Bahnerlebnis und Eisenbahngedanken

Ein Gleichnis habe ich mir während einer Bahnfahrt nach Aachen ausgedacht, ausgehend von Bielefeld, auf dessen Bahnhof mein Zug strandete, weil ein Depp eine Station voraus in Rheda-Wiedenbrück „ein Gepäckstück“ auf dem Bahnsteig hat stehen lassen. Das vermeldete der Zugchef und dass mit einer Wartezeit von 60 Minuten zu rechnen sei. So lange dauere es bis zum Abschluss der polizeilichen Maßnahme. Wie muss man sich derlei vorstellen? Von irgendwoher rückt ein Sprengstoffentschärfungskommando heran und jagt das Gepäckstück vorsorglich in die Luft? Chinaböller hinein, und den Himmel über Rheda-Wiedenbrück verdunkeln zerfetzte Socken und Schlüpper?

Sanft trudeln sie hernieder und sinken auf Hausgiebel, Gartenmöbel, und eine bekackte Unterhose, ein Riesenbrüller, legt sich schützend über die Köpfe der lachenden Schlachtviehplastiken auf dem Dach der Tönnies-Tötungsfabrik. Man weiß es ja nicht, wenn man im dubiosen Bahnhof von Bielefeld gestrandet ist, was ich schon immer mal keinesfalls wollte.
Der Bahnchef wusste jedenfalls auch nichts Näheres, versprach aber, er werde uns Fahrgäste über Lautsprecher informieren, sobald er mehr wisse. Über Lautsprecher also. Ich hätte gedacht, er würde einen reitenden Boten durch die Gänge schicken. Einige Fahrgäste setzten Meldungen ab. „Bei Rheda-Wiedenbrück liegt ein Koffer auf den Schienen!“, irrlichterte eine Frau in ihr Mobilfunkgerät. Man kann sich schon mal vertun. Der bahnamtliche Fachterminus ist „Personen im Gleis.“ Andere Baustelle.

Irgendwann hat wohl eine höhere Bahnmacht beschlossen, den Zug zurückzuschicken bis zu einem Bahnhof namens Lohne und uns von dort umzuleiten über Osnabrück und Münster, wodurch sich unser Zug um 180 Minuten verspäten werde. In Münster sollten dann alle raus und in einen ICE aus Hamburg umsteigen, der drei Minuten später angerauscht käme. Eine dicke Frau half mir aus eigenem Antrieb mit dem Koffer aus dem Zug, aber treppab, treppauf auf den anderen Bahnsteig hetzend, musste ich ihn selbst schleppen. Als ich durchschnaufend im ICE saß, dachte ich, drei Deppen mit Koffer könnten den gesamten Bahnverkehr lahmlegen und das ganz ohne Streik. Einer blockiert die Strecke Berlin-Köln, einer Hamburg-München, einer Köln-Basel. Und das, Mobilfunk sei dank, in wöchentlicher Verabredung wie Fontanes Hexen in die Brück‘ am Tay: »Wann treffen wir drei wieder zusamm‘?« Davon würde sich der Fahrplan der Deutschen Bahn nie mehr erholen.

Nach ihrem Einsatz auf dem Bahnhof von Rheda-Wiedenbrück vermeldete heute die Polizei: „In einer erst als verdächtig eingestuften Plastiktüte befanden sich ein Staubsauger und Schuhe.“ Wegen einer Plastiktüte mit Staubsauger und Schuhen verpasste ich den Geburtstagskaffee meines Aachener Enkels. Etwa 2500 andere Fahrgäste in Zügen zwischen Berlin und Köln waren auch betroffen. Sollten Plastiktüten nicht überhaupt verboten werden? Doch wie es im Rheinland heißt: „Nix es esu schläch, dat et nit für jet jot es!“ – ich hatte Zeit für Bahngedanken. Davon später.

Allzeit nach Bielefeld

kategorie surrealer-AlltagUm 17:28 Uhr, also in 11 Minuten soll der ICE 651 von Köln nach Berlin-Gesundbrunnen in Hannover eintreffen, fährt und fährt, aber auf dem Display zu unseren Köpfen wird als nächster Halt immerzu Bielefeld Hbf angezeigt, ein Umstand, der das Präsens geradezu verlangt. Ich schaue bang aus dem Fenster und würde mich nicht wundern, statt der Vororte von Hannover die Außenbezirke von Bielefeld vorbeiziehen zu sehen, was aber vor gut einer Stunde schon gewesen war. Der Zugbegleiter kommt durch den Gang und schenkt der irritierenden Anzeige keine Beachtung, obwohl mein Zeigefinger zaghaft auf den Bildschirm weist. Wie mag die hartnäckig auf Bielefeld stehende Anzeige zu erklären sein? Gewiss hat man an den Bahnhöfen Transponder, die einen durchfahrenden Zug registrieren und an das computergesteuerte Leitsystem melden, so dass ein falscher Bildschirmhinweis eigentlich ausgeschlossen ist. Was wenn der ICE über eine falsch gestellte Weiche in eine Schleife geraten ist und immerzu auf Bielefeld zurast, vorbei und wieder darauf zu? Man hat ja über Bielefeld schon allerhand Verdächtiges gehört. Demnach ist Bielefeld ein schwerer Ausnahmefehler im galaktischen Betriebssystem. Und eben bei unserem Halt hat die dubiose Stadt den ICE infiziert.

film-als-kunst„Paarung wirkt auf die Partner“ sagt der Gestaltpsychologe Rudolf Arnheim. Ich habe ein Buch von ihm im Koffer. „Film als Kunst“. So eine Filmspule dreht sich ja auch immerzu, immerzu – bis der Film abgespult ist. Das Buch kreist auch. Es ist kürzlich noch in Dänemark gewesen, nachdem mein Schwiegersohn, er ist Filmemacher und Kameramann, es als Urlaubslektüre bei mir ausgeliehen, dann zurück mit nach Aachen genommen hat. Jetzt will ich den Klassiker wieder nach Hannover bringen und zurück in mein Bücheregal stellen.

Allzeit nach Bielefeld - (Foto JvdL)

Allzeit nach Bielefeld – (Foto JvdL)

Meine Mitreisenden haben bislang nichts gemerkt, heben nicht mal die Köpfe, als ich mit meinen Smartphone das Beweisfoto schieße, obwohl das blöde Gerät wieder ein unnötiges Objektiv-Verschlussgeräusch simuliert, das die Ruhe im Wagen 34 durchbricht. Ich erwarte, dass alle mich anschauen und sich fragen, was es hier und jetzt zu knipsen gibt. Aber nein, sie sind wie in Trance. Ja, merkt ihr denn nicht, dass der ICE 651 um Bielefeld kreist? In 11 Minuten soll der Zug in Hannover eintreffen. Er fährt und fährt. Mein Blick irrt erneut hoch zum Bildschirm. „17:17 Uhr – Nächster Halt Bielefeld.“ Was für ein Debakel!

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