Gekritzelt – Gruseliges

Wenn ich vom Lindener Markt kommend mit dem Rad beim Café K in die Davenstedter Straße einbiege, ist seitlich der Straßenbahnschienen zu wenig Platz, so dass ich lieber ein Stück zwischen dem Gleis fahre. Dann stelle ich mir vor, links und rechts der Schienen wäre ein Abgrund. Es ginge da gut 100 Meter hinunter. Es gibt vielleicht todesmutige junge Männer, solche, die Downhillrennen bestreiten, die da fahren könnten, ohne zu zaudern und ins Schlingern zu geraten. Aber ich könnte das nicht, würde selbst nicht wagen abzusteigen und zu schieben, obwohl die Spurweite der Stadtbahn Hannover, also der Luftraum zwischen den Schienen 1435 Millimeter beträgt. Da ist Platz genug.
*
Ebenso gruselig wäre die Umsetzung einer Idee, die mir heute Morgen beim Radfahren kam. Ich trug die Winterjacke, die einen hohen Kragen hat, so dass meine Ohren daran scheuern, was so angenehm tönt wie zerbröselndes Styropor. Da mir auf dem Rand der Ohren blöderweise Haare wachsen, die überdies stachelig sind, wenn sie sich nach Rasur erneut hervor schieben, dachte ich, meine Haare könnten wie die Nadeln beim Plattenspieler sein und im Kragen wären Tonrillen, so dass ich wenigstens eine Melodie höre. Dann allerdings müsste man beim Kauf aufpassen, damit man sich nicht vergreift. Pech wäre, der Kragen würde nur Rudimente von Helene Fischers „Atemlos durch die Na … atemlos durch die Na …“ spielen, und so weiter und so weiter, bis mir die Ohren bluten.
*
„Kostenlose digitale Zeitungen und Magazine im ICE Portal!“ offeriert mir die Deutsche Bahn. Da fällt mir auf, dass ich das DB-Magazin Mobil schon länger nicht gesehen habe. Die Recherche ergab: Die Printausgabe DB Mobil wurde im Januar 2023 eingestellt. Als letzte Papier-Ausgabe lag die Dezember-Nummer von 2022 in den Zügen. Die gedruckte DB Mobil wurde von einer Tochterfirma von Gruner+Jahr produziert und hatte eine Druckauflage von 463.000. Man könnte dem hinterherweinen, aber ich hänge ja schon mit blutenden Ohren in Hundert Metern Höhe zwischen den Schienen der Üstra-Linie 9 fest.

Ein beinah perfekter Sommertag

Gut 25 Jahre habe ich in Aachen gelebt. Darum bin ich durchaus an Touristen gewöhnt. Zu jeder Jahreszeit, bei jedem Wetter hat man sie in der historischen Altstadt um Stadtführer stehen sehen und gaffen. Doch in letzter Zeit schwärmen solche auch durch Hannover-Linden. Sie kommen garantiert nicht von weit her, sind vermutlich überwiegend aus Hannover und wollen mal sehen, wie es ist im angesagtesten Stadtteil Hannovers. Es gibt hier eigentlich nicht viel zu sehen, es geht mehr um Ideelles. Beworben werden die Linden-erleben-Führungen so:

„Erlebt mit uns Hannover-Linden kulturell und lebensnah! Einst Arbeiterviertel mit eigensinnigen Bewohnern avanciert der Stadtteil heute zum Szenebezirk für Nachtschwärmer und Kreative. Diesen Entwicklungen spüren wir auf unseren Führungen durch Linden nach. Auf einem unterhaltsamen Rundgang taucht ihr in Geschichte, Lebensart und Kultur dieses belebten Viertels ein!“

Hallo?! Gehts noch?

