Prima auf’s Pult gehüpft

Ich bin nicht nur umgezogen, ich habe auch meinen Keller entrümpelt, habe nur einige vor 14 Jahren in Aachen sorgsam zugeklebte Kartons zurückbehalten. Einen der Kartons habe ich gestern aus dem Keller in die Wohnung getragen, geöffnet und fand Dokumente und Fotos, die ich verloren glaubte. Sie betreffen Erinnerungen, die mir schon lange nebulös geworden waren, weil die Beweise fehlten. Jetzt liegt alles vor, und ich schätze mich glücklich, wieder Dokumente aus meiner Vergangenheit zu besitzen. Zu einem Vorfall aus der Zeit als Lehrer fand ich ein Fotodokument und den hübschen Begleitbrief einer Schülerin. Doch zuerst die Vorgeschichte:

Das Dorf, auf dem ich aufgewachsen bin, bot uns Jugendlichen wenig. So verbrachten wir einen Großteil unserer Zeit bei Karl, einer Kneipe, deren wahren Namen ich gar nicht kenne. Das Akronym „BKS“ (eigentlich Sicherheitsschließanlagen) bedeutete im Dorf: „Bei Karl Saufen.“ Zu vorgerückter Stunde waren allerhand akrobatische Übungen beliebt; unter anderem krochen wir von der Tischplatte aus unter einem schweren Eichentisch durch, ohne den Boden zu berühren. Auch sprangen wir aus dem Stand auf die Theke. Wer nicht so hoch kam, sprang wenigstens auf die Thekenstange. Hallo? Wir hatten nicht mal eine Turnhalle!

Als ich Jahre später junger Klassenlehrer an einem Aachener Gymnasium war, kündigte ich an, nach der Zeugnisausgabe vor den großen Ferien würde ich aus dem Stand auf’s Pult springen. Die Schülerinnen/Schüler reagierten ungläubig, doch ich war sicher, das zu können, schließlich war das Lehrerpult lange nicht so hoch wie Karls Theke. Und natürlich würde ich, anders als damals in Karls Kneipe, bei der Zeugnisausgabe nüchtern sein, was man von einer verantwortungsvollen Lehrkraft erwarten kann. Sorry, der Satz ist mir stilistisch verunglückt: Natürlich habe ich damals bei Karl keine Zeugnisse ausgegeben. Und an mein Lehrerdasein war noch kein Denken. Ich war Schriftsetzer.

Aber jetzt: Der von allen langersehnte letzte Schultag kam, ich hatte zur Feier des Tages eine Krawatte umgebunden und teilte die Zeugnisse aus. Hernach kündigte ich meinen Hüpfer aufs Lehrerpult an, holte Schwung, und indem ich sprang, gingen in der Klasse einige Fotoapparate hoch und hielten’s im Bild fest. Die Schülerin Mira, an die ich mich leider nur vage erinnern kann, schrieb mir einen Brief, in den sie den Bildbeweis eingelegt hatte:

Das Seufzen der Lehrkräfte

Kollegin Andrea Heming schreibt hier in ihrem Kommentar zur radikalen Kleinschreibung: „Vielen meiner Schülerinnen und Schüler wäre mit dieser Eindeutigkeit geholfen. Aktuell lösen sie ihre Rechtschreibprobleme durch den auch nicht uninteressanten Ansatz Wichtige wörter Groß zu schreiben und unwichtige Klein.“ Ihre Schülerinnen und Schüler vollziehen offenbar nach, womit das Elend angefangen hat. Die Orthographie des Deutschen war in den Anfängen des Barocks nicht einheitlich geregelt. So wird die Klage des Schreibmeister Hans Fabritius im Jahr 1531 in seinem Büchlein: „etlicher gleichstymender worther, aber ungleichs Verstandes“ verständlich:

    „Ich weis schier nicht, was daraus werden will zu letzt, ich zu meinem theyl wais schier nicht, wie ich meine Schulers leren sol, der vrsachen halben, das yetzunder, wo ynser drey oder vier Deutsche schreibers zusamen koment, hat yeder ein sonderlichen gebrauch. Der ein schreibt ch, der andere c, der dritte k, wollte Gott, dass es darhyn komen möchte, das die Kunst des schreibens einmal wieder in rechten prauch komen möchte.“

An diesem Stoßseufzer ist der Wunsch nach einer Einheitsregelung ablesbar. Gleichzeitig zeigt sich, dass die Orthographie noch in den Händen der Schreibmeister lag, das heißt, das Formen der Buchstaben (Kalligraphie) und der Wortgestalt (Orthographie) waren noch eins. Ähnliches galt für die Drucker und Schriftsetzer. Sie entschieden, wie ein Druckwerk auszusehen hatte (Typographie) und wie die Schreibweise zu sein hatte (Orthographie).

