Adventskalender – Nachtrag zum 18. Türchen – Eynes meysters hant – Schreiben abseits der Millionen – trotzdem unbezahlbar


Dieser Text wurde im Jahr 2012 gechrieben, nicht auf irgendeinen Beschreibstoff, sondern am Bildschirm, wo mir beim Schreiben ein digital erzeugtes weißes Blatt von etwa dem Format DIN-A4 simuliert wird, und wenn ich auf der Tastatur einen Buchstaben anschlage, erscheinen auf diesem simulierten Blatt die entsprechenden Buchstaben in der Drucktype Times New Roman 12 Pica groß. Fast alle Vorgänge des Schreibens sind automatisiert, und in der Automatisierung steckt Expertenwissen, beispielsweise des Schriftgestalters der Times New Roman, Stanley Morison. Er hat sie 1931-32 im Auftrag der Londoner Times gestaltet, mit der Vorgabe, die Schrift solle „einfach, mannhaft und englisch“ wirken. Zu lesen ist dieser Text nach seiner Veröffentlichung im Teestübchen jedoch in Open Sans. Die Schrift ist im Jahr 2010 vom Schriftdesigner Steve Matteson für Google entwickelt worden. Ziel war eine gut auf Bildschirmen lesbare Schrift mit einer freundlichen Ausstrahlung.

Ich tippe einen Text grundsätzlich nicht in Open Sans. Bei der Veröffentlichung wird er durch die Blogsoftware von Times New Roman in Open Sans umgewandelt. Das ist ein Transformationsprozess; der Text wird mir als Autor dadurch entfremdet, was mir eine leichtere Beurteilung und Korrektur erlaubt. Auch das ist Expertenwissen. Weitere Experten sind ungezählte Typographen und Programmierer, durch deren Arbeit die Automatisierung des Schreibens überhaupt erst möglich wurde.

Dem Schreiber sowie den Lesern dieses Textes stehen Heerscharen von Experten bei, wobei längst nicht alle genannt sind. Wir bedienen uns also einer Technik, von der wir überwiegend keine Ahnung haben, benutzen dazu noch Programme, die erst ermöglichen, dass wir im Internet publizieren und lesen können. Das alles gehört uns nicht. Bleibt nur ein kleiner Rest des selbst gemachten: Der Inhalt dieses Textes. Ihm liegt geistige Arbeit zugrunde. Der Text aber gewinnt seinen Sinn erst durch den verständigen Leser. Das halbiert meinen Anteil am Text. Da sowohl geistige Arbeit wie das Ergebnis dieser Arbeit immateriell sind, zudem nur mit geliehenen Kräften möglich wird, kann man mit einem solchen Text auch nicht handeln, sondern bietet ihn kostenfrei an.

Eine handgeschriebene Fassung dieses Textes dagegen würde etwas kosten, denn sie bestünde aus Material. Man könnte sie anfassen, beliebig lagern, einen Fisch darin einschlagen, ein Anstreicherhütchen daraus falten und vieles mehr. Der Wert steckt demnach nicht unbedingt im Inhalt des Textes, sondern ist Bestandteil seiner materiellen Form. Material altert, und manchmal steigert das Altern eines Textes den Wert.

Vor über 1300 Jahren wurde das älteste Buch Europas, der St. Cuthbert Gospel, mit der Hand auf Pergament geschrieben. Das Buch gehörte vermutlich dem Heiligen Cuthbert, weil man es im Jahr 698 mit ihm begraben hat. Entdeckt wurde das Buch 1104 in der Kathedrale von Durham, als man den Heiligen Cuthbert wegen eines Wikingerangriffs aus der Gruft holen und umbetten musste. Das noch heute gut erhaltene Buch ist eine Abschrift des Johannes-Evangeliums, geschrieben in Unzials, der Vorform der Carolingischen Minuskel, von der unsere Kleinbuchstaben abstammen. Der St. Cuthberg Gospel hat 92 Seiten und ist nur 9,2 x 13,8 Zentimeter groß, etwas kleiner als eine Karteikarte DIN-A6 (10,5 x 14,8). Man kann das Buch bequem in eine Hand nehmen.

Schon nach seinem Entstehen war es wertvoll. Wer damals ein derartiges Buch ausleihen wollte, musste „gewaltige Pfänder“ hinterlegen, schreibt der Paläograph Wattenbach, ganze Schafherden oder Ländereien. Im April 2012 wurde das älteste Buch Europas für 11 Millionen Euro an die British Library verkauft. Zuvor war es im Besitz des Jesuitenordens gewesen und hatte sich als Dauerleihgabe schon in der Nationalbibliothek befunden. Offenbar braucht der Jesuitenorden Geld.

