Fuhrwerksbesitzer

Beim Bummel über den ergrünenden Lindener Bergfriedhof fiel mir eine Grabsteininschrift auf: „Heinrich Klemme Fuhrwerksbesitzer“ Da ich nichts zu Schreiben bei mir hatte, versuchte ich mir die Inschrift zu merken und erfand im Weiterbummeln eine Eselsbrücke: „Heinrich, der Wagen bricht“, singt Staatsanwältin Klemm aus dem Münster-Tatort. Das sollte gehen, aber es war nicht sichergestellt, dass ich mich überhaupt an den Grabstein erinnern würde. Da dachte es in mir: Geh einfach zurück und fotografiere ihn! Wie einfach ist das und wie wenig naheliegend für mich, der ich immer noch mit dem Smartphone fremdele.

Oft habe ich es nicht bei mir. Diesmal hatte ich es absichtsvoll mitgenommen, weil ich auf der Davenstedter Straße einen Briefkasten fotografieren wollte, vielmehr ging es um die handschriftliche Nachricht an dem neu aufgestellten Briefkasten. Sie war mir vor Tagen schon aufgefallen, aber natürlich hatte ich mein Smartphone nicht bei mir. Diesmal war ich präpariert. Die Frühlingssonne schien aber so grell, dass sie mein Smartphonedisplay überstrahlte. Ich musste auf Verdacht knipsen. Zu diesem Thema in einem späteren Text.

Ein Fuhrwerk ist ein von Zugtieren gezogener Wagen. In unserer Region waren die Zugtiere meistens Pferde. Ein Wagengespann mit Pferden besaßen um die Jahrhundertwende vermutlich nicht viele. Heinrich Klemme ist laut Inschrift im Jahr 1868 geboren und 1937 im Alter von 69 Jahren gestorben. Er wurde demnach sozialisiert zu einer Zeit, als größere Lasten mit Fuhrwerken befördert wurden. Die meist fünfstöckigen Bauten des Stadtteils Linden Mitte, in dem ich lebe, sind um die Jahrhundertwende errichtet worden.

Die immensen Massen an Baumaterial haben Leute wie Fuhrwerksbesitzer Klemme herangeschafft. Darin gründet der soziale Rang, auf den hinzuweisen die Nachfahren wichtig fanden. Als der Grabstein errichtet wurde, war der Rang bereits im Sinken. Fuhrwerke wurden zunehmend von Lastkraftwagen verdrängt. Die Erwähnung „Fuhrwerksbesitzer“ ist wie ein trotziges Aufbegehren gegen die sich verändernde Beförderungstechnik. Mit Heinrich Klemme sanken die Fuhrwerke ins Grab, und mit ihnen Wörter wie „Fuhre“, „Fuhrmann“ (pl. „Fuhrleute“), „Fuhrknecht“ Bei den Wörtern „fuhrwerken“ und „Abfuhr“ kam es zu einer Bedeutungsverschiebung. Aus „Fuhrzeug“ wurde „Fahrzeug“ – das alles musste Heinrich Klemme nicht mehr erleben. Selten sind historische Umbrüche so deutlich, aber auch so schwerfällig.

Die Umbrüche in heutiger Zeit geschehen rasch und geschmeidig. Soeben ist einer mit Block und Bleistift sozialisiert worden, hat noch Inschriften mit Papier und Bleistift abfrottiert [Im Bild: Das A einer Inschrift auf dem Kalvarienberg im Klauser Wäldchen, Aachen-Kornelimünster], schon stehen ihm bessere Dokumentationstechniken zur Verfügung. Er muss sie freilich nutzen. Trotzdem wäre es hübsch, auf seinem Grabstein stünde dereinst: „Notizbuchbesitzer.“

Sich überstürzende Meldungen

Im Raum saß ein Mann. Neue Sneakers an den Füßen, eine Jogginghose mit Nadelstreifen, die noch ein rotes Nahtband hatte, wie es bei Offiziersuniformen üblich ist. Er trug eine schwarze Kapuzenjacke, deren Kapuze am vorderen Rand einen Fellbesatz hatte. Auf dem Kopf saß eine schwarze Baseball-Kappe. Er war also eine durchaus durchschnittliche Erscheinung, – aber ein überaus wichtiger Mann, wie sich bald zeigen sollte. Plötzlich preschte auf der Straße draußen ein Meldereiter heran. Ich sah durchs Fenster, wie er von seinem Gaul sprang. Da stürzte er auch schon herein, sah den Mann, riss eine Depesche aus seiner ledernen Umhängetasche und reichte sie dem Mann.

