Umwege an Hundstagen

„Schön, dass alle wieder da sind“, sagte Vito Serra, der italienische Wirt des Marktcafés gestern, und ich sagte: „Ja, und mein Leben ist auch wieder in Ordnung.“ Ich hatte mich nämlich zwei Wochen zum Mittagessen anders orientieren müssen, weil der Koch des Marktcafés Urlaub machte. Also löffelte ich gestern wie gewohnt am Lindener Markt meine Suppe. Als ich vom Mittagessen zurück radelte, überkam mich erneut der Drang, einen Umweg nach Hause zu fahren. Hinterm alten Pfarrhaus im Van-Alten-Garten, bog ich ab nach links, querte schräg durch den Park und fuhr weiter den Lindener Berg hinauf. Der kurze Anstieg hat stellenweise gut zehn Prozent, aber man ist oben, bevor man Megszentségteleníthetetlenségeskedéseitekért sagen kann. Das ist ungarisch, das längste Wort dieser exotischen Sprache. Ich habe es ehrlich gesagt noch nie ausgesprochen, kenne auch niemanden, der das kann, aber ich versichere, dass man eher als das über den Lindener Berg gefahren ist. Schon als ich oben auf der Kuppe am Wasserreservoir vorbeirollte und weit und breit keinen Schatten fand, dachte ich, dass es vielleicht nicht die beste Idee war, in der größten Mittagshitze einen langen Umweg über die Lindener Alpen zu fahren. Zum Glück folgte bald die rasende Abfahrt, und der Fahrtwind kühlte.

Als ich noch Radsportler war, bin ich mal mit zwei Kollegen, Heinz und Wolfgang, in großer Hitze von Aachen zur Hinsbecker Schweiz gefahren. Hinsbeck liegt nahe dem niederländischen Venlo und etwa 80 Kilometer nördlich von Aachen. Wir langten völlig ausgelaugt an einem der Hinsbecker Seen an, versuchten im See unsere Füße zu kühlen, der aber in Ufernähe pisswarm war, und streckten im Schatten alle Viere aus. Beim Ufer saß eine hübsche junge Frau mit ihrem Hund. Heinz konnte sie nicht aus den Augen lassen. Mit einem Mal lachte er schadenfroh: „Hehe, der Hund pinkelt gerade auf eure Radschuhe!“ Wir schauten auf, und Wolfgang sagte: „Meine sinds nicht!“ und ich, indem ich beruhigt zurücksank: „Meine auch nicht!“ Gerechterweise gehörten sie Heinz.

Wie kriege ich jetzt den Text rund, bzw. wie kommen wir wieder nach Hause? Ein anderer Heinz, Heinz Strunk, schreibt in der Titanic über den Schweißhund, und ich erinnere mich an einen Witz mit Schweißhund. Vorab: Ein Schweißhund ist ein Jagdhund, der darauf dressiert ist, angeschossenes und blutendes, in der Jägersprache ’schweißendes‘ Wild aufzuspüren. Das schließt natürlich nicht aus, dass unerzogene Schweißhunde auch mal über umherliegenden Radschuhen das Bein heben. Also hier der Witz:

Ein Züchter namens Schindler verkauft einem Jäger für teures Geld einen hochgelobten Schweißhund. Nachdem der Schweißhund bei der Jagd versagt hatte, schrieb der Jäger an den Züchter einen Brief: „Sehr geehrter Herr Schindler!
Das W, das in Ihrem Namen fehlt, hat Ihr Schweißhund zuviel.“

Das war der Witz, und wir sind zu Hause. „Schön, dass alle wieder da sind.“

Mutmaßung über Männer und Müll

Gestern im Marktcafé. Ich sitze am Fenster und beobachte das Geschehen auf dem besonnten Markt, derweil ich meine Suppe löffle. Plötzlich eilt ein Mann heran, der aussieht wie Julian Reichelt, der talentierte neue Chefredakteur der Bildzeitung. Ich denke, nein, er ist es nicht. Warum sollte Reichelt über den Lindener Markt eilen? Zudem hat er einen Brüller in der Hose, wie diese Hosen früher genannt wurden, deren Schritt zwischen den Knien hängt, dass es aussieht, als hätte der Träger ein Ei rein gelegt und trüge es jetzt spazieren, weil er keine Gelegenheit gefunden, es heimlich zu entsorgen.

