seid auch im geringsten nicht im geringsten untreu – Das Kosogsche Diktat

liebe kinder! heute nacht nahm ich mir vor, euch diesen morgen einige lehren fürs leben des näheren nieder zu schreiben – so beginnt das Testament einer Mutter, das keine Mutter niedergeschrieben hat, sondern der Realschullehrer Josef Lammertz. In diesem Testament sind alle Schwierigkeiten der Groß- und Kleinschreibung der 1901 beschlossenen amtlichen Rechtschreibung versammelt. Bekannt gemacht wurde das Testament im Jahr 1912 von Oskar Kosog, Lehrer am Lehrerinnenseminar. Er versah es mit 65 Erklärungen, machte aber selbst im Diktat 5 Fehler. Das „Testament einer Mutter“, genannt Kosogs Diktat, diente in den Jahren danach als abschreckendes Beispiel für die unnötig komplizierten Regeln der seit 1903 geltenden, amtlichen Duden-Orthographie. Professor Dr. Kühnhagen, Verfechter der Kleinschreibung, schreibt in seinem Buch „notstände unserer rechtschreibung“: „wie schwer unsere amtliche rechtschreibung allein in dem punkte des schreibens der hauptwörter mit großen anfangsbuchstaben ist, zeigen die versuche mit einem diktat, das mittelschullehrer kosog aus josef lammertz: ‚die rechtschreibung für das deutsche volk‘ entnahm.

    – 30 lehrer machten 4 bis 22 fehler,
    – 8 frauen mit höherer mädchenschulbildung 13 bis 30 fehler,
    – 10 akademiker, darunter dozenten der universität, 14 bis 30 fehler,
    – eine anzahl studierender damen 12 bis 21 fehler,
    – 12 studenten 14 bis 32 fehler,
    – ein oberlehrer, der sich dem versuche anschloß, 18 fehler.“

Das Zitat stammt aus einer Steitschrift von Walter Porstmann aus dem Jahr 1920. Der Ingenieur Porstmann, Begründer des DIN-Papierformats, setzte sich für die radikale Kleinschreibung ein. Er wollte die Buchstaben aus der Holzzeit in die moderne Eisenzeit überführen und fortan „Staben“ nennen. Mit seinen Reformbemühungen stand er nicht allein. Doch mit der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten wurde dem ein Ende gesetzt.

Anfang der 1950-er Jahre macht Leo Weisgerber, einer der Väter der deutschen Nachkriegsgermanistik, erneut auf Kosogs Diktat aufmerksam:

    „Dieses Diktat lernte ich zufällig durch einen Kollegen kennen. Ich warf einen flüchtigen Blick auf den ersten Satz, und sofort schoß mir der Gedanke durch den Kopf, daß das Diktat vortrefflich zu einem Versuche geeignet sei. Ich wartete nun, um jenen flüchtigen Eindruck zu verwischen, etwa drei Jahre und ließ mir sodann das „Testament“ in die Feder diktieren. Dabei machte ich fünf Fehler, von denen sich einer allerdings nicht im Duden fand; rechnet man diesen ab, so bleiben immer noch vier, für einen Lehrer jedenfalls sehr viel.“

Wie sich Leo Weisgerber die Wartezeit verkürzt hat, ist nicht überliefert. Nach einem sofort schießenden Gedanken drei Jahre warten zu müssen, war gewiss hart. Er wird da gesessen und ungeduldig mit den Fingern auf dem professoralen Lehnstuhl getrommelt haben. Endlich, der Zeiger der Uhr rückte vor, drei Jahre waren um. „Sodann“ ließ Leo Weisgerber sich „Das Testament einer Mutter“ diktieren. Weisgerber (fünf Fehler – genau wie Oskar Kosog) berichtet weiter:

    „Bald sollte sich jedoch zeigen, daß ich eigentlich eine glänzende Leistung vollbracht hatte. Der Versuch wurde nämlich zunächst an 30 Lehrern wiederholt; dabei betrug die geringste Fehlerzahl 4, die höchste 22,…, sodann wurde das Diktat von 8 Frauen, die sämtlich mindestens eine höhere Mädchenschule besucht hatten, niedergeschrieben, dabei machte eine Dame 13 Fehler, sodann stieg die Fehlerzahl sofort auf 22 und endlich bis auf 30. (…) Nicht viel besser war es bei 10 Herren mit akademischer Vorbildung (Mediziner, Juristen, Dozenten der Philosophie); ihre Arbeiten wiesen 14-30, im Durchschnitt 20 1/2 Fehler auf. 10 studierende Damen machten 12-21, und 12 studierende Herren 14-32 Fehler. Der einzige Oberlehrer, der sich dieser Prüfung unterzog, lieferte eine Arbeit mit 18 Fehlern.“ (Weisgerber 1955, S.54f)