Der las ungerührt und wischte den Boten wortlos fort. Die Situation hatte sich gerade erst beruhigt, als auf dem Asphalt schon wieder Hufgetrappel erscholl. Ein Reiter sprang ab, sein armes Pferd schäumte. In Flocken troff es von seinem zitternden Leib. Der wird doch wohl nicht …, konnte ich gerade noch denken, da stürzte der Reiter schwer atmend herein. Schon wedelte er mit einem Sendschreiben, salutierte vor dem Mann und mit den Worten: „23 Stunden ohne Pause, den Gaul zuschanden geritten, der Wichtigkeit wegen, Exzellenz!“, übergab er ihm die Botschaft.
„Jaja, schon gut!“, sagte der Mann. „Und halt‘ den Verkehr nicht auf. Ich habe keine Zeit zu antworten.“

Ja, aber warum nicht, dachte ich. Wenn derart wichtige Botschaften hereinkommen, sich Meldereiter sogar überstürzen, würde man doch eine angemessene Reaktion erwarten.
„Bitte, mein Herr!“, sagte ich, „es geht mich ja vielleicht nichts an. Doch ich bin beunruhigt ob der allgemeinen Weltlage. Vermutlich, nein, ganz gewiss, ist ihrerseits eine Veranlassung erforderlich. Würde man sonst einen derartigen Aufwand treiben, Sie zu informieren, wenn es mit wortloser Ungerührtheit getan wäre?“
„Sie haben recht“, sagte er, „die allgemeine Weltlage geht Sie gar nichts an. Und ob wirklich eine Veranlassung meinerseits nötig ist, wenn meine Alte mir schreibt, ich solle auf dem Rückweg vom Arzt zwei Avocados einkaufen, wage ich zu bezweifeln.“
Sein Mobiltelefon gab wieder Laut. Man hörte Hufgetrappel und Rösser schnaufen. Er warf einen Blick aufs Display. Las laut: „Und Knoblauch.“

Deppen der Surrogate

In der vollen Stadtbahn hat fast jeder Dritte den Nacken gebeugt und wischt oder tippt auf seinem Smartphone. Ich bin sicher, dass mit der Wischbarkeit von Informationen auch eine Entwertung der Inhalte einhergeht. Digitale Schrift- und Bildinhalte werden zwar auf Bildschirmen sichtbar, sind aber ortlose, nirgendwo festgeschriebene Simulationen. Wo sie aufscheinen, können sie weg -gescrollt oder -gewischt werden, sogar spurlos getilgt oder verändert werden. Entwertet wird ein Text-, Ton- oder Bildinhalt auch, indem er so leicht aufgerufen, also herbeizitiert werden kann. „Alexa! Spiel: Conny Froboess, Pack die Badehose ein!“ Den Aufruf erlebte ich jüngst bei Freunden. Der Algorithmus namens Alexa tat wie ihm geheißen, hatte also, um das zu können, die ganze Zeit unser Gespräch belauscht. Eine der Stimme nach blutjunge Cornelia Froboess musste darauf von der Badehose singen. „Alexa, aus!“, brachte sie zum Schweigen. Ich erinnere mich noch gut an die Zeit, als ich Musik über das Radioprogramm hörte. Wie freute ich mich über lange vergessene und nicht gehörte Musik. Niemals hätte ich sie überdrüssig ausgeknipst, abgesehen vom Badehosenlied vielleicht.