In solche Verlegenheit würde ein distinguierter Boulevardjournalist nie kommen, da er doch mit seiner Zeitung immer einen Wisch zur Hand hat, groß genug, jedes fäkale Unglück einzupacken, zumal, das wäre noch nachzutragen, der Mann, der wie Julian Reichelt aussieht, einen prallen schwarzen Müllsack trägt und mit der anderen Hand eine Mülltonne zieht. Das ist nicht so einfach wie es sich liest, denn der Lindener Markt ist an manchen Stellen grob gepflastert, wo eine beräderte Mülltonne ins Taumeln gerät, wenn man sie hinter sich her zieht. Plötzlich schaut der Mann, den wir der Einfachheit halber Reichelt nennen, der schaut auf und schaut sich um, sieht noch mehr aus wie sein eigener Doppelgänger, schaut sich heischend um und ist plötzlich von einer Horde junger Männer umschwärmt, die ihrerseits taumelnde Mülleimer hinter sich herziehen und prallvolle Müllsäcke tragen.

Bei dieser interessanten Choreographie gibt Reichelt den Ton an, wie es sich für einen Chef gehört, zerrt seine widerspenstige Mülltonne seitlich heran und bringt sie zum Stehen, öffnet die Klappe und versucht, den prallen Müllsack hineinzuzwängen, obwohl jeder verständige Mensch klar sieht, dass die randvolle Mülltonne nicht auch noch einen prallen Müllsack aufnehmen kann. Da hilft kein ungeduldiges Stopfen. Seine Gefolgsleute versuchen ihrerseits, die Säcke in ihre Mülltonnen zu stopfen, denn sie vertrauen ihrem Chef und denken: Wenn der das gegen alle Vernunft versucht, versuche ich es auch. Es wäre ja möglich, dass der Chef seinen Sack erfolgreich reinzwängt, und wie stünde man dann da, wenn man seinem guten Vorbild nicht gefolgt wäre? Der Reihe nach geben sie auf, Reichelt zuerst, dann seine Adepten. Dann streben sie wieder voran mit ihren taumelnden Mülltonnen und den Säcken, die hindernd gegen ihre Beine schlagen, und verschwinden aus meinem Blickfeld. Was für ein herrliches Fenstertheater, denke ich noch und löffle den Rest meiner Minestrone.

Wenig später fuhr ich mit dem Rad zum Einkauf und überquerte den Platz „Am Küchengarten.“ Dort stand ein großer Müllcontainer, und Reichelt wie ein Feldherr oben auf der Leiter leitete seine Vasallen an, die Tonnen zu leeren und die Säcke abzuladen. Den naheliegenden Schluss, ich hätte die Redaktion von Bild Hannover bei der Arbeit gesehen, will ich korrekterweise von mir weisen. Ich fuhr viel zu schnell vorbei, als dass ich hätte sehen können, was die Kerle da genau gemacht haben.

Zonengrenze

Letzte Nacht wurde ich um 3 Uhr wach und konnte nicht mehr einschlafen. Ich hatte vielleicht alpgeträumt. Gemeinhin ist das Erwachen aus einem Alptraum erleichternd. Wenn man Licht gemacht hat, sich umschaut und weiß, es war nur ein Alpdruck. In Wirklichkeit ist alles in Ordnung. Aber so sehr ich mich auch hin und her gewälzt habe, die Erleichterung wollte sich nicht einstellen. Der Alptraum ging einfach weiter. Er ließ sich nicht abschütteln. Im Gegenteil. Mein langsam erwachender Kopf hat den Alptraum noch weitergesponnen und in allen denkbaren Facetten ausgeschmückt.

Worum ging es? Eine Geschichte aus meinem Alltag. In der letzten Woche bin ich mittags nicht zu Fräulein Schlicht, sondern zum Marktcafé gefahren, weil die Suppe, die in der Woche angeboten wurde, mal wieder köstlich war. Ich kette dann mein Fahrrad an einen der grün lackierten historischen Laternenmasten und gehe übers Kopfsteinpflaster ins Marktcafé. Wenn ich wieder herauskomme, gehe ich an meinem Fahrrad vorbei die wenigen Schritte zur Bäckerei auf der Ecke und hole mir ein Kuchenteilchen für den Nachmittagskaffee. Soweit ein ganz hübsches Alltagsritual. In der Bäckerei werde ich von schmucken Bäckereifachverkäuferinnen empfangen, und überaus freundlich bedient. Falls schon Kundschaft im Laden ist, kommt wie von Zauberhand herbeigerufen eine weitere Bedienung durch die offene Tür aus den hinteren Räumen und fragt freundlich nach meinem Begehr.