Bei den barocken Schreibmeistern setzte sich die Mode durch, wichtige Wörter mit besonders verzierten Anfangsbuchstaben zu schreiben. Das betraf zunächst nur den Namen Gottes, wurde dann ausgeweitet auf die Heiligen und auf die kirchlichen und weltlichen Fürsten. Später schrieb man auch andere wichtige Wörter, die Hauptwörter im Text, und Satzanfänge groß. Hierzu mögen ökomische Gründe beigetragen haben. Schreibmeister wurden nach Zeilen bezahlt, und verzierte Buchstaben nahmen mehr Platz ein als kleine, machten also die Zeile schneller voll. Die verzierten Buchstaben waren hochgeschnörkelte und vergrößerte Kleinbuchstaben. Man druckte das Deutsche in Fraktur und und schrieb deren Handschriftvariante Kurrent. Jacob Grimm führt die Entstehung der von ihm abgelehnten Großschreibung gänzlich auf die Fraktur zurück.

In den ersten deutschen Grammatiken wurden die willkürlichen Hauptwörter dann fälschlich mit dem lateinischen Substantiv gleichgesetzt. Das erst machte eine Regelung der Groß- und Kleinschreibung möglich. Allerdings gelang es dem Grammatiker Justus Georg Schottel im Jahr 1663 beim Druck seiner Grammatik „Ausführliche Arbeit von der Teutschen Haubt Sprache“ nicht, den Drucker zu überzeugen, seine Regelung auf den Text anzuwenden. Es dauerte bis zum Jahr 1901, dass Konrad Duden im Auftrag Bismarcks eine Einheitsorthografie für das Deutsche Reich vorlegte. Konrad Duden kommt das Verdienst zu, die Herkulesaufgabe bewältigt zu haben und Ordnung in diesen Wust an Willkür von Schreibweisen zu bringen, in die „wertlosen Einfälle von Schreiberknechten“, wie der dänische Linguist Otto Jespersen schreibt, aber auch zu wählen aus der Fülle der Varianten in den Hausorthographien der Kontore, Druckereien, Schulen und Universitäten. Bei den späteren Auflagen schalteten und walteten die jeweiligen Dudenredaktionen höchst eigenmächtig und machten die Regeln der Groß- und Kleinschreibung immer komplizierter.

Es kamen Spitzfindigkeiten dabei heraus wie „Auto fahren“ aber „radfahren“ und ein immer komplizierteres Regelwerk der Groß- und Kleinschreibung. Schon in den 1920-er Jahren hatte der Realschullehrer Josef Lammertz mit dem „Testament einer Mutter“, dem berüchtigten „Kosogschen Diktat“, den Nachweis angetreten, dass niemand diese Regeln beherrschte. Wen es interessiert, das Diktat und seine skurrile Rezeptionsgeschichte gibt es im Teppichhaus Trithemius oder in meiner „Buchkultur im Abendrot“ – ein prima Weihnachtsgeschenk übrigens.

Die Dänen schafften die Groß- und Kleinschreibung nach dem 2.Weltkrieg ab; in Deutschland wurde die Abschaffung immer wieder kontrovers dikutiert, wobei die Gegner den Untergang des Abendlandes heraufbeschworen. Bei der jüngsten Orthografiereform hat man sich an die Abschaffung nicht herangetraut. Weil es auch göttliche Hilfe nicht gibt, wie Hans Fabritius erhofft, müssen unsere Lehrerinnen und Lehrer weiterhin viel Mühe und Lebenszeit darauf verwenden, ihren Schülern die „wertlosen Einfälle von Schreiberknechten“ beizubringen.