Jüngst berichtet eine Freundin, bei einem aufwändigen Frühstücksbuffet habe es unter anderem gefüllte Avocados gegeben. Eine Weile später wurden ihr auf dem Smartphone Rezepte für gefüllt Avocados angezeigt. Derlei Informationen, die nicht einmal herbeizitiert wurden, sind noch stärker dem Entwertungsprozess unterworfen. Sie sind wie lästige Fremde, die sich in ein Gespräch einmischen und ungefragt Auskunft geben.

Der Konsum ortloser Informationen entwertet auch die Anwesenheit an Orten. Ein Tagestourist in Steinhude war letzten Sonntag nicht am Steinhuder Meer, sondern erzählte amüsiert vom „einzigen offenen Bäcker auf Zypern“, womit wohl kein aufgeschnittener Bäcker, sondern eine geöffnete Bäckerei gemeint war. Ich hörte nur den Satzfetzen. Er musste der Höhepunkt eines launigen Erlebnisberichts gewesen sein. Er und seine Gesellschaft hatte dem Steinhuder Meer bereits den Rücken gekehrt, was angesichts der stürmischen Kälte verständlich war, auch dass er sich lieber an eine Episode auf einer wärmeren Insel erinnerte. Sich bei Kälte warme Gedanken zu machen, ist ein oft empfohlenes Verfahren. Trotzdem habe ich dem Mann das hier schon beschriebene „Touristische Gemüt“ unterstellt.

Zurück in der Stadtbahn. Manche der Smartphone-Nutzer sind aus-, andere eingestiegen. Sofort verneigen sich einige der neuen Fahrgäste wieder vor ihrem Smartphone. Sie entwerten den Ort ihrer Anwesenheit und richten ihre Aufmerksamkeit auf entwertete Informationen. In einer fatalen Wechselwirkung entwerten sie auch sich. Wir sehen Deppen der Surrogate.

Telefonzelle im Ohr

Es ist längst Alltag, doch ich erschrecke immer noch vor Leuten, die mit sich selbst zu reden scheinen, meine, sie wären heftig gestörte Sonderlinge, denen ich mein Mitgefühl schenken müsste, aber in Wahrheit haben sie nur eine immens verkleinerte Telefonzelle im Ohr. Dabei vertrete ich lange schon die Theorie, dass menschliches Denken einst laut begonnen haben muss, als staunendes Stammeln, beschwörendes Brabbeln oder erschrecktes Ah und Oh über die Bilder im Kopf. Auch leises Lesen ist noch recht jung.

Die frühmittelalterlichen Bibliotheken waren von einem ständigen Murmeln erfüllt. Das Einerlei der Buchstaben, das Fehlen von Wortgrenzen zwang zum lauten Buchstabieren, worauf Ivan Illich hingewiesen hat, wobei er die wunderbare Metapher prägte: „Murmler im Weinberg des Textes“. Illich hat als erster darauf aufmerksam gemacht, dass der Übergang vom lauten zum leisen Lesen ein geistesgeschichtlicher Umbruch war. Er wurde erst möglich, nachdem im 7. Jahrhundert die Worttrennung eingeführt worden war, damit irische Bauern (idiotae) leichter lesen lernten, wenn sie zu Mönchen ausgebildet wurden, um hinfort auf Europas Festland zu missionieren. Erst die Wortbilderkennung erlaubt das schnelle und leise Lesen. Während “der Murmler im Weinberg des Textes” noch in devoter Haltung das ertönen ließ, was ihm die heiligen Texte vorgaben, kann der leise Leser sich vom Text distanzieren, indem er ihm die Kraft der Vertonung raubt.

Tonloses Denken ist also auch eine Form der Distanzierung, eine Technik der Abstraktion, wie sie notwendig ist, wenn die Überfülle der Eindrücke unserer Welt bewältigt werden muss.

