Fünf schmutzige Männer im Nacken

Obwohl ich die Lebensbedingungen meiner Kindheit auf dem Land nicht idealisieren will, kann ich sagen, dass wir so gut wie keinen Müll produziert haben, no, Sir. Was wir aßen, kam aus Stall, Garten oder vom Feld, und die ungenießbaren Essensreste wurden in einem lebendigen Müllschlucker geparkt, das war ein Schwein. Wenn es sich an den Abfällen dick und rund gefressen hatte, wurde es an den Ohren aus dem Stall gezerrt, kriegte einen Bolzenschuss an den Kopf, und nach einigen Stunden war es komplett zu verschiedenen Lebensmitteln verarbeitet.

Plastikverpackungen gab es in unserem Haushalt nicht, und sie wurden auch nicht vermisst. Wie ich überhaupt viele Dinge nicht vermisst habe, die mich heute umgeben. Einmal hat Lehrer Ruß mit uns in den großen Ferien Segelflugzeugmodelle gebaut. Das Modell hieß: Der kleine Uhu. Anschließend gab es einen Wettbewerb, wessen Modell am längsten in der Luft blieb. Mit meinem „kleinen Uhu“ belegte ich den zweiten Platz und gewann eine Stoppuhr. Ich freute mich so, dass ich dachte, ich sei der glücklichste Mensch der Welt. Da saß ich gerade auf dem Plumpsklo. Zum Wischen lag da Zeitungspapier. Weniger geeignetes Papier verbrannten wir im Ofen, die Asche kam auf den Mist und wurde zusammen mit den Ausscheidungen von Tier und Mensch wieder zu Dünger. Zugegeben, das war eine karge Welt, doch irgendwie war alles in Kreisläufen von Entstehen, Vergehen und Wiedererstehen organisiert, ohne dass die Natur nennenswert belastet wurde.

Das änderte sich rasch, denn die Welt meiner Kindheit wandelte sich quasi über Nacht zur Wohlstandsgesellschaft. Plötzlich war allenthalben Überfluss. Mit dem Überfluss kamen neue Bedürfnisse, verpackte Waren und Güter von außerhalb, und mit ihnen kam der Müll. Da wir an die alten Kreisläufe gewöhnt waren, dachten wir gar nicht daran, dass die Natur den zusätzlichen Müll nicht verkraften könnte. Über viele Jahre hinweg gab es in dieser Hinsicht kein Problembewusstsein. Es wuchs erst Ende der 1970-er Jahre, als die Umwelt schon ziemlich verdreckt war. Doch so richtig bewusst sind wir uns heute noch nicht, wie sehr unser Lebensstil des Überflusses den Planeten belastet.

Zeitsprung in die Gegenwart. Ich habe keinen aufwendigen Lebensstil, und trotzdem fallen in meinem Ein-Personen-Haushalt täglich etwa drei bis vier Liter Müll an. Das Volumen sagt nichts über das Gewicht, und ich weiß auch nicht, ob ich damit über oder unter dem Durchschnitt liege. Laut Statistik von 2015 kommen auf jeden von uns jährlich 455 Kilogramm Müll. Das ist etwa das Fünffache meines Körpergewichts. Ich habe also am Jahresende fünf Schattenmänner aus Müll bei mir. Heute kaufte ich verpacktes Brot. Was vorne im Regal lag, war schon ein wenig trocken. Ich langte nach einem weiter hinten liegenden Paket, und im selben Moment wurde mir klar, dass das von mir verschmähte Brot vermutlich kein anderer kaufen würde. Das Brot würde im Müll landen. Mein Problem zeigt sich also nicht nur im Müll, den ich zu Hause produziere, sondern auch in den Abfallcontainern der Supermärkte. Demgemäß ist mein Lebensstil nach wie vor verschwenderisch, und meine Bedürfnisse sind nach vernünftigen Maßstäben maßlos. Trotzdem habe ich seit meiner Kindheit nie mehr von mir sagen können, ich sei der glücklichste Mensch der Welt. Warum nicht? Es gibt keine monokausale Erklärung, aber fünf Müllmänner im Nacken wiegen unsäglich schwer.

15 Kommentare zu “Fünf schmutzige Männer im Nacken

  1. Was mich ärgert, ist die Müllentsorgungspraktik unserer Gemeinde. Ich habe die kleinste Größe der verfügbaren Mülltonnen bestellt und selbst wenn ich diese Tonne nur einmal im Jahr leeren lasse, bezahle ich doch 6 Leerungen, denn die sind im Grundpreis mit drin. Das heißt, Müllvermeidung muss man teuer bezahlen, und wer ordentlich Müll produziert, ist der Gewinner.

