Der Neubürger zerstört, was er sucht, indem er es findet

Den ganzen Tag platt gewesen. Zu den kleinsten Verrichtungen muss ich mich aufraffen. Habe ich das geschafft, bin ich beispielsweise in die Küche gegangen, um zu prüfen, ob ich noch genug fürs Abendessen im Haus habe und mir den Einkauf sparen kann, spüle ich ein paar Teller ab und verlasse die Küche wieder, ohne das eigentliche Ansinnen erledigt zu haben. Aber zuerst muss ich wieder sitzen. Einfach nur da sitzen und nicht mal spüren, dass die Welt sich weiter dreht. Soeben beim Satz „… verlasse ich die Küche wieder … “, überkam mich der Impuls zu schreiben „… über die Hühnerleiter“, wiewohl es keine dort gibt. Diese Eigentätigkeit des Gehirns nach einem durchzechten Abend liebe ich. Dann wird der Kopf zur Bühne, und ein Gedanke nach dem anderen tritt aus der Dekoration ins Scheinwerferlicht, macht einen artiger Diener oder schlägt seine Kapriolen, sagt sein Sprüchlein auf, dessen Kontext völlig unklar ist, um dann Platz zu machen für den nächsten Gedanken, und der trägt Wanderschuh. Da wird das Gehirn zum Gebirg, und dieser unachtsame Tourist und tritt immer wieder Gedanken los gleich Gesteinsbrocken, die ins Tal poltern.

    „Der Tourist zerstört, was er sucht, indem er es findet“,

wusste Hans-Magnus Enzensberger schon 1979, und da kannte er die Zustände in meinem Kopf gar nicht, meinte nicht, was da alles zertrampelt wird. Ich habe den Satz für die Überschrift adaptiert.

Dazu muss ich eine kleine Geschichte erzählen, von der ich nicht weiß, ob wahr ist, was mir die Adaption nahelegt: Bekanntlich treffen sich die Leute von HaCK und assoziierte Freunde donnerstags im Leinau, was aber zu unserem Leidwesen seit Wochen geschlossen hat. Am Mittwochnachmittag saßen eine liebe Blogfreundin zu Besuch und ich vor dem geschlossenen Leinau in der Sonne und tranken einen Kaffee, den sie in einem nahen Lokal geholt hatte, freilich in Tassen, nicht im ToGo-Becher, weil ich derlei noch nie gemacht habe. Irgendwann trat die mir vertraute Kellnerin Jessie vors Haus und begann zu fegen. Sie bestätigte, dass das Leinau am Abend wieder eröffnen werde, und so fanden wir uns treuherzig am Donnerstagabend dort ein, fanden aber das Lokal immer noch geschlossen. Mangels Alternative gingen wir in eine nahe alteingesessene Eckkneipe, saßen nachher in dieser verräucherten Kneipe zu neunt um einen Tisch. Es war dann doch gesellig.

Von der Eckkneipe wird gesagt, sie müsse schließen, sollte eigentlich schon geschlossen sein. Das Haus auf der anderen Seite sei verkauft, saniert und in Eigentumswohnungen umgewandelt worden. Die Wohnlage in Linden ist begehrt, weil das ein lebendiger Stadtteil mit einer interessanten Bevölkerung und vielen Kulturschaffenden ist, aber sich auch als ehemalige Arbeiterstadt etwas Uriges bewahrt hat – wie eben diese Eckkneipe. Jetzt haben sich Leute dort gegenüber eine Eigentumswohnung gekauft, um am Flair des Viertels zu partizipieren und beschweren sich über Lärmbelästigung durch die Eckkneipe, weshalb sie schließen soll.

Bevor wir am späten Abend nach Hause gingen, haben wir ein Weilchen lärmend vor der Tür der Eckkneipe gestanden, und Herr Putzig wies nochmal darauf hin, dass diese Geschichte im Viertel kolportiert worden wäre.
Äh, kompliziert und vielleicht umständlich erzählt. Aber ich kann’s derzeit nicht besser.

Das Lied der Steine

Im Nachbarhaus schräg gegenüber haben sie offenbar eine Wand herausgeschlagen. Ich hörte die schweren Hammerschläge und sah junge Leute, auch eine Frau, wie sie Eimer voller Schutt aus dem Haus trugen, um sie auf einen offenen Container zu kippen. Als ich daran vorbei kam, sah ich in all dem Schutt ganze Ziegelsteine. Ich musste an die Leute denken, die die Ziegel einst formten und brannten und an die Arbeiter, die damit die Mauer hochgezogen haben. Und jetzt fliegt das Ergebnis ihrer Arbeitsleistung auf den Schutt. So geht es alleweil. Menschen bauen etwas auf, andere reißen es wieder ein.