Am Donnerstag wars ein neues Gesicht, durchaus hübsch, aber ordentlich rund. Die junge Frau war noch etwas runder als man sich rundliche Bäckereifachverkäuferinnen vorstellt, aber trotzdem propper anzuschauen mit der kleidsamen Bluse in den Bäckereifarben. Sie eilte behände hinter der Theke hin und her, und ich dachte noch anerkennend, „aha, eine agile Dicke.“ Dann aber musste ich die Summe von 1,60 Euro mit einem 20-Euroschein bezahlen. Sie bat mich zur 2. Kasse am Thekenende, nahm den Schein, kramte das Wechselgeld hervor und drückte mir einen 10- und 5-Euroschein zusammen mit einigen Münzen in die Hand. Da ich die Münzen nicht sehen konnte, griff ich ungeschickt zu und einige fielen zu Boden. Sie entschuldigte sich und bückte sich nach denen, die zu unseren Füßen lagen, aber gab sich nicht zufrieden damit, sondern ging flugs auf alle Viere und schaute unter eine Kühlvitrine. Dabei reckte sie mir die Kehrseite zu, und ihre hinterlistige Hose entblößte vor meinen Augen ein Paar voluminöse Hinterbacken.

Na hören Sie mal, meine lieben Damen und Herren! Auf derlei ist man nicht gefasst. Das Prallste, was ich in dieser Bäckerei je gesehen hatte, war ein Gugelhupf mit Schokoladenüberzug. Davon hatte ich im Sommer zwei zu meinem Geburtstag bestellt. Und sonst? Wenn sich vor meinen Augen eine Dame entblößt hat, dann in einvernehmlicher Absicht, und dem ganzen ging ein sogenanntes Vorspiel voraus, dass ich Zeit hatte, mich auf zu erwartende Nacktheit einzustellen, also auch auf nackte Kehrseiten. Früher bin ich auch schon mal in der Sauna gewesen und war innerlich gefasst auf entblößte Körperteile jedweder Form und Größe. Aber solche Backen existierten überhaupt nur in meiner Vorstellung, ganz vage nur wie in dieser Geschichte, als Helmut Kohl, Maggi Thatcher und Michael Gorbatschow sich einst in der Sauna getroffen haben.

Thatcher weist auf ihre blanken Brüste und sagt: „Zwei gute englische Pfund!“
Helmut Kohl klatscht mit beiden Händen auf seine gewaltigen Hinterbacken und ruft: „Das ist das geteilte Deutschland!“
Gorbatschow schaut an sich hinunter und sagt: „Das ist der Schlagbaum zwischen Ost und West. – Er wird sich niemals wieder heben.“

Wie gesagt: Vorstellung. Aber was mir in der Bäckerei sozusagen unvermittelt ins Auge sprang, toppte die Kohl’schen Hinterbacken. Und das Schlimmste. Ich kannte ja die Zonengrenze nicht, hab sie nie mit eigenen Augen gesehen, war erst im Osten, nachdem sich der Schlagbaum wider Erwarten doch noch gehoben hatte. So hatte ich auch keine Vorstellung vom Todesstreifen. Dass er das Land mit einer wund gescheuerten Furche in schuppigem Hellrosa teilte, hatte mir niemand gesagt.

Die junge Frau fand unter der Vitrine ein 50-Cent-Stück und gab es mir. Wenn ich gefragt worden wäre, „wollen Sie das geteilte Deutschland mit dem gefürchteten Todesstreifen sehen oder 50 Cent verlieren?“, ich hätte mit Kusshand auf das Geld verzichtet. Aber nun war`’s nicht mehr ungeschehen zu machen. Ich sagte: „Dankeschön für Ihren Einsatz!“ und verließ die Bäckerei unter ihren besten Wünschen.

Gekritzelt – Bekannt aus Funk und Fernsehen

networking
Als ich noch in Aachen lebte, hat einmal ein Handwerker das Klingelbrett repariert. Da musste er zum Test gelegentlich bei mir klingeln. Jedesmal, wenn ich “Ja?“ in den Hörer der Haussprechanlage gesagt habe, hat er seinen Namen genannt und erklärt, dass der Hausbesitzer ihn beauftragt habe, das Klingelbrett zu erneuern. Und dann hat er gefragt: “Sind Sie Herr Dingens?“ Und ich habe „nein“ gesagt, als er meine Stimme schon hätte wiedererkennen müssen, habe ich „noch immer nicht“ gesagt.