Episode aus dem Lehrerdasein (5) – Kollegentratsch

Zeugniszeit. Frau Ziegmann, eine neue Kollegin, die gerne ein bisschen hilflos tut, muss ein Zeugnis neu schreiben, weil nachträglich eine Note geändert wurde. Sie steht in der Tür zum Lehrerzimmer und ruft verzweifelt: „Ich kann nur mit dem spitzen Kuli schreiben, und der liegt zu Hause auf meinem Schreibtisch!“
„Soll ich Ihnen meinen Füller leihen?“, frage ich.
„Das geht doch nicht“, sagt sie.
„Wieso? Stimmt was nicht mit Ihrer Feinmotorik?“
„Das ist aber jetzt unverschämt!“, entgegnet sie.
„Den Druck einer zarten Damenhand hält mein Füller jederzeit aus“, sage ich und reiche ihr meinen Füller.
Sie nimmt ihn und schreibt ihr Zeugnis.

Vertraulich sagt Kollegin Gisela, die Ziegmann und Kollege Werner seien neuerdings ein Herz und eine Seele. Werner sei ja so geduldig und würde den ellenlangen Auslassungen der Ziegmann interessiert lauschen.
„Dann haben sich zwei gefunden“, sage ich, „solche elend langen Erzählungen sind ja auch seine Spezialität.“
„Ja“, sagte Gisela, „wie die vom Igel in der Garage und all den rätselhaften Flohbissen, mit denen alle Familienmitglieder bis zu den Knien aufwärts geplagt waren, unerklärlich zunächst, bis man den Igel als Wirtstier enttarnt hat.“

(Tagebuchnotiz von 1993)

Episode aus dem Lehrerdasein (4) – Notenverhandlung

Ein Freund schrieb mir von seiner Ärztin. Ihr in unseren Breiten ungewöhnlicher Name erinnerte mich daran, dass ich als Lehrer zwar nicht sie, aber vermutlich ihren Ehemann und den Sohn gekannt habe. Ich unterrichtete ihn in Deutsch. Leider war der recht begriffsstutzig und auch nicht besonders lernfreudig, eher unwillig, so dass ich nicht umhin konnte, seine Leistung mit Mangelhaft zu bewerten. Darauf sagte sich der Vater zu meiner Sprechstunde an. Ohne sich für meine Einlassungen zu interessieren, wie etwa der Sohn seine Leistungen verbessern könnte, sagte er: „Für mich als Professor der Augenheilkunde ist es undenkbar, dass mein Sohn in Deutsch eine Fünf bekommt.“ Ich sagte: „Ich benote ja nicht Sie Professor der Augenheilkunde, sondern die Leistung Ihres Sohnes, und die ist leider mangelhaft.“

Wir schieden nicht einvernehmlich. Er kündigte an, sich diesbezüglich an den Direktor zu wenden, was ihm aber nicht half. In der Notengebung ist der Direktor einer Schule nicht weisungsbefugt. Ich hatte ja schon erlebt, dass Eltern die Noten ihrer Kinder gesundbeten wollten, aber dass Eltern aus ihrer gesellschaftlichen Stellung den Anspruch auf gute Noten für ihre Kinder herleiten, war mir zuvor nicht untergekommen. Derlei Vorstellungen existieren vermutlich in den Köpfen bestimmter Eltern, aber es ist nicht üblich, sie so dreist zu äußern.

Für Lehrpersonen ist es überdies gefährlich, sich auf derlei Ansinnen einzulassen, denn es spricht sich herum. Man gerät in den Ruch, leicht einzuknicken, und ruft Nachahmer hervor. Ich habe erlebt, dass ein Kollege in der Zeugniskonferenz ein Ausreichend in seinem mündlichen Fach in ein Befriedigend geändert hat, weil ein juristischer Widerspruch der Eltern gegen die Vier vorlag. Ihr Kind benötigte einen Ausgleich in einem wissenschaftlichen Fach, um versetzt zu werden. Den Grund für sein Einknicken nannte der Kollege offen. Er hatte das aufreibende Widerspruchsverfahren gegen eine Note schon einmal durchgemacht und scheute den emotionalen Stress und den Arbeitsaufwand. „Ich verderbe mir sonst die ganzen Ferien.“ Sprachs mit zitternden Fingern und setzte die Note herauf.