„Unsere City-Guides, die die Touren und Events begleiten, nennen wir liebevoll unsere Stadtgören und Kiezbengel. Sie sind das Herzstück von Living Culture Tours und genau mit der richtigen Prise Verrücktheit gesegnet, die wir brauchen!“

“Do maachen se en Kölle kei Finster för op“, meint in meiner Heimat etwas Belangloses, wenn ich etwa wüsste, wie die erste Briefmarke Deutschlands heißt. Für dieses Wissen öffnen die Kölner nicht mal ein Fenster. Etwas anderes wäre es, wenn ich beispielsweise einer Frau meine Briefmarkensammlung zeigen und stolz den Schwarzen Einser präsentieren könnte. Das würde ich aber nie machen. Wenn ich mich auf schräge Weise interessant machen wollte, könnte ich mir auch eine tote Fliege an den Lidrand kleben, dass es aussieht, als würde die Fliege von meinem Augenwasser trinken.

Gebäude in Linden – Foto: JvdL (größer: Klicken)

Es hätte ein fast perfekter Sommertag in Linden sein können. Fräulein Schlicht trug ein hübsches Sommerkleid und hatte mir eine leckere Linsensuppe serviert. Weil sie noch zu heiß war, schrieb ich derweil etwas Belangloses in mein Notizbüchlein. Wenn ich hochschaute, hatte ich die prächtige Fassade eines Gründerzeithauses vor Augen. Im Vorgarten hatten einige Frauen sich zum ausgedehnten Frühstück versammelt. Ich hörte sie plaudern, denn Autoverkehr gibt’s hier nicht, nur ab und zu zieht stoisch eine Straßenbahn vorbei.
„Man kann durchaus schlechter sitzen als hier“, schrieb ich in mein Büchlein und arrangierte die putzigen Salz- und Pfeffergläschen für ein Foto.

Plötzlich tauchte eine oben angedrohte „Stadtgöre“ mit einer Touristengruppe auf. Man versammelt sich schräg gegenüber vor dem Café K, und dann schwärmt die „Prise Verrücktheit“ vom Betreiber, dem gelernten Konditor Ralf Schnoor. Der berühmte Mann habe bei „Wer wird Millionär“ die Millionenfrage geknackt, nämlich die nach dem „Schwarzen Einser“, habe die Antwort gewusst, aber der Show wegen noch seinen Telefonjoker angerufen. Als erstes habe Schnoor angekündigt, von der Million seinen Mitarbeitern das Gehalt zu erhöhen und … dass er zu jedem Kaffee eine selbstgemachte Praline kredenzen würde, werde man gleich erleben.

Nach einem Schluck Espresso im Stehen mit Praline bewegte sich die Horde herüber und scharte sich um mich.
„Und hier vor dem Lokal „Fräulein Schlicht“ sitzt ein Mann, der gerade was in sein Notizbuch schreibt.“
„Was schreibt er denn?“, fragte ein älterer Mann in beigen Sachen.
„Was schreiben Sie denn?“
„Das geht keinen was an oder glauben Sie, dass ich zum Inventar gehöre, dass mich Fräulein Schlicht dafür bezahlt, vorm Haus zu sitzen und was ins Büchlein zu schreiben?“
„Nicht?“
„Nein. Ich esse hier meine Suppe.“
„Vermutlich hat der Mann gar nichts aufgeschrieben, sondern nur Maumännchen gemalt.“
„Doch! Ich kann es nur kaum noch lesen. Niedergang der Handschrift, Sie verstehen?“
„Jetzt zieren Sie sich nicht so und lesen Sie schon!“
Ich steckte die Nase ins Büchlein und konnte mein Gekrakel kaum entziffern:

Die Stadtführerin wird von weißen Hornochsen begleitet.

Mist, verlesen!

Die Stadtführerin wird von einer weißen Hose begleitet.

Ach nein, ist wieder falsch!

Die Stadtführerin ist mit einer weißen Hose bekleidet.

So ist’s recht.
„Vielen Dank, das genügt. Bitte entschuldigen Sie die Störung. Es war nur, weil an Ihrem Auge eine Fliege sitzt. Das ist ja so interessant! “