Später war ich einkaufen, und als ich zurückkam, fummelte er weiter an den Kabeln. Da wurde mir erst richtig klar, wie kompliziert das Netzwerk eines Klingelbretts ist. Man nimmt alles so selbstverständlich hin, obwohl nichts selbstverständlich ist. Das ganze gesellschaftliche Leben ist in komplizierten Netzwerken organisiert. Die meisten nimmt man nur wahr, wenn sie nicht mehr funktionieren. Von anderen weiß man gar nichts oder wenig, weil man dem Netzwerk nicht angeschlossen ist.

LukeGiovanni, Ich bin dein VaterOnkel!
In Hannover-Linden sehe ich gelegentlich einen Stadtstreicher. Er trägt seine Habe in einer abgerockten Plastik-Einkaufstüte der Ladenkette NP. Manchmal kommt er mittags mit kleinen Trippelschritten ins Marktcafé, um ein Glas Rotwein zu trinken. Letztens saßen eine Freundin ich im rückwärtigen Raum des Marktcafés. Da kam der Stadtstreicher hinzu und setzte sich mit seinem Rotwein an einen Tisch auf der anderen Seite des Raums.

Vote2 – Montage: JvdL

Wir besprachen, dass Chefredakteure von Printmedien meistens arrogante Pinsel sind und lachten darüber, dass Zeit-Chefredakteur Giovanni di Lorenzo bei der Europawahl aus lauter Selbstgefälligkeit zweimal gewählt hatte, weshalb eine Weile gegen ihn wegen Wahlbetrugs ermittelte wurde. Die Freundin wusste zu erzählen, wie Di Lorenzo sich in einer Bäckerei über eine Verkäuferin geärgert hatte und entrüstet gefragt habe: „Ja, wissen Sie denn gar nicht, wer ich bin?“ Da fragte der Stadtstreicher quer durch den Raum: „Der Giovanni? Der ist ganz berühmt, kommt sogar im Fernsehen. Ich bin sein Onkel.“

Das Kleinknechtsyndrom
Ein Kollege erzählte aus seiner ostpreußischen Heimat, auf dem Gut habe ein geistig behinderter Mann als Kleinknecht gearbeitet. Der hatte Anspruch auf mittags eine Mahlzeit, eine „Schettel“ (Schüssel) voll. Einmal sei man bei der Feldarbeit gewesen und hatte für den Knecht die Schüssel vergessen. Stattdessen gab man ihm reichlich in einen Eimer. Da murrte der Kleinknecht, weil er nicht voll war, denn er hatte Anspruch auf eine Schettel voll. Ich habe den Verdacht, dass wir in vielerlei Hinsicht nicht anders sind als der Kleinknecht, dass wir nämlich die Dinge oft mit dem falschen Maß bewerten. Nur ist es selten so offensichtlich wie im Beispiel des Kleinknechts.

Abteilung: Blöde T-Shirt-Aufdrucke
„Kaltes Bier und heiße Weiber
sind die schönsten Zeitvertreiber“ –
und das über einem Schmerbauch. Da waren wohl viele Biere gewesen und heiße Weiber nur vom Hörensagen.

Wie alles angefangen hat – ein Ohrenzeugenbericht

Vier Frauen, paarweise an zwei Tischen, können die akustische Oberhoheit über ein Lokal erobern und können gewohnte und über Jahre eingespielte Vorgänge durcheinanderbringen, ohne sich über ihr Handeln bewusst zu werden und ohne seine Folgen zu bemerken. Es trifft sie daher nur geringe Schuld daran, dass ich an meinem Fensterplatz vergessen wurde, den ich mich freute ergattert zu haben, weshalb ich aber mit dem Rücken zum Geschehen saß und machtlos erleben musste, wie sich alles hinter mir entwickelte. Aber Schuld trifft sie doch.