Inzwischen gilt auch das laute Lesen nicht mehr als schicklich, als Symptom von Leseschwäche. Kürzlich traf ich einen Freund wieder, ehedem Professor für Sonderpädagogik. Er berichtete, er habe noch immer mit Schülern zu tun, die er auf Wunsch der Eltern hinsichtlich ihrer Begabung und Intelligenz testet. Ich erinnerte mich an meine Zeit als Lehrer, als engagierte Mütter von leistungsschwachen Schülern schon mal in meine Sprechstunde kamen und mir ein solches Testergebnis unter die Nase hielten. Oder sie hatten sich für ihr Kind ein Legastheniediplom besorgt. Ich war da immer skeptisch, denn es waren ja von den Eltern bezahlte Gutachten. Natürlich ist nicht zu bestreiten, dass Schulversagen oft tatsächlich ein Versagen der Schule ist, nicht der Schüler. Aber selbst wenn die Schule versagt, versagt sie ja meistens nicht, sondern erfüllt ihre gesellschaftliche Aufgabe als Selektionsinstrument, indem sie Kindern aus bildungsfernen Schichten ihren Platz am Rande der Gesellschaft zuweist. Deren Intelligenz wird natürlich nicht getestet, und auch an Legasthenie leiden sie nicht, sondern gelten einfach als doof, als welche, in deren Kopf nichts hineinpasst, abgesehen von enorm verkleinerten Telefonzellen. Da können sie sich ständig gegenseitig anrufen und sich einander versichern, wo sie gerade sind – am gesellschaftlichen Rand natürlich.

Es etabliert sich eine neue Mündlichkeit der Fernkommunikation, eine orale Gesellschaft von Schulopfern. Diese unkundigen Kunden sind nicht im Hier und Jetzt, weil sie da nichts verloren haben. Technikschnickschnack täuscht sie über ihre Lage hinweg. Die Hersteller, der Handel, die Telefonanbieter und Zuckerberg finden das gut. Solange das dreigliedrige Schulsystem besteht, muss man davon ausgehen, dass auch die herrschende Politik nichts dagegen hat, anders als in Sonntagsreden beteuert wird. Je mehr Unmündige, desto besser.

Requiem für den Zählerableser

Vor einer Weile hat mich der Energieversorger angeschrieben mit einer Aufforderung: „Bitte lesen Sie Ihre Zähler ab“ Ein Aufforderungssatz schließt gewöhnlich mit einem Ausrufezeichen. Dass er im Brief des Energieversorgers fehlt, soll wohl verbindlicher wirken, weil es eigentlich ein unverschämtes Ansinnen ist, dass ich ohne Bezahlung meine Zeit und Arbeitskraft aufbringen soll, um festzustellen, wieviel Energie man mir geliefert hat. Als ich hier anfänglich wohnte, ist noch ein Ableser vorbeigekommen, um die Zählerstände zu notieren. Sicher gibt es bessere Berufe als Zählerstandsableser. Doch um bei mir den Gaszähler abzulesen, muss man sich verbiegen können.

Ich erinnere mich schwach, dass er klaglos in die enge Lücke zwischen Kühlschrank und Spüle gekrochen ist, um schnaufend zwar, den Zählerstand zu notieren. Seine Leistung weiß ich erst richtig zu würdigen, nachdem mich Enercity gezwungen hat, selbst unter die Spüle zu kriechen. Jetzt glaube ich, dass Zählerableser ein ehrsamer Beruf gewesen ist. Er kam mit Kunden in Kontakt und konnte beraten, trat in ihre Lebenswirklichkeit ein, konnte als Regulativ wirken, war also durch und durch ein sozialer Mensch. Dazu benötigte er psychologisches Gespür und – nicht zu vergessen – für Gaszähler wie meinen eine mehrjährige Ausbildung zum Schlangenmensch.
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Mobilfunk zur Steigerung der Arbeitsmoral

Ein großer Wohnkomplex in meiner Nachbarschaft wird seit über einem Jahr aufwändig saniert. Ich komme vom Einkauf und sehe einen Mann in Anstreicher-Kleidung wie er das Straßenschild mit seinem Smartphone fotografiert. Einen Moment denke ich, dass sein Interesse dem Schild gilt. Aber daran ist nichts Besonderes. Es wird keine Fotokunst im Entstehen sein, obwohl man einem Anstreicher nicht leichtfertig den Willen zur Kunst absprechen darf. Ich kenne einen renommierten Künstler, der Malermeister im elterlichen Anstreicherbetrieb war, bevor er sich vom Handwerk abwandte und an der Düsseldorfer Kunstakademie studierte, später dort sogar einen Lehrauftrag bekam.

