nett. Kann er nicht mal sein gegenteil finden?“ Ich musste schmunzeln. Ihr gegenteil finden nette menschen rasch, passende gegenstücke leider fast nie. Wieder ändert die linie 13 ihre richtung, biegt jetzt auf die Göttinger Chaussee ein, durchquert Hemmingen, und bald ist die endhaltestelle erreicht.

Ein mann und seine alte graue mutter haben sich auch aus neugier hinfahren lassen und steigen mit mir aus. Die mutter schaut sich aufmerksam um, und aus mangel an anderem lobt sie den großzügig angelegten parkplatz nebenan. „Park + Ride“, sagt der sohn. Ob die mutter weiß, was das ist? Ich jedenfalls habe das verkehrspolitisch fragwürdige konzept nie verstanden. Statt ausgedehnter flächenversiegelung hätte man bei den neu angelegte bahnsteigen wenigstens einen kiosk planen können. So gibt es nichts, was zum verweilen einlädt. Endhaltestelle und parkplatz sind klassische nichtorte, heterotopien im Foucaultchen sinne. Man sollte seine alte mutter nicht herbringen. Es könnte hier an Hemmingens ortsgrenze trotzdem schön sein, allein der ländlichen ruhe wegen. Die Göttinger Chaussee heißt schon ab Hemmingen Göttinger Landstraße.

    Das französische „Chaussee“ vermittelt mir die vorstellung von gemächlichen reisen mit der postkutsche. Die romantisierung wäre mir rasch vergangen, denn für die etwa 120 kilometer von Hemmingen bis Göttingen hätte ich mir in den gut 12 stunden bald den hintern wund gesessen. Nähmen wir lieber den überlandbus über die Göttinger Landstraße. In meiner jugend fuhren auf solchen strecken noch die gelben postbusse, an bord nicht nur fahrgäste, sondern auch postsäcke voller briefe und pakete.

Das sind müßige ideen vom gefahren werden. Es wird jetzt „gewandert“! Mein ziel und den weg dorthin habe ich mir bei google maps bereits angesehen. Ich schultere meinen rucksack und tippele los.

Wird fortgesetzt …

Als tourist auf der linie 13 (3) – Alte wege

Die Anzeigetafel auf dem bahnsteig der linie 13 zeigt, dass ich zwei minuten habe, um einen fahrschein zu ziehen. Die Üstra hat die bargeldautomaten abgeschafft, will überall solche der neuen auomatengeneration aufstellen. Mir bleibt nicht genug zeit herauszufinden, ob die protzigen neuen kartenzahl-automaten auch Koffie to go können. Aber sicher ist schon mal, das fahrschein-ausgabefach sitzt zu tief. Ich weiß nicht, wen die planer vor augen hatten, jedenfalls keinen mit rücken. Ich bin ja nur durchschnittlich groß und muss mich schon bücken. Aus dem tunnel dröhnt der heranrauschende zug. Er hat gerade die Leine unterquert. O Gott, das tauchbad hat die Üstra-typische lindgrüne farbe abgewaschen.

Der ethnologe Bengt af Klintberg berichtet von zügen der stockholmer u-bahn. Sie sind ebenfalls grün. Manchmal taucht aus einem u-bahn-mundloch eine geisterhaft silbergraue bahn auf. Man lässt den „Silverpilen“ (Silberpfeil) besser passieren und wartet auf die reguläre bahn. Denn leute, die in den silberpfeil eingestiegen sind, verschwanden oder wurden viel später weitab von ihrem ziel aufgefunden. Die unglücklich in den horrorzug hineingeratenen fahrgäste dürfen nicht aufsehen, sitzen mit gesenktem kopf und starren stier nach unten. Ehe ich das realisiere, bin ich schon leichtfertig eingestiegen. Man hat die sitzbänke im Silberpfeil überwiegend den gang entlang platziert. Die fahrgäste sollen wohl nicht aus dem fenster schauen, sondern nach unten stieren. Die meisten haben kleine bildschirme in der hand, auf die sie unentwegt starren. Ich will ja nicht unken, aber das hat was von gedankenkontrolle. Kein wunder, dass viele an den falschen stationen aussteigen. Sie wissen gar nicht, wo sie sind. Dieser großstadtmythos wäre aufgeklärt, herr Bengt af Klintberg.

Eine frühe form der gedankenkontrolle ist ganz aus der zeit gefallen. Man sieht in der bahn keine zeitungsleser mehr. Folglich beherrscht auch keiner mehr die kunst, eine zeitung in der vollbesetzten bahn probat zu falten, für die die bettuchgroße FAZ extra eine faltanleitung erdacht hatte. Immerhin könnte man zeitung auch im grellen sonnenlicht lesen, denn der silberpfeil hat den u-bahntunnel verlassen und saust auf die erste oberirdische station, Allerweg, zu. Hier bin ich zwei jahre ein- und ausgestiegen, als ich wegen einer beziehung zwischen Aachen und Hannover pendelte. Rechts ging es zu meiner 1. hannoveraner freundin; links im Siloah-krankenhaus hat man mir im jahr 2012, inzwischen war ich schon hergezogen, einen stent ins herz gepflanzt.

Ich erinnere mich an eine interessante unterhaltung zwischen arzt und assistierender op-schwester. Er fragt nämlich nach den vorhandenen größen beschichteter und unbeschichteter stents. Die gewünschte größe ist nicht da, da nimmt er einfach eine andere, wie man manchmal einen 6er-dübel nicht hat und sich eben mit einem 8er-dübel behilft oder der fahrradmechaniker sagt: „Ich habe gerade keinen 24-er reifen, nehmen sie auch einen 26-er?“ Und man sagt notgedrungen ja, obwohl man weiß, dass ein 26 millimeter breiter reifen einen größeren rollwiderstand hat als ein 24-er. Man lese die handwerkliche barbarei nach im bericht: „Wie ich beinahe versehentlich gestorben wäre.“

Ein ganzer pulk junger menschen wartet an der fußgängerampel. Sie kommen von einer der fachhochschulen in der nähe. Die bahn rauscht vorbei auf den stadtteil ricklingen zu. Eine weile bin ich hergefahren, weil ich meinem friseur nachgereist bin. So geht es nämlich bei einem umzug in eine andere stadt. Man hat zunächst keine ärzte, keine stammkneipe, keinen friseur, und hat man einen gefunden, wechselt er die arbeitsstelle und man muss ihm hinterher reisen. Dieser hieß Tim und erinnerte mich an meinen Aachener friseur Dimi. Mein freund und kollege Mike hatte ihn mir empfohlen: „Du musst zu einem mann gehen. Frauen machen einen zu brav“, hatte Mike gesagt. Also ging ich noch zu Dimi, als ich schon in Hannover lebte. Manche gehen zum friseur, ich fuhr einige hundert kilometer. Dimi vereinte vorzüge. Er machte mich nicht brav, war ein künstler seines fachs und sprach wirklich wenig. Nur einmal hörte ich einen ganzen satz von ihm. Während er mir die haare schnitt, fielen eisgraue strähnen zu boden. Ich fragte: „Was sind denn das für graue löschen, die hier runterfallen?“
„Die sind von Ihnen“, sagte Dimi trocken. Da erst wurde mir bewusst, dass ich grau geworden war. Mein verlogener spiegel hatte mir nach wie vor braune haare gezeigt. In Hannover hat Tim mir eine weile die haare getönt, weil meine 2. hannoveraner freundin meine grauen haare nicht schön fand.

Fortsetzung (…)