Neulich in meinem Schlafzimmer

kategorie surrealer-AlltagWeil ich keine Läden an den Fenstern habe, ist es in meinem Schlafzimmer nicht stockdunkel, sondern die Dunkelheit hüllt mich in ein sanftes Tuch, leicht, duftig und transparent, so dass immer noch schemenhaft etwas zu sehen ist, solange ich die Augen offen halte. Neulich sah ich einen Schatten an der Zimmerdecke.
Ich dachte: „Hören Sie mal, Herr Nachbar, das geht aber nicht, dass Sie Ihren Schatten durch meine Decke hängen lassen.“
„Ja, was kann ich denn dafür? Der ist eben so schwer. Kommen Sie mal in meine Situation, dann ist ihr Schatten auch schwer. Die werden nämlich immer schwerer und sacken dann durch.“
„Ach, und Sie sind ihn los? Auf meine Kosten verunzieren Sie meine makellose Zimmerdecke. Diese fatalistische Haltung ziemt sich nicht. Was würden Sie sagen, wenn Ihr Obernachbar seinen Müll einfach vor Ihre Wohnungstür stellen würde?“
„Meine schweren Gedanken sind kein Müll.“
„Aber es sind Ihre schweren Gedanken. Und die haben nicht durch meine Zimmerdecke zu hängen.“
„Bitte schimpfen Sie nicht mit mir. Das macht mir großen Kummer. Ich habe doch schon genug davon. Erst heute hat mich einer nicht richtig zurück gegrüßt, sondern hat gesagt, er würde mich gar nicht kennen. Mehrmals habe ich ihn wieder gesehen, und jedes Mal hat er so komisch gegrinst, als würde er denken, da kommt wieder der Idiot, der mich zu kennen glaubt.“
„Sie sind nicht aufrichtig und nennen mir nicht die wahre Ursache Ihres schweren Schattens. An guten Tagen würden Sie über den Vorfall schmunzeln.“
„Gute Tage?“
„Ja, die hat jeder. Manchen stehen sie gar nicht zu, aber man hat sie ab und zu. Seneca würde sagen, dass Ihre Bilanz nicht stimmt. Sie erwarten zuviel, achten nicht, was da ist, sondern blicken neidvoll auf das, was Sie nicht bekommen können. Damit machen Sie sich den Tag kaputt. Und bei mir hängt mitten in der Nacht Ihr Schatten an der Decke. Holen Sie ihn rauf. Sie werden spüren, er ist ganz leicht. Denn das ist die ganze Kunst: das Schwere leicht und das Leichte schwer zu nehmen.“
„Das Leichte schwer?“
„Ja, legen Sie Ihr Augenmerk auf das Leichte. Geben Sie den kleinen, erfreulichen, zuweilen ulkigen Dingen Bedeutung.“
„Hallo, Herr Unternachbar!“
„Ja?“
„Ich glaube, Sie reden im Schlaf.“