Episoden aus meinem Lehrerdasein (3) – Die Liebe der Frauen (Tagebuchfunde)

Bei der Lehrer- und Lehrerinnenkonferenz kam ein Wort kam aufs Tapet, das meinem Empfinden nach einen unschlagbar oberen Platz auf der Hässlichkeitsskala besetzt: „Ranzenwache.“ Eine „Ranzenwache“ einzurichten empfahl eine neue Kollegin, weil angeblich etwas aus vor Klassenräumen abgelegten Ranzen gestohlen worden sei. Diese Frau ist genau der Typ, der solche Wortbildungen transportiert, mir in allem unangenehm, ich glaube, gänzlich durch und durch stockkonservativ und selbstgerecht. Eine Frau, hätte sie die Macht, das ganze Land mit Ranzenwachen überziehen würde.

    Ranzenwache die; -, -n;
    – halten, stehen;
    Landesweite Ranzenwachen;
    Ranzenwachablöung;
    Ranzenwachappell;
    Ranzenwachbataillonskommandeurin;
    Ranzenwachvergehen („Was? Die Kerls haben auf Ranzenwache gepennt!!?“);
    Ranzenwacherschießungskommando

*
Als ich an einem Freitag zu spät zu meiner 5e kam, erwartete mich Johannes B. im Treppenhaus und sagte, heute sei ich nur ein wenig zu spät. Darauf sagte ich: „Du kannst ja mal eine Zu-spät-komm-Statistik der Lehrer machen.“ Da sagt er: „Nee, das mache ich nicht. Da schneiden Sie zu schlecht ab.“

*
Der gleiche Junge lief in der großen Pause neben mir her durchs PZ und sagte mehrmals „cool-cool!“, wobei er mich anstrahlte. Ich frage: „Was meinst du?“
Er: „Ich spiele ja in einer Bigband, und bisher war mein Trompetenlehrer für mich der coolste. Aber jetzt muss ich ihm leider sagen, dass er Konkurrenz bekommen hat.“
„Wer ist es?“
„Ja, Sie!“

*
Die 13-jährige Schülerin Isabel belehrte mich, alle gutaussehenden Jungs seien auf der Hauptschule – denn wenn einer gut aussehe, sei er so von Mädchen umschwärmt, dass er überhaupt keine Motivation habe, sich in der Schule anzustrengen. Deshalb sei er auf der Hauptschule. Wenn er wolle, könne er natürlich auf dem Gymnasium sein, das wolle er aber eben nicht, da er alles Wichtige auch so bekäme: Die Liebe der Frauen.

Episode aus meinem Lehrerdasein (2) – Übelschreibung

In der 8. Klasse, wo ich auf Wunsch der Schülerinnen/Schüler Kalligraphie unterrichte, frage ich gegen Ende der Stunde: „Wer glaubt von sich, eine schlechte Handschrift zu haben?“ Einge melden sich zaghaft, Ich sage: „Dann kommt mal bitte und schreibt mir „Kakographie“ [Übelschreibung] auf’s Blatt, so hässlich ihr könnt!“
Innerhalb kürzester Zeit umringt die halbe Klasse mein Pult und drängelt sich, Kakographie zu schreiben.
„Darf ich mal?“
„Jetzt bin ich dran!“

Ein zweites Blatt wird von einem Schüler begonnen, der vorne beim Pult sitzt, und im Nu ist auch das voll, und noch immer drängeln welche, „Kakographie“ zu schreiben, manche zum 3. und 4. Mal. Sogar das Pausenklingeln wird ignoriert. Ich hätte glatt eine Gebühr erheben können.
„Viel zu schön!“, kritisiere ich, „da sieht man zu viele Elemente der Geläufigkeit. Versucht es mal mit Links!“ Hannah, die Linkshänderin, schreibt dann Kakographie ungelenk mit Rechts. Das ist für mich Rechtshänder seltsam anzusehen.

Erkenntnis: Absichtlich hässlich zu schreiben, ist gar nicht so einfach.

