Textvagabunden sind von mir so genannte launige, auch erotische Texte ohne Autorenkennzeichnung. In der Zeit vor dem Internet kursierten sie in getippter Form, später wurden sie als Fotokopien weitergegeben. Ich habe in den 1990-er Jahren solche Zeugnisse der Volkskultur gesammelt.
Das erste Beispiel eines vagabundierenden Textes habe ich in den 1960-er Jahren während meiner Schriftsetzerlehre gesehen. Der Juniorchef der Druckerei war unser Setzereileiter. Nachmittags hängte er seinen grauen Kittel an den Haken, zog ein Jackett an und begab sich auf Kundenbesuch, um neue Aufträge zu akquirieren. Die Gesellen machten sich dann über seinen Kittel her, denn in der Brusttasche klemmten hinter ein paar Papiermustern ein pornografisches Foto, und dahinter ein zusammengefaltetes DIN-A4-Blatt, worauf mit Schreibmaschine ein pornografischer Text geschrieben war. Es ging um die sexuellen Abenteuer einer Frau namens Rosi. Das Blatt war so oft geöffnet und wieder gefaltet worden, dass die Kanten schon Risse hatten. Solche Blätter waren immer Originale, denn wer sie weitergeben wollte, musste sie abtippen.
Das änderte sich, als der Fotokopierer in die Büros einzog. Es wurden natürlich nicht nur pornografische Texte kopiert und per Hand weitergegeben. In vielen Büros der Verwaltungen hingen launige Sprüche oder längere Texte an der Wand, an der Tür oder am Schwarzen Brett, mit denen man sich den Büroalltag versüßt. Inzwischen werden solche Texte auch per E-Mail, über Messenger wie WhatsApp, Telegram usw. weitergereicht und verbreiten sich im Internet, so beispielsweise die Typbeschreibung des Trabbis 601 S auf Sächsisch, die Geschichte vom Hund des Gewerkschafters [in den 1980-er Jahren am Schwarzen Brett unserer Schule gesehen] oder die Anleitung Wie man andere in den Wahnsinn treibt. Hier nun ein authentisches Beispiel in Papierform:
Eigentlich habe ich heute die Betriebsanleitung für meine Heizungsterme gesucht, bekam aber plötzlich Lust, selten geöffnete Schubladen aufzuziehen und deren Inhalt anzuschauen. Ich fand mancherley Interessantes, unter anderem einen Textvagabund. Diesen Textvagabund hat mir eine Schülerin aus der siebten Jahrgangsstufe gegeben. Er trägt die Datumsangabe 1980, wäre demnach mindestens 40 Jahre alt. Wie die umseitige Quellenangabe zeigt, bekam ich den Brief am 26.September 1994. Zu diesem Zeitpunkt kursierte der Brief bereits 14 Jahre. Möglicherweise ist er noch älter, war ursprünglich handschriftlich, wurde später getippt und wieder abgetippt und erst im Jahr 1980 fotokopiert. Mich faszinieren daran die verhaltene Komik und surrealen Elemente.
Viel Vergnügen beim Lesen.
- Nachtrag: Am Freitagabend in geselliger HaCK-Runde sprachen wir kurz über den vor einem Monat gestorbenen Komiker Fips Asmussen. Herr Putzig wusste noch etwas über Asmussens Witztechnik. Ich erinnerte mich gar nicht, fand aber bei Youtube einige Beiträge. Sein Witz, in Erzählhandlungen eingebettet, erinnert stark an den Witz des Briefes.
Eine feine Variante der Ostfriesenwitze, die ja wohl unsterblich sind.
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An Ostfriesenwitze habe ich auch gedacht. Mir fiel dann auf, dass ich schon lange keinen mehr gehört habe.
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also doch nicht unsterblich? sind sie der political correctness zum Opfer gefallen?
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Könnte gut sein. Hier (Variante 3) einer aus einem ostfriesischen Jahrbuch: https://trittenheim.wordpress.com/2016/05/19/maulspitzen-gilt-nicht-gepfiffen-muss-sein/
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Tolle Geschichte. Ich fürchte, sie ist recht aktuell. Uns ist der Strick längst um den Hals gelegt, und wir kommen zu nichts weiter, als das Maul zu spitzen. Oder hörst du den befreienden Pfiff?
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Ich kann mich noch erinnern, dass in meiner Kindheit (80er, Österreich) zensierte Liedtexte auf Zetteln herumgereicht wurden. Die hat man dann entweder heimlich, oder im Kreise aufgeregter Freunde gelesen.
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Danke für deine Erinnerung. Weißt du noch einen Liedtext?
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Leider nichts konkretes, ich weiß nur, dass es oft mit gewissen Zipfeln und lustigen Fräuleins hinter Fenstern zu tun hatte. Und Texte der EAV, die gingen auch herum, wenn der Song zensiert war (eine perverse Version von „Küss die Hand, schöne Frau“ hab ich noch meiner Mutter aus der Handtasche geklaut)
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Nach der Lektüre des Briefes fällt mir auf, dass Büttenredner sich zuhauf an solchen freien Texten bedient haben. Besonders der Gags mit dem schon zugeklebten Brief wird ja immer wieder gern verwendet.
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Da hast du sicher Recht. Nicht alle sind aber so dreist wie Friedrich Merz, der seine Rede zum „Orden wider den…“ im Internet klaute, obwohl die Autorin des Originals bekannt war, nämlich Monika Rieboldt, Sekretärin an der Bielefelder Universität, Sie hette den Text für das Internet-Satiremagazin „zyn.de“ geschrieben.
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Genauso habe ich diesen Kerl eingeschätzt. Man kann sowas gar nicht oft genug ins Gedächtnis zurückheben.
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Einen „freien“ erotischen Text habe ich nie gesehen oder gehört. Ich fühle mich benachteiligt…
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Leider kann ich auch nicht damit dienen. Ich hoffe immer noch, dass auch sowas jemand gesammelt hat. Aber bislang haben wir nur Peter Rühmkorfs wunderbar anarchische Sammlung: „Über das Volksvermögen.“
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Hihihi Ein vergnügliches Briefchen…
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