Ein Blick auf den Mann, zeigt mir, dass er kein Fotokunstprojekt betreibt, was auch während der Arbeitszeit gewiss unerlaubt wäre. Die herumstehenden Firmenwagen eines Anstreicherbetriebs tragen eine Delmenhorster Nummer. Man ist also am Morgen von Delmenhorst angereist, und jetzt dokumentiert der Vorarbeiter seinem Chef den Zeitpunkt ihrer Ankunft per Foto und Messenger. Genau weiß ich das freilich nicht. Ich habe es mir zusammengereimt. Ich weiß auch nicht, ob der Delmenhorster Chef einen Grund hat, seinen Leuten zu misstrauen. Bestünde die Gefahr, dass sie statt legal anzustreichen vom Weg abkommen, um vielleicht irgendwo illegal zu pinseln bzw. unzüchtig herum zu juckjacken?

Ich jedenfalls würde nicht gerne arbeiten, wenn ich mich selbst erniedrigen und mein Smartphone wie eine fotografische Stechuhr nutzen müsste, sondern danach erst mal  in aller Ruhe die Bildzeitung studieren. Das hätte der Chef dann davon.

Matsch in der Birne

Vor einer Weile ist mir aufgefallen, dass ich mich nicht auf das Schreiben konzentrieren kann, wenn meine Internetverbindung offen ist. Mir ist dann als würden vieltausend Stimmen eindringen in meine Gedanken. Wahnsinnige Eintänzer versuchen meine Aufmerksamkeit zu wecken, Jongleure und Einradfahrer performen, ja, sogar Seiltänzer über dem Grand Canyon  machen mich schwindlig, und ganz hinten schickt sich einer an, einen martialischen Säbel zu schlucken. Natürlich sind die putzigen Katzen nicht zu vergessen. Als ich letztens im Blog einer intelligenten Frau Katzencontent entdeckte, fiel mir wieder die Manipulation menschlichen Verhaltens durch den Katzenparasiten Toxoplasma gondii ein. Ein Freund von mir vermutet, dass der Parasit Menschen nicht nur risikobereiter macht, sondern auch für den millionenfachen Katzencontent im Internet verantwortlich wäre.

Zurück zur Internetverbindung. All das Bedrohliche, Verrückte, Irrsinnige, Putzige, Schreckliche da draußen muss ich mir fernhalten, sonst habe ich buchstäblich Matsch in der Birne, äh, ich meine metaphorisch. Etwa 60 Prozent der Weltbevölkerung trägt den Parasiten Toxoplasma gondii in sich. Der ist möglicherweise für allerlei Destruktives verantwortlich, beispielsweise auch dafür, dass Menschen wie blöd Politiker wählen, von denen man wissen kann, dass sie die Demokratie abschaffen wollen, um die Macht dauerhaft an sich zu reißen. Ähnliches hat Kollegin Tikerschek auch vermutet.

Dass der Parasit Toxoplasma gondii menschliches Verhalten steuert, haben, glaube ich, US-Wissenschaftler herausgefunden. Solche haben auch herausgefunden, dass allein die Anwesenheit eines Smartphones die kognitive Leistungsfähigkeit von Menschen herabsenkt. Der Eindruck, dass das Smartphone blöde und blöder macht, drängt sich auf, wenn man Mitmenschen in der Öffentlichkeit beobachtet.

Das Smartphone beachte ich kaum. Meist ist es tagelang ausgeschaltet. Aber natürlich ist die oben beschriebene Wirkung des Internets vergleichbar. Ich schalte die Verbindung jetzt ein, um den Text hier zu veröffentlichen und schwupp bin ich um ein paar Takte blöder. Zum Glück steht der Text schon fest. Zumindest fast, wenn ich nicht mehr wie so oft drin herumfummele, was aufmerksamen Leserinnen und Lesern gewiss schon aufgefallen ist.