Letztens übernachtete ich in Hamburg in einem Viertel, das noch gepflasterte Straßen hat. Straßenpflaster ist Stein um Stein verlegt. Menschen sind im Schweiße ihres Angesichts auf den Knien gerutscht, haben Steine in ein Sandbett gelegt, eingepasst und mit dem Hammer festgeklopft. Ich sehe die krummen Rücken vor mir. Die Leistung der Pflasterer weiß ich durchaus zu würdigen. Trotzdem gehe ich nicht gerne über die hubbeligen Pflastersteine. Ich habe mich schon immer gefragt, wieso sich die Steine im Kopfsteinpflaster nicht irgendwann mal so richtig angleichen. Warum werden sie nicht über die Jahre von hunderttausend Paar Schuhsohlen abgeschliffen, so dass sie eine gleichmäßige Oberfläche bilden? Ich glaube, die Menschen haben zu kleine Füße. Sie rutschen damit immer in die Fugen, und das rundet die Kopfsteine ab, statt sie zu egalisieren. Man müsste also kleinere Steine nehmen, aber das würde der Bauunternehmer sich teuer bezahlen lassen, weil die Pflasterer viel langsamer vorankämen. Die erste Generation der Anwohner müsste Unsummen aufbringen, ohne selbst etwas davon zu haben, weil sich die Steine ja höchsten nach zwei bis drei Generationen erbaulich abgeschliffen haben. Wer wollte für seine Urenkel soviel Geld ausgeben, nur damit deren Füße mal von glatten Steinen geschmeichelt würden? Es weiß doch kaum einer, ob er einmal Urenkel haben wird. Und für fremder Leute Urenkel muss man nun wirklich kein Geld ausgeben. Außerdem könnte passieren, dass die Urenkel dereinst die Pflastersteine ganz schnöde herausreißen und auf den Schutt werfen, genau so wie meine Nachbarn die Mauerziegel.

Lied der Steine – Foto: JvdL


Im Hamburger Rothenbaum-Viertel haben derzeitige Urenkel noch nichts gegen Kopfsteinpflaster. Sie finden im Gegenteil chic, keinen schnöden Straßenbelag aus Asphalt zu haben. Kein proletenhaftes Makadam, du verstehst? Kopfsteinpflaster, verlegt von Männern, die sich krümmen mussten, die schwitzend auf schmerzenden Knien lagen, solcher Straßenbelag passt zur prächtigen alten Bausubstanz der herrschaftlichen Häuser. Das Viertel wirkt nur nicht versnobt, weil es gleichzeitig ans Univiertel grenzt. Dort bereiteten Studierende einen schönen Protestabend gegen das Sterben im Mittelmeer vor, mit Livemusik, Grill- und Getränkeständen. Auch Siebdruck konnte man lernen, versprach ein Schild. Vermutlich konnte man irgendwo in Kreativkellern noch mehr wohlmeinende Transparente malen. Man konnte beim Protest auch einfach vor einem studentischen Café sitzen, fair gehandelten Latte macchiato mit Sojamilch trinken und dem Soundcheck zuhören. Es war hübsch. So macht Protest wirklich Spaß. Die ganze Stimmung dort erinnerte mich an einen Aufenthalt vor Jahren.

Ich bin mit Lisette dort gewesen, und wir übernachteten fünf Tage in der Wohnung eines ihrer Kollegen. Der Mann war im Urlaub. Als wir am Bahnhof Dammtor ankamen, rief Lisette in der Wohnung an, um sicher zu gehen, dass er wirklich schon weg war, wir also die Wohnung für uns hätten. Sie rief an und wurde blass, denn er ging ran. Aber er war trotzdem weg, hatte nur die Rufumleitung zu seinem Urlaubsort auf einer Mittelmeerinsel geschaltet. Die Wohnungsschlüssel hatte er bei einer Nachbarin deponiert. Wir hatten Mühe, die Tür aufzuschließen, der vielen Schlösser wegen, die er an seiner Wohnungstür hatte. Ich erinnere mich noch, dass wir innen schwere Riegel vorfanden. Ob er in seiner Wohnung große Werte beherbergte, ist mir nicht aufgefallen. Aber in seinem Bett hatte er einen überwältigenden Kissenreichtum. Wir haben alle Kissen beiseite geräumt, und ich verbrachte in diesem Bett eine der schönsten Nächte meines Lebens. Nach einem glutheißen Tag war nämlich gegen Morgen ein kühlender Regen niedergegangen, wie es hier geschildert ist.

Auch mein Viertel hat noch viel Kopfsteinpflaster. Die Bevölkerungsstruktur ist ähnlich, doch es gibt nicht soviel altes Geld. Hier hegen viele die Illusion, dass sie mit ihrem linken Humanismus die Welt verbessern können. Wenigstens ein Weniges ihrer Probleme sollte man mildern können. Doch bei unserer Lebenshaltung lösen wir keine Probleme, wir sind Teil des Problems, ob wir wollen oder nicht. Ich glaube, es müsste mal regnen.