Ich bin überzeugt, dass in der Folge von hier bis Patagonien die Dinge aus dem Ruder liefen, man checke nur die Nachrichten über Sturm Xavier und seine Folgen, so dass spätere Chronisten, sollte es die Menschheit noch geben, sagen werden: „An diesen beiden unglücklicher Weise nebeneinanderstehenden Tischen hat alles angefangen, und zwar so. Wir zitieren aus einem Bericht des Mannes, der Augen- und Ohrenzeuge war:

Die beiden einander nur flüchtig bekannten Frauenpaare hatten die Tische besetzt und sich einfach nur unterhalten. Dann war etwas geschehen, dass nämlich eine Frau von ihren eigenen Worten urplötzlich emotional bewegt war und ungewollt ihre Stimme sich erhob, wodurch sich ihre Nachbarin am Nebentisch übertönt fühlte, und fürchtete, ihre Gesprächspartnerin würde glauben, sie hätte nur den Mund bewegt wie in einem schlecht synchronisierten Film, worauf wiederum sie ihre Stimme erhob, um deutlich zu machen, dass Worte aus ihrem Mund kommen, die ihre eigenen sind. Nun mussten auch die beiden bislang unschuldigen anderen Frauen lauter sprechen, um sich verständlich zu machen, worauf die Kellnerin hinter der Theke fand, dass man die Hintergrundmusik nicht mehr hörte und die Lautstärke der Players um ein weniges hinauf regelte. In der Folge schwoll im Raum, in dem man zu anderen Zeiten das Rascheln einer umgeblätterten Zeitung hören kann, schwoll der Geräuschpegel im gesamten Marktcafé an und an, Mütter konnten ihre plärrenden Kinder nicht beruhigen und flohen mitsamt Kinderwägen aus den hinteren Räumen. Derweil sie mit den Kinderwägen die geöffnete Tür blockierten, strömte vom Markt her ein kläffender Hund herein, der geflohen waren vor einem Rudel Männern mit Laubbläsern, aus dem sich zwei lösten und hereindrängten für einen Kaffee to go – und ich bekam meine Suppe nicht.

Bekam sie erst, nachdem mich die Kellnerin durch allen Lärm hindurch noch da sitzen sah und mal dies mal das tun. Ich habe ins Büchlein geschrieben, die Mails auf meinem Smartphone gecheckt, aus Verzweiflung in der HAZ gelesen, den Männer mit den wütend heulenden Laubbläsern auf dem Markt zugeschaut und mich immer wieder erstaunt umgesehen nach den vier Frauen, die nicht im geringsten zu bemerken schienen, dass sie dabei waren, die Welt mal eben aus den Fugen zu schrateln.

Acht Tage hingekritzelt

01.08.2017 – Begegnung im Zug
Im Zug saß mir eine sehr traurige junge Frau gegenüber. Sie war im Ruhrgebiet eingestiegen und hatte sich gleich in die Fensterecke geknüllt. Meistens schlief sie. Da stand etwas in weißer Schreibschrift auf ihrem schwarzen T-Shirt, verdeckt von bunten Zöpfchen und einer Strickjacke. Ich wollte wissen, was da stand. Bevor es unschicklich wurde, konnte ich drei Wörter lesen. Den Rest habe ich ergoogelt. Es war ein Zitat von Sophie Scholl: „Zerreißt den Mantel der Gleichgültigkeit, den Ihr um Euer Herz gelegt!“

02.08.2017 – Evolution
Im ICE ein junger Mann vom Servicepersonal, der den Kaffee rundbrachte. Er hatte vom immer wieder Hinunterbeugen zu sitzenden Bahnkunden so einen prächtig runden Dienerrücken, wie es gewiss ein evolutionärer Vorteil ist in einer Dienstleistungsgesellschaft. Der Buckel wird sich hoffentlich vererben.

03.08.2017 – Traumkritik
Total langweilig geträumt, so dass ich im Traum dachte, das ist der GAU, meinen Träumen geht die Phantasie aus.

04.08.2017 – Lob der Fensterscheibe

Derweil ich im Marktcafé am Fenster meine Suppe löffle, gucke ich auf drei Leute, zwei Männer eine Frau, die sich angeregt unterhalten. Zum Glück kann ich nicht Lippenlesen, sonst hätte ich nie Ruhe.

05.08.2017 – Perfekte Krümmung

Im Marktcafé gibt es zwei Sorten Löffel. Eine davon passt exakt in das Rund der Suppenschüssel, so dass man mit ihm bequem an der Innenwandung entlang schaben kann. Wer das berechnet hat, bei dem hat sich das Mathematikstudium echt gelohnt. Andererseits, „Ich berechne die Krümmung von Suppenlöffeln“, was ist das für ein Beruf?

06.08.2017 – Wo ist Ann?
Blogfreundin Ann (Sternchen) hat offenbar ihr Blog gelöscht und ist zu meinem Bedauern sang- und klanglos verschwunden. Sehr schade.