Stumme Katastrophen

In den Bussen der Hannoverschen Verkehrsbetriebe gibt es eine Vierersitzgruppe, mit zwei einander zugewandten Sitzbänken, bei denen jeweils der Fensterplatz höher liegt als der zum Gang. Vermutlich ist darunter der Radkasten, aber das benenne ich nur, um mit den Zeilen auf Höhe der Vignette zu kommen. Wenn auf dem Radkasten ein kleiner Mensch sitzt und am Gang ein großer, sind beide auf Augenhöhe. In dieser idealen Sitzposition befinden sich ein kleiner Junge und seine Mutter. Ich zwänge mich vorbei auf den Fensterplatz in Fahrtrichtung und habe nun von der hohen Warte beide im Blick.

Sie ist etwa 28 Jahre alt, blond und ziemlich hübsch. Im Nasenflügel trägt sie einen schmalen Goldring, einen weiteren am Daumen und einen am Ringfinger. Dem Wetter angemessen hat sie sich in einen weiten hellen Mantel gehüllt und sich umgeben mit einem Schal, für den mir nur das Fremdwort voluminös zu passen scheint. Auf dem Schoß hält sie einen kleinen Schulranzen. Offenbar hat sie den Jungen nach der Arbeit aus Nachmittagsbetreuung abgeholt. Ihr Sohn hat die Augen auf ein Smartphone gesenkt und spielt. Ab und zu kratzt er sich versonnen, wo man sich in der Öffentlichkeit nicht kratzen sollte. Während der gesamten 20-minütigen Fahrt sprechen Mutter und Sohn kein Wort. Nur einmal nimmt sie ihm das Smartphone weg, um den Spielsound leiser zu stellen.

Offenbar ist die Frau müde von einem vermutlich anstrengenden Bürotag. Zu Hause würde es weitergehen mit Anforderungen. Auch der Junge ist müde. Beide nehmen sich eine Auszeit. Sie weiß ihren Sohn bei sich und beschäftigt und hängt einfach ihren Gedanken nach, er vertreibt seine Gedanken und ersetzt sie durch Anforderungen und Eindrücke aus der Spielewelt. Da muss nichts gesagt werden. Auch ist durchaus fragwürdig, mit kleinen Kindern Gespräche auf Augenhöhe zu führen. Ich liebte einmal eine alleinerziehende Mutter mit achtjähriger Tochter, deren Erziehungsprinzip gewesen war, mit dem Kind auf Augenhöhe zu sein. Demzufolge war die Tochter ein egozentrisches, verwirrtes Kind, das sich ständig überschätzte und keine Grenzen akzeptierte. Aber durch eine zufällige Sitzposition mit seinem Kind auf Augenhöhe zu sein, eröffnet Chancen, die Welt für kurze Zeit aus der kindlichen Perspektive zu sehen. Das wäre im beschriebenen Fall allerdings nicht ergiebig, denn der Junge schaut nicht auf und um sich, sondern ausschließlich auf den Bildschirm. Und sich darüber zu unterhalten, ist wenig verlockend. Obwohl, sich das Spiel vom Kind erklären zu lassen, wäre schon eine Option.

Mich gruselt es, denn mit mir ist ein junger Mann eingestiegen, hat sich neben mich gesetzt und ist das alt gewordene Pendant zum Kind am Fenster. Auch er hat den Blick auf sein Smartphone gesenkt und spielt, man sagt „daddelt“, ohne Unterlass ein labyrinthisches Spiel mit faszinierenden visuellen Effekten. Das Spiel hat ihn völlig in seinem Bann. Als ich nach 40-minütiger Fahrt aussteigen muss und um Durchlass bitte, schaut er zum ersten Mal auf und nimmt wahr, dass gegenüber freie Plätze sind, wo er sich hinpflanzt und weiter spielt.

Wer ein Spiel programmiert, hat den berechtigten Wunsch, die potentiellen Spieler zu fesseln, denn sein Arbeitgeber bemisst den Erfolg danach. Es sind da also keine verschwörerischen Kräfte am Werk. Alle beteiligten Personen handeln für sich genommen richtig und plausibel. Vielleicht bin ich der Freak, der das beobachtet und sich Gedanken macht. Letztlich kann es mir egal sein, denn wenn sich die stummen Kommunikationskatastrophen einmal verheerend auf die Gesellschaft auswirken werden, bin ich auch glücklich verstummt und begucke die Radieschen von unten.