Welche Erkenntnis lässt sich aus der zugegeben lückenhaften Gegenüberstellung dieses digital erzeugten Textes hier und dem St. Cuthberg Gospel gewinnen? Ganz offenbar ist man als Internetautor etwas ganz anderes als ein Autor oder Schreiber der Buchkultur. Indem wir uns vom wertvollen Material verabschiedet haben, sind wir eine neue Erscheinungsform der Schreiber.

Ein Text im Internet unterscheidet sich ganz wesentlich von einem gedruckten oder handgeschriebenen Text. Er ist verformbar, kann jederzeit geändert werden oder sogar ganz verschwinden. Das Verfassen dieser Texte ist keine Auseinandersetzung mit Material mehr. Es fehlen die Zeitdimension und ein handelbarer Wert. Das ist der Verlust, das Opfer, das wir der neuen Technologie bringen müssen. Aber dieser Verlust wird ausgeglichen durch die Leichtigkeit, mit der man schreiben, publizieren und korrigieren kann. Ein weiterer Gewinn steckt in der sozialen Interaktion. Man muss nicht in eine Gruft steigen, um einen alten Schinken zu lesen, dessen Autor längst tot ist und nicht mehr zu seinen Texten befragt werden kann, sondern ruft einfach eine Internetseite auf, liest und schreibt gegebenenfalls einen Kommentar, tritt im Idealfall mit dem Autor in eine Sorte schriftliches Gespräch. Der wiederum wird angeregt, seinen Text noch einmal kritisch zu überprüfen, vielleicht zu verteidigen oder sogar zu korrigieren. Auf diese Weise schulen sich Leser wie Schreiber. Schreiben im Internet ist ein sozialer Akt des freiwilligen Lernens, abseits von Schule und Universität. Zwischen Schreiber und Leser fließt soziale Energie.

Das ist das totale Gegenteil vom St. Cuthberg Gospel. Mein Text oder jeder andere Internettext und das 11 Millionen teure Buch bilden die Extreme ab, die derzeitigen Eckpunkte einer Jahrtausende alten Schriftkultur. Ursprünglich war auch unsere Schriftkultur elitär. Der Zugriff auf ein Buch war den meisten verwehrt. Noch Martin Luther hatte in Erfurt die Bibel „angekettet gefunden wie ein Hofhund.“ Die dummen Gläubigen dachten, die Bibel müsse angekettet sein, weil sie so gefährlich ist, sahen in ihr eine Sorte Zauberbuch. In Wahrheit ging es um Deutungshoheit der herrschenden Kirche und um Angst vor Diebstahl. Diese Deutungshoheit, die Macht über die Köpfe, beansprucht ein Schreiber im Internet nicht für alle, sondern nur für sich. Er teilt seine freien Gedanken und sein Wissen mit und nimmt freie Gedanken und fremdes Wissen aus dem Internet auf. In der Buchkultur bestimmen nur einige wenige, was öffentlich diskutiert wird, in der Internetkultur erobern sich die Menschen die Herrschaft über den eigenen Kopf zurück. Wir stecken mitten in einer geistigen und kulturellen Revolution. Unser Schreiben abseits des Geldes bedeutet: es ist unbezahlbar.

14 Kommentare zu “Adventskalender – Nachtrag zum 18. Türchen – Eynes meysters hant – Schreiben abseits der Millionen – trotzdem unbezahlbar

  1. Ein schönes Plädoyer für die beiden Extreme. Ein für mich besonderes Buch in der Hand zu halten, bedeutet mir ebenso viel, wie ein handgeschriebener Brief. Beides bewahre ich über lange Jahre auf und genieße darin zu blättern oder die nur für mich bestimmten Worte zu lesen. Lange habe ich mich, arrogant und auch dumm, sämtlichen Blogs verschlossen. Man liest Bücher, nicht irgendetwas, das schnell mal eben ins Internet geworfen wurde. Bis ich selbst hier landete und merkte, dass in all den Texten hier so viel mehr Herzblut, Arbeit und Fürsorge steckt, als ich dachte. Ein neues Medium, aber sich kein schlechtes.