Was war geschehen? Dieselben Testpersonen hatte doch schon um 1920 Kühnhagen getestet, mit exakt dem gleichen Ergebnis. Ein Hund lief in die Küche und stahl dem Koch ein Ei … – die geistigen Wirren der Nazidiktatur hatten offenbar das Raum-Zeitkontinuum durcheinander gebracht. Irgendwo in einer galaktischen Zeitschleife saß nun ein trauriger Haufen von Opfern der Groß- und Kleinschreibung, um auf ewig das Kosog’sche Diktat zu versieben. Und ein „Oberlehrer“ war auch dabei. Doch wenn er schon der Zeitreise mächtig war, warum hatte Weisgerber dann nicht auch ein bisschen Nachhilfe in Stilkunde beim Kollegen Kühnhagen genommen? Oder war der angebliche neue Test ein kleiner Wissenschaftsbetrug, den Weisgerber sprachlich umständlich kaschieren musste? Vermutlich war er nur ein wenig zerstreut, man kennt das von Professoren. Dass er zur Zeit des Nationalsozialismus Mitglied der unseligen SS-Forschungseinrichtung Ahnenerbe gewesen war, hatte er nämlich auch vergessen, wie viele seiner Kollegen.

Unabhängig von Weisgerbers unredlichem Diebstahl war und ist die Kritik an der Großschreibung berechtigt. Jacob Grimm hat sie schon formuliert und daher das berühmte Deutsche Wörterbuch in Kleinschreibung drucken lassen. Doch alle Versuche, die typographisch hässliche und orthographisch unsinnige Großschreibung abzuschaffen, sind kläglich gescheitert. In Dänemark dagegen nutzte man nach dem zweiten Weltkrieg die Gunst der Stunde des Neuanfangs und entledigte sich der „wertlosen Einfälle von Schreiberknechten“, wie der dänische Sprachforscher Otto Jespersen damals schrieb. Seither gibt es die Groß- und Kleinschreibung nur noch im deutschen Sprachraum.

Bei der jüngsten Orthographiereform hat man sich an die Groß- und Kleinschreibung gar nicht erst herangewagt. Die letzten Versuche wurden 1962 mit den Wiesbadener Empfehlungen und 1973 gemacht. Ein Sturm der Entrüstung fegte anschließend durch die Presse. Mit Zähnen und Klauen verteidigten deutschtümelnde Eiferer die wertlosen Einfälle der Schreiberknechte der Barockzeit als wesenhaften Bestandteil der deutschen Sprache. Mit herbei gesuchten Sätzen wie:

    wer ist bräutigam und braut zugleich? (der Bierbrauer)

    ich habe liebe genossen (liebe Genossen oder Liebe genossen)

    die schöne naht im nachtgewande (schöne Naht / Schöne naht)

versuchte man zu beweisen, dass die Großschreibung der Substantive für das Verständnis unumgänglich sei, womit die Deutschen dann offenbar die einzigen Blöden auf dem Erdball sind, die den Wortsinn nicht aus dem Zusammenhang erschließen können. Daher muss sich unsere Industrienation vermutlich auf immer den Luxus von Orthographieregeln leisten, die niemand völlig beherrscht, nicht einmal der zweimal mit Kosogs Diktat getestete „Oberlehrer“.

7 Kommentare zu “seid auch im geringsten nicht im geringsten untreu – Das Kosogsche Diktat

  1. Ich kenne das Kosogsche Diktat nicht. Ich werde es suchen.
    Gross- und Kleinschreibung.
    Neben mir steht ein Buch. Gross 8°. Ich zitiere:

    „rückkehr zu den verben

    schon die typografische auszeichnung der substantive zeigt, welchen stellenwert sie in unserem sprachsystem haben. sie werden gross geschrieben. das war nicht immer so. die übung kam im absolutismus auf, als es darum ging, den könig, den fürsten, die institutionen des staates auszuzeichnen, indem man auch das wort gott mit grossbuchstaben schrieb. damit bekamen objekte und einrichtungen, das statische in unserer welt, das seiende, ihre bevorzugung. das haus des fürsten sollte ja ewig währen, wie auch das land und der staat.
    die verben verkümmerten. prozesse, verhaltensweisen, vorgänge, die dynamik der welt standen unter der beschwichtigung der sprachlichen vernachlässigung, zu lieben war nur ein vorfeld der ehe, sich freuen nur das flüchtigevorüber gegenüber dem glück, das der staat seinen untertanen versprach. und in rom oder bangkok zu sein, at heite mehr zu sagen als zu reisen, zu schauen und zu geniessen. die wege, die erlebnisse, das „wie“ einer reise tritt gegenüber dem triumph zurück, am ziel zu sein. objekte besetzen, orte belegen, spiegelt das umkippen der verhaltenswelt in eine dingwelt. das machen und erfahren verkümmern gegenüber dem vorzeigen von besitz, der eine ansammlung von dingwörtern mit sich brachte.
    jetzt steht die welt voll von unrat und bürokratien. sachen stellt man in museen und begafft sie. institutionen blähen sich auf zur nutzlosigkeit der selbstbehauptung. zu unserer fortbewegung stehen um unser hausimmer mehr gegenstände herum, jetzt auch noch das segelboot, das klappfahrrad und das geländeauto, nur weil wir nicht mehr gehen, laufen wandern, schlendern, spurten, sprinten oder bummeln können. es sind objekte, die wir benutzen, geräte.
    ich schreibe substantive wieder klein, aber das reicht sicher nicht. man muss wohl wieder beginnen, zu gehen.“ (Otl Aicher : gehen durch die wüste. fischer, frankfurt/m. 1982)