Fernsehen tut manchmal sehr sehr weh

Zufällig im Vorbeizappen bei „3nach9“ den Juso-Vorsitzenden Kevin Künert gesehen. Er schwärmte von den kulinarischen Genüssen im Hauptbahnhof von Hannover. In einem Laden im Untergeschoss gebe es „sehr sehr gute Brötchen mit Wurst drauf“. Und es sei bei ihm und seinem Freundeskreis „ein running gag, wir schicken uns immer Fotos, wenn wir bei diesem Laden sind und eh, es ist sehr lecker.“
Der Journalist Giovanni di Lorenzo fragte investigativ nach:
„Und ist das Mett oder Tartar?“
„Ich bin eher die Fraktion Mett (…).“
„Ist das der Realo- oder der Fundiflügel?“
„Das ist der Fundi-Flügel“ (…)
„Und mit Zwiebel oder ohne?“
„Selbstverständlich ohne Zwiebeln (…)“
Der Tagesschau-Nickautomat Judith Rakers grätschte dazwischen: „Stimmt das, Giovanni?“

Ich dachte, ihr seid ja noch viel größere Deppen als ich geglaubt hätte. Und was soll ich sagen, diesen Wortwechsel aus dem Untergeschoss der öffentlich-rechtlichen Fernsehunterhaltung musste ich mir heute mehrmals in der Mediathek anschauen, um ihn korrekt wiedergeben zu können. Wegen solcher Qualen habe ich im Jahr 2006 aufgehört, für die Titanic „Briefe an die Leser“ zu schreiben. Wir lernen: der Fundiflügel, den es eigentlich nur bei den Grünen gibt, aber das kann man als ZEIT-Herausgeber schon mal verwechseln, also der Kreis um den Jusovorsitzenden Kevin Künert mampft im hannoverschen Hauptbahnhof Mettwurstbrötchen und schickt sich von diesem weltbewegenden Ereignis gegenseitig Fotos aufs Smartphone.
Liegt das an schwammartiger Rückbildung von Gehirnsubstanz durch BSE?

Kinder in Afrika buddeln in 50 Meter tiefen Minen mit bloßen Händen nach Kobalt und anderen seltenen Erden für die Smartphone-Herstellung, damit Kevin Künert Bilder von seinem Wurstbrot in die Welt schicken kann. Die desgleichen barbarischen Bedingungen der tierquälerischen Billigfleischerzeugung für Wurstbuden in Bahnhofs-Untergeschossen wecken im ZEIT-Herausgeber di Lorenzo die brennende Neugier, ob Zwiebeln drauf kommen.

    „Sollen wir Ihnen den Weltekel einpacken oder geht der so mit?“
    „Haben Sie Geschenkpapier?“
    „Welches hätten Sie denn gern, das Schwarze oder das Rote mit Herzchen?“
    „Keine Ahnung. Ach, lassen Sie nur, ich nehm‘ ihn für unterwegs.“

„Wo bist du?“ Einiges über Fernkommunikation

Auf der Ecke unten hat mal eine Telefonzelle gestanden. Die Telecom hat sie abgebaut, obwohl sie rege genutzt wurde. Ihre Nutzer waren Zwecktelefonierer, denn eine Telefonzelle suchte man nur auf, wenn es sein musste, zumal es wohl Leute gab, die Telefonzellen sogar ausdrücklich aufgesucht haben, wenn sie mal mussten. Telefonzellen werden bald vergessen und mit ihren angeketteten Telefonbüchern nur noch Exponate im Technikmuseum sein. Smartphonebesitzer werden staunen, dass es mal solche Häuschen gab, in die man sich schamhaft zurückzog, um ein Privatgespräch zu führen. Derzeit lagert die Telekom die ausrangierten Telefonzellen nahe Potsdam. Man kann sie kaufen und im eigenen Garten aufstellen.