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    • Rückblickend wissen wir heute, dass die Erfindung des Buchdrucks das Mittelalter beendete und die Neuzeit anbrechen ließ. Das brachte die Trennung von Religion und Wissenschaft und die Aufklärung. Eine ähnliche kulturelle Revolution erlben wir heute, und wir Blogger stecken mittendrin und gestalten sie mit. Die Folgen können wir noch nicht abschätzen, nur unsere Sache so gut wie möglich machen, also wie du sagts, Arbeit, Sorgfalt und Herzblut hineinzustecken.

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  2. Mich fasziniert die Bandbreite der verschiedenen Stile und auch, Welcher Mensch hinter dem Werk steht, das macht das Erlebnis um so eindrucksvoller.

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    • Hallo, liebe Ann, schön, dass du zurück bist. Ich hatte dich schon vermisst. Du meinst die Schriftdesigner? Die meisten Blogger benutzen eine Schrift und verschwenden keinen Gedanken daran, dass die jemand gestaltet hat und welche Ziele er verfolgte.

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      • Danke, lieber Jules, dass Du mich vermisst hast. Manchmal muss man auch Krisen nebenbei meistern 😉

        Ich bin Verdana Fan. Jetzt interessiert mich natürlich, wer, wann und warum diese Schrift designt hat.

        Ich lese Deine Beiträge auch sehr interessiert, denn Du kommst wissensmässig aus einer Richtung, die mir fremd ist.

        Und die Kommentare empfinde ich persönlich als sehr hilfreich, wenn ich manchmal etwas nicht verstehe oder andere es völlig anders verstehen. Ich finde auch, dass Texte davon profitieren.

        PS: Ich kann die Schrift in meinem Blog gar nicht ändern, nur wenn ich die Bezahlversion benutze.

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        • „Krise“ klingt heftig. Hoffentlich ist alles wieder gut.
          Die Verdana ist auch eine Bildschirmschrift. Gestaltet wurde sie 1996 von Matthew Carter für Microsoft. Verdana ist auch die Grundschrift im Teppichhaus Trithemius. Die Schrift hat einen Gestaltungsfehler bei den dt. Anführungszeichen.

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          • Krisen sind halt Teil des Lebens, auch wenn sie so manchen Teppich zeitweise unter den Füssen wegreissen.

            Ich empfinde Verdana als zeitlos schön, schnörkellos, rund und eckig zugleich….die Schrift wirkt beruhigend. Times Roman wirkt auf mich belehrend! Überhaupt hat der Schrifttyp für mich Einfluss auf mein Leseverhalten.

            Danke für die Info bezüglich des Schrifttyps. Jetzt kann ich Wissen mit Empfinden paaren.

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  3. Jetzt ist mir endlich klar, dass ich für den Blödsinn, den ich ständig schreibe, nicht allein verantwortlich bin, sondern dass eine Heerschar von Programmierern und Technikern auch ihren Anteil daran hat. Geahnt habe ich es irgendwie schon immer … 🙂

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  4. Schreiben abseits des Geldes… machen wir uns nichts vor, unser Medium ist nicht losgelöst von ökonomischen Zwängen und besteht nur, weil es Einnahmen generiert. Die Diskussion dazu läuft ja auch schon längst, wir sind es, die kostenlos Daten, ob personenbezogen oder als Inhalt, zur Verfügung stellen, die von Dritten wirtschaftlich genutzt werden. Die mittelalterlichen Maler bekamen auch nur ihr Material bezahlt, weshalb sie beim Einsatz von Gold – notwendig für die Abbildung von Heiligen – auch schon mal mogelten. Das entstandene Kunstwerk aber ging in das Eigentum des Auftraggebers über, der letztlich den Gewinn aus der Werksteigerung davontrug. Deshalb denke ich, haben wir es mit zwei Aspekten zu tun: 1. Wir bekommen die Chance, uns auszutauschen, Inhalte zu veröffentlichen und zu diskutieren.
    2. Damit sorgen wir dafür, dass dieses Medium Geld abwirft, sonst wirft es uns ab.

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    • Mit seinen Daten bezahlt jeder Nutzer des Internets. Ich meine den Unterschied zwischen Lohnschreibern und Bloggern. Dass wir von einer Firma wie wordpress abhängen, ist mir klar, zumal ich gerade erlebt habe, wie mein erstes Blog mitsamt Plattform Blog.de einfach abgeschaltet wurde. Stattdessen gibt es jetzt eine peinliche Seite mit Werbeblogs. Ich habe zwar alle Texte nach Trithmius.de transloziert, aber fast alle 1400 Texte enthalten links, die jetzt fälschlich auf diese Werbeblog-Sammlung verweisen, womit die Betreiber natürlich bei ihren Werbekunden prunken und Kasse machen.

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