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    • Danke dir für das lange zitat aus Otl Aicher; gehen durch die wüste. Ich besitze das Buch auch. Aicher und andere wichtige typografen der neuzeit wie Jan Tschichold und Paul Renner haben sich gegen die groß- und kleinschreibung ausgesprochen. Man muss sich vor augen führen, dass die ausschmückung von wörtern mit großen buchstaben eine barocke unsitte ist. Näheres hier:

      https://trittenheim.wordpress.com/2022/11/25/andreas-seufzer/

      wir haben uns dort darüber schon ausgelassen. Indem ich das thema für mich wieder aufgegriffen habe, ist mir die gemäßigte kleinschreibung näher gekommen, und ich will vorerst so schreiben. Im nächsten Nettesheim-dialog wird’s angekündigt.

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  2. Ich hatte mal gelesen, dass in früheren Zeiten ohne Leerzeichen und Komma geschrieben wurde. Daher gab es Vorleser, welche dann entsprechende Pausen und Betonungen setzten, um die Bandwurmsätze den Zuhörern näher zu bringen.

    Aus „ich habe liebe genossen“ lassen sich per Betonung sogar drei Bedeutungen vorlesen.

    Ob das mit dem damaligen Vorlesen stimmt (die Alphabetisierung der Menschen soll in jenen Zeiten ein Privileg einzelner gewesen sein, so wie das Zuhören-Können als Exklusivzuhörer eines einbestellten Vorlesers; also kein Allgemeingut wie heutzutage), das weiß ich nicht. Ich hatte es im Zusammenhang mit der Dutzend Jahre her gewesenenen Popularität des „Der Name der Rose“ gehört.

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    • Erst im 8. jahrhundert wurde das leerzeichen eingeführt. Bis dahin zwang das Einerlei der Buchstabenreihe dazu, sich selber vorzulesen. Näheres hier

      Die Kulturgeschichte der Typografie in einer Nussschale 2) Lesen wie Bienensummen

      Welche dritte bedeutungsnuance bei „ich habe liebe genossen“ meinst du? In „Der Name der Rose“ ist der wichtigste handlungsort eine labyrinthisch angelegte bibliothek, aber weniger das skriptorium. laut Ivan Illich waren die skripotorien erfüllt vom murmeln der schreiber, die sich die zu kopierenden zeilen vorlasen. Sie waren „Murmler im Weinberg des Textes“, womit sie die heiligen texte wieder zu gehör brachten.

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  3. Sogar fünf dank Groß- und Kleinschreiibung und einem wandernden Komma.

    Ich habe Liebe genossen. (als Feststellung einer erfahrenen, aber beendeten Wertschätzung)

    Ich habe liebe Genossen. (als Wertschätzung über „Genossen“)

    Ich habe Liebe, Genosssen. (Feststellung vor „Genossen“ zum Thema „Liebe“)

    Ich habe, liebe Genossen. (als Antwort auf eine Frage, ob man etwas habe)

    Ich, habe Liebe genossen. (als Antwort auf eine Wer-Frage, ob man etwas genossen habe; auch schreibbar mit Punkt und mit Subjektauslassung, statt dem ersten Komma)

    Kritscher wird ein etwas allerdings, wenn der Zusammenhang fehlt. Die Frage „Was hälst du von Montage?“ ist ohne Zusammenhang gelesen, schlecht genau zu beantworten. Erst die Aussprache macht den Unterschied. Oder etwas mehr hingeschriebener Zusammenhang.

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    • Donnerwetter! Danke für die erläuterung. Dein letzter satz spielt ja mit dem homonym von Montage (plural von Montag) und der Montage (von Bauteilen), müsste aber korrekt heißen: „Was hältst du von Montagen?“ Gesprochen hört man einen unterschied, bei den anderen beispielen nicht. Trotzdem verstehen wir sie in der gesprochenen sprache. Warum also in der schrift unterschiede machen durch groß- und kleinschreibung?

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  4. Pingback: Drei wochen gemäßigte kleinschreibung

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