Staunen wird man auch über eine Erscheinung jugendlicher Folklore, die mit der Telefonzelle verloren gegangen ist: Wir sehen den übermütigen Versuch, 18 Personen in eine Tefonzelle zu pressen, im Jahr 2007 auf dem Aachener Markt, hier von mir mehr schlecht als recht dokumentiert.

Kaum zu glauben, aber selbst gesehen: 18 Jugendliche in einer Telefonzelle, Aachen, August 2007 – Foto: JvdL

Zeitsprung in die Zeit der Smartphones: Einmal sah ich drei junge Männer nebeneinander gehen, und ein jeder hielt sein Mobilfunkgerät ans Ohr. Theoretisch sprachen sie also mit drei anderen Personen, die sich an unterschiedlichen Orten aufhielten. Es hätte aber auch sein können, dass die drei mit drei anderen redeten, die ebenfalls nebeneinander her gingen, und die drei könnten sogar sie selbst gewesen sein, in einer Konferenzschaltung miteinander verbunden. Ich habe das noch nicht ausprobiert, aber vermutlich ergäbe sich eine Dehnung der Gegenwart durch die Zerstörung der Synchronizität. A ruft B und C an und fragt, was als Telefonphrase erst mit dem Mobilfunk entstanden ist: „Wo bist du?!“ B antwortet: „Nieschlagstraße.“ C ergänzt: „Nieschlagstraße.“ A: „Ich auch.“ Und so weiter. Man kann sich so eine gehaltvolle Konferenzschaltung gar nicht ausdenken.

Kommunikationsmedien sind in erster Linie Gefühlsvermittler, und bedeutende Inhalte müssen ihnen abgerungen werden, sind aber trotzdem nur Mittel zum Zweck. Paul Watzlawick unterscheidet zwischen Inhalts- und Beziehungsaspekt der Kommunikation. Diese Begrifflichkeit ist ebenso sinnverstellend wie die Unterscheidung Zwecktelefonierer und Lusttelefonierer. Letztendlich geht es bei menschlichem Sprachhandeln immer um Gefühle, um Lusterzeugung oder Frustvermeidung. Inhalte sind nur Hemd und Hose, mit denen wir unsere bloßen Gefühle bedecken. Fernkommunikation suggeriert Nähe, kann aber den unmittelbaren Kontakt zwischen Menschen nicht ersetzen.

Denn in seinem Kopf ist der Mensch allein, der einzige Bewohner eines ständig wachsenden Universums. In diesem Universum kann er sich verlieren und irrewerden an der Einsamkeit. Es gibt nur ein Gegenmittel, den regelmäßigen Kontakt mit vertrauten Köpfen. Die soziale Gruppe holt den Einzelnen aus seinem Universum zurück auf den gemeinsamen Teppich der physikalischen Realität und erdet ihn durch das Gemeinschaftserlebnis, den Austausch von Gefühlen, Wahrnehmungen und Erfahrungen. Dies geschieht im menschlichen Maß. Es reicht von der sexuellen Verschmelzung, dem Hautkontakt über die Armeslänge bis hin zur Ruf- und Sichtweite. Berührung, Gestik, Mimik und Lautsprache sind die natürlichen Austauschmittel. Die entsprechenden Sozialverbände sind das Paar, die Familie, die Gruppe, der Stamm oder die Dorfgemeinschaft.

Jedes Mittel der Fernkommunikation schwächt den Kontakt zum direkten Sozialverband und führt zur Individualisierung. Wer nur noch von Universum zu Universum funkt, ist sogar ständig vom Gefühl der Einsamkeit bedroht, denn Fernkommunikation ist beschränkt auf die vom Menschen abgelösten Zeichensysteme. In einer Welt, die von der Fernkommunikation bestimmt ist, sind auch die Sozialverbünde geschwächt, weil sie sich die Aufmerksamkeit teilen müssen mit Menschen, die an anderen Orten sind.

Drei junge Männer, die telefonierend nebeneinander ausschreiten, bieten ein surreales, aber trauriges Bild. Ein jeder ist seine eigene Telefonzelle und riecht nach Notdurft.