Episode aus meinem Lehrerdasein (1) – Flashback 1993

Während der Kunstdoppelstunde in einer 6. Klasse betrat plötzlich eine Frau Mitte 40 den Klassenraum, nein, sie flatterte herein, eine DIN-A3-Schachtel unterm Arm. Zunächst dachte ich, sie wollte etwas bringen, wie Eltern das schon mal tun, wenn ihre säumigen Kinder die Kunstsachen zu Hause liegen gelassen haben. Sie aber kam zum Pult und sagte: „Guten Tag, Herr van der Ley, ich bin die Mutter von Katharina, ach nein, von Constanze, und ich habe schon mit Ihrem Kollegen, Herrn D., geredet, ob ich …“ Da folgte noch ein Wortschwall, der sich irgendwie um das Wort „Tageslichtprojektor“ gruppierte, aber so recht schlau wurde ich zunächst noch nicht und verstand nicht, was sie eigentlich wollte. Als sie nach drei Minuten ununterbrochenen Redens zum ersten Mal atmete, begann ich mit vorsichtigen Fragen zu erkunden, was ihr auf dem Herzen lag. Denn vorsichtig muss man sein. – Sie war von der Sorte hauchfeine Künstlerin, wie man sie in Japan aus Seidenpapier in Origamitechnik faltet.

Inzwischen hatte sie nicht entsagen können, die Schachtel zu öffnen, worin einigen Folien mit Reproduktionen von Plastiken lagen, und ich verstand, dass sie diese Folien projizieren wollte zu einem Vortrag, den sie „in Siegburg“ halten wollte. Sie wäre einst Kunstlehrerin gewesen, hatte der Kinder wegen (Katharina, Constanze und es gab noch einen jüngeren Sohn) zwölf Jahre pausiert und wollte nun gerne wieder in den Beruf einsteigen. Eine Chance sollte sich mit diesem Vortrag auftun, und sie hatte keine Idee, wie eigentlich ein Tageslichtprojektor funktioniert. Also bot ich ihr an, mit ihr auszuprobieren, ob sich ihre Folien projizieren ließen. Inzwischen hatte ich auch verstanden, dass es ihre eigenen Arbeiten waren, die man auf den Folien sah. Ich bat sie, einige Minuten zu warten, denn die Fünf-Minuten-Pause stand an.

Als es gongte, vergatterte ich die Kinder, nicht mit ihren Cuttern zu spielen, während ich weg wäre. Sie arbeiteten nämlich an Guckkästen. Dann ging ich mit dieser Frau, die sich so rührend hilflos zu geben verstand, dass man ihr nichts abschlagen mochte, mit ihr ging ich hinüber zum Zeichensaal. Vielmehr flatterte sie mir voraus, und wenn ich sie einzuholen versuchte, wurde sie noch schneller. Da sie aber den Weg nicht kannte, musste sie doch gelegentlich auf mich warten. Ich bemühte mich, etwas von meiner Ruhe an sie abzugeben, damit wir einen Zeitrahmen hätten, worin wir synchron wären. Im Zeichensaal warfen wir alle Folien probeweise an die Leinwand, und sie war erfreut, wie einfach das ging. Ich hätte ihr damit mindestens eine schlaflose Nacht erspart, sagte sie. [Fast wörtlich aus meinem Tagebuch vom 19. Januar 1993]

Epilog
Jahre später erfuhr ich, dass sie ehedem Meisterschülerin bei Josef Beuys gewesen war. Sie stieg bald in Aachen zu einer lokalen Größe in der Kunstszene auf.

Die Gefahr, sich ungewöhnlich am Kopf zu kratzen

Wegen Schmerzen in der Schulter konnte ich eine Weile den linken Arm nicht gut heben. Das erforderte im Alltag unkonventionelle Bewegungen. Wenn mich die linke Schläfe juckte, dann langte ich mit dem rechten Arm über meinen Kopf, um mich zu kratzen. Jedesmal, wenn ich mich so erwischte, musste ich an eine Erprobungsstufen- konferenz denken, die ich als junger Klassenlehrer erlebt habe. Verhandelt wurde der Fall eines undisziplinierten Jungen meiner Klasse, wir nennen ihn Bert. Sein Physiklehrer, ein geistig erstarrter Unterrichtsbeamter, stellte Berts Eignung fürs Gymnasium in Frage.