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    • Nur einmal im Jahr die Mülltone leeren? Vermutlich geht das nicht aus hygienischen Gründen. Ein ähnliches Problem ergibt sich beim Wassersparen. Wenn zu wenig Abwasser durch die Kanalisation fließt, droht sie zu verschlammen und muss mit Frischwaser gespült werden. Auch die Kläranlagen arbeiten nicht gut, wenn zu wenig Wasser fließt. Unsere Zivilisation ist nicht auf Sparsamkeit angelegt.

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      • Nun, die Hygiene ist natürlich ein wichtiger Aspekt, aber nach der Trennung von Bio-/Kompost-Müll, Verpackung, Glas und Papier bleibt ja eigentlich nichts mehr übrig… In meiner Restmülltonne befinden sich zur Zeit ein zerbrochener Keramikvogel, ein Stück imprägnierte Holzleiste, ein paar verrostete Schrauben und einige alte Videocassetten.

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    • Dann würde ich mich mit 6 Nachbarn zusammentun, die ebenso wenig Müll produzieren. Eine Gemeinschaftstonne für 6 Parteien würde „theoretisch“ das Problem lösen. Aber wenn Jules bei 1x / Jahr die Hygiene erwähnt, so wird für so eine Aktion sicher etwas anderes als Hygiene der Hinderungsgrund sein?!

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  2. So ist es und ich muss mich unheimlich „bebremsen“, dass ich nun aber auch wirklich Müll mache und nicht alles, was man gegebenenfalls noch mal gebrauchen könnte, aufhebe, sonst würde ich mich selbst wie ein Messie zumüllen.

    Was war in meiner Jugend ein hübscher Pralinenkasten für ein Schatz. Die erste Plasitkverpackung wurde wieder und wieder benutzt und gebraucht und die ersten Joghurtplastikbecher wurden gesammelt, gestapelt und artfremd weiter genutzt.

    Dschä und jetzt natürlich „ab in die Tonne“ mit dem Zeugs, oder eben in dem gelben Sack.
    Der „grüne Punkt“ ist doch auch so eine Mogelpackung, um den Verbraucher zu verdummen. Es sollte Müll vermieden werden, und … immer mehr in Plastik eingeschweißte Waren lassen sich doch viel gefälliger über das Band an der Kasse schieben.

    Wachstum ist das Zauberwort … auch in Sachen Müll.

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    • Mit unserem Müll wird viel Geld verdient. Als Hannoveraner Neubürger bekam ich bei der Anmeldung ein Begrüßungspaket geschenkt. Das enthielt eine Hochglanzbroschüre vom „Zweckverband Abfallwirtschaft Region Hannover“ (aha), eine Rolle gelber Säcke vom Dualen System und einen Abfallabholkalender. Da wusste ich sofort, in Hannover wird Müll geschätzt. Man kriegt ihn gleich zur Begrüßung. Die gesamte Mülltrennung ist eine Mogelpackung, ein Fass, dass ich hier gar nicht aufmachen mag.
      Dein letzter Satz bringt es auf den Punkt.

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  3. Vor einiger Zeit stieß ich auf das Buch „plastikfreie Zone“ von Sandra Krautwaschl. Weil mich das Thema faszinierte (das war noch zu Blog.de-Zeiten) schrieb ich in meinem Blog darüber und versuche seitdem (aber unkommentiert) Plastik wann immer es geht zu vermeiden. Eine Blogfreundin von mir hat allerdings einen Monat darüber gebloggt. War schon spannend. Es geht, wenn man sich Mühe gibt. Und Plastik ist von allen Müllsorten das größte Problem. Es ist einfach unlogisch, für etwas, das man wegschmeißt, etwas zu benutzen, das 1000 Jahre braucht, um zu verrotten…

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      • Ja, weil man es gewohnt ist. Aber man gewöhnt sich auch an anderes. Wenn man weiß, dass es genau eine Sorte Nudeln gibt, die in Pappe eingepackt wird, dann sucht man nicht nach anderen. Und zu dogmatisch muss man es ja nicht machen – Notebooks wären dann ja auch nicht mehr möglich. Aber ein bisschen was ist immer drin 🙂

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  4. Ich denke, wir alle, die hier lesen und kommentieren, vermeiden – so gut es geht – unnötigen Müll von sich aus, ohne ermahnt werden zu müssen. Und klar, verbessern können und sollten wir uns immer.
    Was mich aber immer wieder erstaunt, ist die Tatsache, wie sehr und perfekt man „dem Deutschen“ das schlechte Gewissen eingepflanzt hat, egal, worum es geht. Hier waren und sind noch immer wahre Profis am Werk.
    Während die Herrschaften „da oben“ die globale Vergrößerung ihrer Marktanteile planen, lachen sie sich mit Sicherheit über den „kleinen Mann“ kaputt …

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