Warnung vor zirkulierenden Informationen – Nicht lesen!

Mein lieben Damen und Herren,

das Lesezirkelangebot in Wartezimmern habe ich schon immer verschmäht, aus vier Gründen: 1. ekelt bzw. ödet mich der Inhalt der meisten Zeitschriften an, 2. kann ich nicht leiden, habe ich trotzdem gerade einen Artikel zu lesen begonnen, aufgerufen zu werden und einen angelesenen Textfetzen im Kopf zu haben, 3. ergibt sich weiter unten, und 4. frage ich mich, wie Ärzte verhindern, dass ihre Patienten sich über die Zeitschriften gegenseitig anstecken. Schließlich werden viele Krankheiten über Tröpfchen- oder Schmierinfektionen übertragen.

Weil ich immer bereit bin, an das Gute im Menschen zu glauben, bin ich erst spät auf die naheliegende Lösung meiner Frage gekommen: Die Ärzte tun gar nichts gegen die zirkulierenden Bazillenmutterschiffe, es ist ihnen egal bis recht. Sie selbst fassen die Lesezirkelhefte sowieso nicht an, wissen also gar nichts über ihren Zustand, ob das Papier wellig ist, weil einer saftig reingeniest hat oder ob die unteren Ecken der Blätter speckig geworden sind von vielen beleckten Fingerspitzen. Es ist gewiss Aufgabe der Reinigungskraft, nachdem sie gerade das Klosett geputzt hat, die herumliegenden Zeitschriften zu sammeln, zu stapeln und bereit zu legen für die nächsten Ansteckungsopfer, bis die Lesezirkelmappen abgeholt und an die nächste Praxis geliefert werden. So gesehen ist die Lesezirkelmappe in zweifacher Hinsicht ein soziales Verbreitungsmedium, es verbreitet gedruckte Information sowie Viren, Bakterien und Pilze. Demgemäß rät eine Frau Simone Weikert-Asbeck vom Lübecker Institut für Medizinische Mikrobiologie und Hygiene, sich stattdessen ein Buch von zu Hause mitzubringen, ein vernichtender Vorschlag, nahezu ein Anschlag auf die keimkommunikative Funktion der Lesezirkelmappen.

Die Sinnesorgane des Menschen sind - das Auge, das Ohr, die Nase - Foto: Jvdl

Die Sinnesorgane des Menschen sind – das Auge, das Ohr, die Nase – Foto: JvdL

Ich habe schon lange eine dazu passende Theorie, wie der Mensch zum Sozialwesen geworden ist. Das ungehemmte Schnäuzen, Prusten, Husten und Spucken des kranken Menschen ist eine archaische Form der Mitteilung. Irgendwann in grauer Vorzeit haben Viren und Bakterien nur jene Wirtsträger überleben lassen, die das Bedürfnis haben, auch die übelste Pestilenz mit anderen zu teilen. Die Menschen rückten also zusammen, bildeten soziale Gruppen, um das Überleben ihrer Krankheitserreger zu sichern.

Inzwischen ist es ja Mode geworden, dass Patienten gleich nach dem Betreten des Wartezimmers ihr Smartphone herausholen und auf den Bildschirm starren. Wenn das um sich greift, können die Ärzte ihr Lesezirkel-Abo kündigen. Weil Smartphone zwar ständig befummelt werden, also voller Keime sind, aber selten bis nie in die Hände eines anderen geraten, taugen sie als Bazillenmassenmedium gar nicht. Überdies wird jeder sogleich bestätigen, dass Smartphone zwar Menschen über große Entfernungen hinweg verbinden, Krankheitskeime und Mitmenschen in der unmittelbaren sozialen Umgebung aber isolieren und vereinzeln. Doch was den Menschen betrifft, ist die Lesezirkelmappe nicht besser. Selbstverständlich isoliert und vereinzelt auch das Lesen einer Illustrierten.

Warum aber sollte der Mensch überhaupt in Wartezeiten lesen? Warum nicht einfach ein Loch in die Luft gucken und ein bisschen selbstständig denken? Da sind wir beim 3. Grund, warum ich die Lesezirkelmappen verschmähe. Schopenhauer sagt:

„Das viele Lesen nimmt dem Geist alle Elastizität, wie ein fortdauernd drückendes Gewicht sie einer Springfeder nimmt, und es ist, um keine eigenen Gedanken zu haben, das sicherste Mittel, daß man in jeder freien Minute sogleich ein Buch zur Hand nimmt.“

An so was denkt eine Frau Simone Weikert-Asbeck vom Lübecker Institut für Medizinische Mikrobiologie und Hygiene natürlich nicht, weil sie den Kopf voll Bücherwissen hat. Zum Glück achtet das Teestübchen Ihres Vertrauens auf geistige Hygiene. Und wenn ich mir dafür selbst ins Knie schießen muss.

In diesem Sinne – bleiben Sie elastisch und lesen Sie wenig,
beste Grüße, Ihr
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