Neben der schlechten Physiknote gab es für den Physiklehrer ein weiteres Indiz, und er sprach mit einer gewissen Verachtung: „Der kratzt sich soo am Kopf!“, langte mit der Rechten über seinen Kopf und kratzte sich an der linken Schläfe. Ich hatte bis dato nicht gewusst, dass es am Gymnasium gewisse Kratzkonventionen gibt, deren Nichtbeachtung einen jungen Menschen nah an den Schulverweis bringen. Glücklicherweise war das Notenbild des Jungen nicht so schlecht, dass er wegen seines ungebührlichen Kratzens an die Hauptschule verwiesen werden musste, wo vermutlich all die Figuren sitzen, die sich kratzen wie und wo sie wollen.

Gut zwanzig Jahre später, auf der Geburtstagsfeier meines ältesten Sohnes, lernte ich einen Ingenieur kennen. Der erzählte, dass er sich in der Firma meines Exschülers beworben habe. Bert hatte inzwischen ein Ingenieurdiplom in Elektrotechnik und zusammen mit seinen Brüdern ein weltweit operierendes Computerunternehmen aufgebaut mit gut fünfhundert Mitarbeitern. Nicht überliefert wurde, wie Bert sich inzwischen zu kratzen beliebt.

Plädoyer für Toleranz gegenüber dem Fehler – Fehlerwoche (5)

Den ehemaligen Direktor des Germanistischen Instituts der Uni Hannover, Prof. Dr. Carl Ludwig Naumann kannte ich noch aus seiner Zeit an der RWTH Aachen. Beinahe wäre ich in Hannover sein Doktorand geworden, wenn mich nicht gesundheitliche Probleme ausgehebelt hätten. Naumann hatte sich dem Orthographieunterricht gewidmet, weil die Rechtschreibleistung die einzig objektive Benotung erlaube. Klar, die Anzahl der Rechtschreibfehler im Diktat oder Aufsatz lässt sich ermitteln, aber rechtfertigt das die beinahe pathologische gesellschaftliche Fixierung auf Rechtschreibung?
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Langeweile im Lehrerberuf

Einmal saß ich ganz harmlos im Lehrerzimmer meines Gymnasiums, als der Direktor zur einen Tür hereinkam, um durch die andere wieder hinauszugehen. Er sah mich und sagte: „Der Herr van der Ley sitzt da wie ein Philosoph.“ Ich erwiderte: „Das ist rein äußerlich, Herr Weinstein.“ Die Episode las ich in einem Tagebuch von 1992 und fragte mich, was „rein äußerlich“ bedeutet. Manche sind sogar Philosophieprofessoren und man sieht es ihnen nicht an. Wenn dieser beliebte Fernsehphilosoph in Talkshows herumsitzt, denkt man doch höchstens: „Was hat der die Haare schön.“

Die Haare schön hatte ich damals jedenfalls nicht. Hätte mir sonst ein Abiturjahrgang zum Abschluss einen Friseurgutschein geschenkt? Wenn ich also wie ein Philosoph da gesessen hatte, dann spiegelt das, was ich getan habe. Ich habe ständig über irgend etwas nachgedacht, nicht weil ich Philosoph geschimpft werden wollte, sondern aus purer Langeweile. Du liebe Zeit, habe ich mich in meinem Lehrerberuf oft gelangweilt!

Weil man turnusmäßig immer wieder die gleichen Jahrgangsstufen unterrichten muss, kannte ich die Unterrichtsinhalte bald auswendig. Ich hätte sie singen können. In meiner Not habe ich manchmal extra falsch gesungen, damit es interessanter war für mich. Habe beispielsweise erzählt, das Multiple-Choice-Verfahren hätten zwei Männer erfunden, Herr Multiple und Herr Choice, die in den USA durch den Sputnikschock bekannt geworden sind. Oder ich habe mich bei den ganz Kleinen extra blöd gestellt und gefragt: „Was ist denn das für ein komisches Zeug, das da vom Himmel fällt?“ Da waren die glücklich, mal mehr zu wissen als ich und riefen: „Das ist doch Regen, Herr van der Ley (im Winter – Schnee.“) So leicht kann man Fünftklässler glücklich machen. Und ich habe mich schon wieder gelangweilt. Hab verlangt, mir die Hausarbeit mit Kartoffelstempeln zu drucken. Was waren das prächtige Hausarbeiten! Einmal habe ich darum gebeten, mir Handschriftproben zu geben und das Wort „Kakographie“ so hässlich wie möglich zu schreiben. Da konnte ich mich vor Proben kaum retten. Die eifrigen Hässlichschreiber belagerten mein Pult über das Pausenklingeln hinaus. Auch habe ich gezeigt, wie man sich mit einer Dreiecks- oder Messerfeile ein Krummlineal basteln kann und angeregt, damit im Mathematik- und Geometrieunterricht die Striche zu ziehen. Und wenn der Mathelehrer nicht einverstanden wäre, sollten sie sagen, ich hätte es ihnen befohlen, sonst gäbe es eine unerlaubte Kollektivstrafe, Nachsitzen bis der Hausmeister ins Bett gehen will.

