Fuhrwerksbesitzer

Beim Bummel über den ergrünenden Lindener Bergfriedhof fiel mir eine Grabsteininschrift auf: „Heinrich Klemme Fuhrwerksbesitzer“ Da ich nichts zu Schreiben bei mir hatte, versuchte ich mir die Inschrift zu merken und erfand im Weiterbummeln eine Eselsbrücke: „Heinrich, der Wagen bricht“, singt Staatsanwältin Klemm aus dem Münster-Tatort. Das sollte gehen, aber es war nicht sichergestellt, dass ich mich überhaupt an den Grabstein erinnern würde. Da dachte es in mir: Geh einfach zurück und fotografiere ihn! Wie einfach ist das und wie wenig naheliegend für mich, der ich immer noch mit dem Smartphone fremdele.

Oft habe ich es nicht bei mir. Diesmal hatte ich es absichtsvoll mitgenommen, weil ich auf der Davenstedter Straße einen Briefkasten fotografieren wollte, vielmehr ging es um die handschriftliche Nachricht an dem neu aufgestellten Briefkasten. Sie war mir vor Tagen schon aufgefallen, aber natürlich hatte ich mein Smartphone nicht bei mir. Diesmal war ich präpariert. Die Frühlingssonne schien aber so grell, dass sie mein Smartphonedisplay überstrahlte. Ich musste auf Verdacht knipsen. Zu diesem Thema in einem späteren Text.

Ein Fuhrwerk ist ein von Zugtieren gezogener Wagen. In unserer Region waren die Zugtiere meistens Pferde. Ein Wagengespann mit Pferden besaßen um die Jahrhundertwende vermutlich nicht viele. Heinrich Klemme ist laut Inschrift im Jahr 1868 geboren und 1937 im Alter von 69 Jahren gestorben. Er wurde demnach sozialisiert zu einer Zeit, als größere Lasten mit Fuhrwerken befördert wurden. Die meist fünfstöckigen Bauten des Stadtteils Linden Mitte, in dem ich lebe, sind um die Jahrhundertwende errichtet worden.

Die immensen Massen an Baumaterial haben Leute wie Fuhrwerksbesitzer Klemme herangeschafft. Darin gründet der soziale Rang, auf den hinzuweisen die Nachfahren wichtig fanden. Als der Grabstein errichtet wurde, war der Rang bereits im Sinken. Fuhrwerke wurden zunehmend von Lastkraftwagen verdrängt. Die Erwähnung „Fuhrwerksbesitzer“ ist wie ein trotziges Aufbegehren gegen die sich verändernde Beförderungstechnik. Mit Heinrich Klemme sanken die Fuhrwerke ins Grab, und mit ihnen Wörter wie „Fuhre“, „Fuhrmann“ (pl. „Fuhrleute“), „Fuhrknecht“ Bei den Wörtern „fuhrwerken“ und „Abfuhr“ kam es zu einer Bedeutungsverschiebung. Aus „Fuhrzeug“ wurde „Fahrzeug“ – das alles musste Heinrich Klemme nicht mehr erleben. Selten sind historische Umbrüche so deutlich, aber auch so schwerfällig.

Die Umbrüche in heutiger Zeit geschehen rasch und geschmeidig. Soeben ist einer mit Block und Bleistift sozialisiert worden, hat noch Inschriften mit Papier und Bleistift abfrottiert [Im Bild: Das A einer Inschrift auf dem Kalvarienberg im Klauser Wäldchen, Aachen-Kornelimünster], schon stehen ihm bessere Dokumentationstechniken zur Verfügung. Er muss sie freilich nutzen. Trotzdem wäre es hübsch, auf seinem Grabstein stünde dereinst: „Notizbuchbesitzer.“

Plausch mit Frau Nettesheim – über einen vergessenen Geburtstag

Frau Nettesheim
Wie kann es sein, dass Sie einen so wichtigen Geburtstag vergessen, Trithemius?

Trithemius
Weiß ich doch auch nicht. Ich bin untröstlich. Aber wissen Sie, was ich besonders blöd finde?

Frau Nettesheim
Sie werden es mir sagen müssen. So gut bin ich auch nicht in Ihrem Kopf zu Hause.

Trithemius
Dass mir der vergessene Geburtstag mit neun Tagen Verspätung einfällt, unter höchst seltsamen Umständen. Ich werde wach um 4:30 Uhr, habe von der Fußballnationalmannschaft geträumt, die aus lauter Überheblichkeit ein Fußballspiel verliert, und wie ich mich noch über mein nächtliches Dasein als Fußballfan wundere, fällt mir siedend heiß der Geburtstag ein.