07.08.2017 – Große Enttäuschung
Eine Gruppe Touristen vor dem Café K. Die Stadtführerin verkündet: „Und es gibt auch keine Himbeertorte!“ Im Vorbeifahren höre ich ein vielstimmiges enttäuschtes „Ooch!“ und einen Mann rufen: „Was ist denn JETZT passiert?!“ Eine Welt bricht zusammen.

08.08.2017 – Ausgeräumte Schriftmythen

Erfreut stelle ich fest, dass nach Blogfreund Lo noch jemand für „Buchkultur im Abendrot“ eine Rezension geschrieben hat.
„[..] Zu fast allen Fakten der Schriftgeschichte streut der Verfasser neben dem anschaulich dargestellten Basiswissen kuriose Details ein, womit das Werk spielerisch über ein Basiswissen hinausgeht. „Selbst beim Fachpublikum dürfte hier mit manchen Schriftmythen und -irrtümern aufgeräumt werden.“ Feinfein!

Ich und die Toskana-Fraktion

kategorie alltagsethnologie„Mein Arzt ist gestorben“, sagte der Mann zur Frau neben ihm. „War erst 59, zum 4. Mal verheiratet, ein neun Monate altes Kind und stirbt einfach!“ „Kein Wunder, bei den Lebensumständen“, hätte ich spontan sagen wollen, aber besann mich und löffelte schweigend meine Suppe. Das war im Lokal am Markt, wo ich seit einiger Zeit mittags hingehe. Am liebsten sitze ich an einem der beiden Fenster und kann beim Essen das Geschehen draußen beobachten. Hier kostet die Suppe 51 Cent mehr als im Biosupermarkt, aber diese 51 Cent sind gut angelegt, denn die Tagessuppe schmeckt viel besser als bei meinem alten Mittagstisch.

Früher habe ich das Lokal gemieden, denn mich schreckte das versnobte Volk, das bei milden Temperaturen draußen an den Tischen saß. “Hedonistisches Pack!“ habe ich gedacht. Doch aus der Nähe besteht auch das hedonistische Pack aus durchaus manierlichen Individuen, und die italienischen Betreiber des Lokals sind überaus freundlich. Man kennt mich bereits und weiß, dass ich vom Tagesangebot nur die Suppe will. Heute, als ich ging, ist mir erneut passiert, was ich mir nicht zugetraut hätte. Die Italienerin hinter der Theke rief mir „Ciao!“ hinterher und ganz mechanisch antwortete ich ebenso, nicht wie üblich „Tschüss!“ Bitte! Es ist eine lächerliche Attitüde, in italienischen Lokalen mit italienischen Brocken um sich zu werfen, wie es die Toskana-Fraktion gewöhnlich tut. Ich bin verleitet worden. Das kann jedem passieren.

„Ich habe ein Buch darüber“ Schnapsschuss: JvdL

Letztens saßen zwei Frauen am Fensterplatz. Eine war stolze Besitzerin eines Buches. Sie zog es gelegentlich hervor und redete beschwörend auf die andere ein. Was ich aufschnappen konnte, hörte sich esoterisch an. Endlich konnte ich den Titel sehen. Es war „Raus aus den alten Schuhen“ von, wie ich eben recherchiert habe, einem Scharlatan namens Robert Betz. Er hatte in der Frau eine überzeugte Adeptin. Sie gab für den alten Schuh, aus dem sie beide raus müssten, ein Beispiel: „Wenn ich jetzt über den da draußen sage, ‚das ist ein Arschloch!‘, dann mache ich mich zu seinem Opfer!“ Wieso denn das?, dachte ich, und auch ihre Gesprächspartnerin war nicht überzeugt und widersprach ausführlich. „Das sagt der aber nicht!“, meinte die Adeptin irgendwann, und: „So steht es im Buch!“

Schon erstaunlich, dass von den Druckmedien zwar Zeitung und Zeitschrift unter Glaubwürdigkeitsverlust leiden, das Buch aber bei esoterisch beeinflussten Menschen weiterhin als verlässliche Quelle gilt. „Ich habe darüber auch ein Buch!“, sagte mir letztens eine Exkollegin, nachdem sie mir in aller Breite ihre esoterischen Ansichten über Krankheit geschildert hatte. Zu Hause habe ich mal den Autor und Erfinder ihrer Heilslehre recherchiert. Das ist auch so ein dubioser Vogel. Aber was soll man machen? Das Leben wird immer komplizierter und wenn neuerdings sogar die Ärzte sterben, müssen Arschlöcher sagen, wo es lang geht, aber ohne Schuhe. Ciao!