Wider die geraden Striche! – Krummlineal, Grafik: JvdL


Unter den Kollegen habe ich mich auch meistens gelangweilt. Im Lehrerzimmer wurde lauter Zeug geredet, in welchem Restaurant sie letztens prima essen waren, wo in der Provence sie ein „entzückendes kleines Weingut“ entdeckt haben, zu dem sie jetzt immer hinfahren müssten, um ihren Wein zu kaufen. Wo sie im Urlaub waren und wohin sie nächstens fahren wollen. Ein Kollege hat in jeder Konferenz Reisekataloge studiert. Dem musste man nach den Ferien unbedingt aus dem Weg gehen, weil er immer darauf gelauert hat, jedem von seinen Fernreisen zu erzählen. Der wusste, wo in Manila, wann die rote Ampel auf Grün springt, hat sich aber im Stadtwald verlaufen.

Gerne wurden auch Schüler durchgehechelt: „Der Vater ist Jäger. Ich habe ihm gesagt: ‚Ihr Sohn ist nicht sozialfähig. Erschießen Sie den!’“ Das war noch der beste Spruch. Doch das meiste war nur zynisch und platt, jedenfalls nichts, wofür man hätte Pädagogik studieren müssen. Oft habe ich verzweifelt dagesessen und gedacht: Ihr seid doch studierte Leute. Habt ihr gar keine anderen Interessen als exquisit zu spachteln, Wein zu kaufen, zu verreisen oder über Schüler zu hetzen? Doch, hatten sie, die Kollegen sprachen gerne über ihre Autos, die Kolleginnen, soweit sie Mütter wurden, hatten erstens das Kinderkriegen gerade erfunden, später mussten sich alle anhören, welche Genies sie da heranzogen. Das schlimmste war, solche Lehrerkindergenies unterrichten zu müssen.

Falls es andere Interessen gab, wurden sie geheim gehalten. Zwei haben heimlich ihre Doktorarbeit geschrieben, die Kollegin, um Karriere als Schulleiterin zu machen, der Kollege, um in allen Namenslisten bei seinem Namen den jüngst erworbenen Doktortitel handschriftlich nachtragen zu können. Einen Kollegen habe ich mal im Lehrerzimmer erwischt, wie er das Manuskript für ein Mathematikbuch fotokopierte. Dieses Schulbuch hatte er alleine geschrieben und bot es dann verschiedenen Schulbuchverlagen an. Aber keiner wollte es drucken. Danach hat er aus Frust kaum noch Mathematik unterrichtet. Wenn die Schüler auch keine Lust zum Mathematikunterricht hatten, haben sie gefragt: „Herr Thelen, wie war das noch mal, als sie Ihren neuen Volvo bekommen haben?“ Dann fing der an zu schwärmen, wie er seinen Volvo persönlich in Schweden abgeholt hat und wie er im Volvo-Werk von den Schweden hofiert worden ist und sie ihm noch die Ledersitze in den Farben seiner Wahl spendiert haben. Das ging bis zum Pausenklingeln. Deshalb sind ihm auch meine Schüler mit den Krummlinealen nicht aufgefallen.

Ich saß also im Lehrerzimmer wie ein Philosoph oder vielleicht war es auch nur fortgeschrittene Katalepsie, da geht die Tür wieder auf, der Direktor steckt den Kopf in den Raum und ergänzt: „Ich habe heute ganz viel Haare auf den Zähnen.“ O mein Gott! Es war zum katholisch werden.