Frau Nettesheim
Schon kurios, dass es erst nach neun Tagen bei Ihnen siedet.

Trithemius
Ich wusste doch überhaupt nicht, welches Datum wir haben.

Frau Nettesheim
Sie haben drei Kalender an der Wand, Smartphone, Tablet und Computer zeigen Ihnen Datum und Uhrzeit an, und da kennen Sie das aktuelle Datum nicht?

Trithemius
Ich muss es doch nicht mehr wissen, Frau Nettesheim. Niemand fragt mich danach. Nicht mal ein verirrter Zeitreisender, der mir zufällig über den Weg läuft. Stellen Sie sich einen rasch dahin strömenden Gebirgsbach vor. Früher befand ich mich in der Flussmitte und wurde von der Strömung mitgerissen, und jedes mal wenn ich mit dem Kopf an einen Stein schlug, wurde ich mir der Zeitläufte bewusst. Mit meiner Pensionierung wurde ich zum Ufer abgetrieben und landete in einer kleinen Bucht. Dort ist die Strömung gering und gefangen, kann das Wasser nur langsam kreisen lassen, immer schön rund in der Bucht. Und da dümpele ich rum.

Frau Nettesheim
Vergeht die Zeit für Sie langsamer oder kommen Sie nicht mehr hinterher?

Trithemius
Beides und alles durcheinander. Letztens habe ich meine Putzhilfe angerufen und um die Verschiebung des Putztermins gebeten, weil ich dachte, an diesem Tag einen Termin zu haben, was sich aber als falsch erwies. Der Termin war schon in der Woche zuvor gewesen. Offenbar will irgendwas in mir das Voranschreiten der Zeit ignorieren.

Frau Nettesheim
Aber was hindert Sie daran, sich ab und zu des Datums zu versichern? Sie haben es doch ständig vor Augen. Da rechts unten auf dem Bildschirm steht es:

Trithemius
Sinnentleerung von Schrift, Frau Nettesheim.

Frau Nettesheim
Wie meinen?

Trithemius
Täglich sehen wir Texte, die keine Information bereithalten. Wenn ich das Fenster der Internetverbindung aufklappe, steht da Flugzeugmodus. Ich fliege nicht, also muss ich die Botschaft ignorieren. Kein Wunder, wenn ich auch die Datumsangabe ignoriere. Im Teestübchen-Header steht noch immer „Mai 2018“, was offenbar auch niemandem störend aufgefallen ist.

Frau Nettesheim
Es ist trotzdem die altbekannte redaktionelle Schlamperei!

Trithemius
Ja, aber ich kann nichts dafür. In meiner stillen Bucht ist noch Mai.

Plausch mit Frau Nettesheim – Über Selbstzitate



Trithemius

Kann ich Sie mal in einer diffizilen Angelegenheit befragen, Frau Nettesheim?

Frau Nettesheim
Sie werden es vermutlich so oder so tun.

Trithemius
Müssen Sie mir so sybillinisch antworten, statt einfach Ja zu sagen?

Frau Nettesheim
Ja.

Trithemius
Was jetzt?

Frau Nettesheim
Fragen Sie endlich.

Trithemius
Folgendes: Gelegentlich finde ich in einem alten Tagebuch oder woanders eine Notiz von mir, die mir noch immer gut gefällt, dass ich versucht bin, sie zu heben, also in einem neuen Text zu verwenden. Allerdings weiß ich, dass ich damals ein anderer war, andere Lebensverhältnisse hatte und anders gedacht habe. Darum ist mir, wenn ich solche Zitate übernehme, als würde ich mich selbst bestehlen.

Frau Nettesheim
Das ist keine Frage.

Trithemius
Die Frage ist, ob es erlaubt ist, das zu tun.

Frau Nettesheim
Gegenfrage: Wenn Ihnen der fragliche Gedanke nicht gehört, wem gehört er dann?

Trithemius
Dem, der ich damals mal war.

Frau Nettesheim
Gibts den noch?

Trithemius
Nicht in dieser Dimension.

Frau Nettesheim
Also kann er in dieser Dimension keine Ansprüche erheben, oder? Stellen Sie sich vor, wenn man Sie damals gefragt hätte, ob Ihre zukünftige Existenz ein Zitat verwenden darf, hätten Sie dann eifersüchtig abgelehnt, etwa die Hand schützend über ihren Text gehalten, wie es Schüler tun, um ihre Nachbarn vorm Abschreiben abzuhalten?

Trithemius
Vermutlich wäre ich stolz gewesen, dass meine Gedanken die Zeitläufte überdauern.

Frau Nettesheim
Da haben Sie Ihre Antwort.

Trithemius
Ist es wirklich so einfach?