Rübenfelder, so weit das Auge reicht. Ein anthrazitfarbenes Band durchschneidet sie und verliert sich am Horizont. Das ist die Landstraße. Ein alter Bauer auf einem wackligen schwarzen Herrenfahrrad radelt heran. Der Reporter hebt die Hand, und der Alte springt steifbeinig ab.
„Guten Tag! Was gibt es denn hier Interessantes?“
„Wo? Hier?“
„Ja, wir machen eine Reportage quer durch Deutschland am 51. Breitengrad entlang, und hier im Selfkant fangen wir an. Gibt’s hier irgendwas Interessantes?“
Der Alte schaut verwundert. „Wat soll denn hier sein?“
Er blickt sich ratlos um und deutet dann mit dem Kinn nach Westen: „Da drüben is Holland. Aber hier? Hier is doch nix.“ Er nickt dem Reporter einen Abschiedsgruß zu, steigt wieder auf sein Rad und fährt. In seiner rostigen Kette zwitschert ein Vögelchen. Selfkant, das ist das Zettelende an Geweben, die Tuchkante. Der Landstrich heißt so, weil er viele Priester hervorgebracht hat.
Warum der Reisende den Nachtzug am einsamen Bahnhof von Baal verlassen hat, kann er nicht mehr sagen. Es gibt da auch nur wenige Spuren von ihm, mit rascher Hand gesprühte Strichfiguren an den Wänden in der Unterführung des ehemaligen Turmbahnhofs.
Der Turmbahnhof von Baal war im Anfang des 20. Jahrhunderts ein wichtiger Verkehrsknotenpunkt. Hier kreuzten zwei Strecken. Das Gleis im Untergeschoss kam von Jülich und führte durch den Selfkant nach Dalheim. Dort traf es auf den Eisernen Rhein, eine Bahnlinie, die bis Antwerpen führte. Bis 1911 war der kleine Grenzort Dalheim für viele Auswanderer das Tor zu Neuen Welt. Sie mussten in Dalheim warten. Die Weiterfahrt durch die Niederlande und Belgien wurde ihnen erst gestattet, wenn im Hafen von Antwerpen ein Schiff für sie bereitlag.
Es ist unwahrscheinlich, dass der Reisende die Bedeutung des Turmbahnhofs von Baal gekannt hat. Denn eigentlich gibt es im Selfkant ja nichts. Rübenfelder, Priesteramtskandidaten und karge Bauernphilosophen sind kaum ein Anreiz, auf dem nächtlichen Bahnhof von Baal auszusteigen. Vielleicht hatte ihn auch der Ortsname Baal dazu veranlasst. Baal, der syrische Gott der Fruchtbarkeit, dem auch Kinderopfer dargebracht wurden.
Vermutlich geht der Ortsname im Selfkant tatsächlich auf einen heidnischen Gott zurück, auf den germanischen Lichtgott Baldur, dessen Name auch in Pulheim stecken soll, und in dem niederrheinischen Wort „Pouhl“, nl. poel, Wasserlache, Sumpf, engl. pool, Teich, Pfütze.
Nachdem der berühmte Züricher Sprayer Harald Naegeli seine Haftstrafe im Züricher Gefängnis abgesessen hatte, lebte er eine Weile in Düsseldorf. Baal liegt an der Strecke Düsseldorf – Aachen. Mein Freund Bernd hat 1999 die für Naegeli typischen Strichfiguren im Turmbahnhof von Baal entdeckt, fotografiert und sie Naegeli anlässlich einer Finissage in Düren gezeigt. Naegeli bestätigte, dass die Graffiti von ihm stammen, konnte sich jedoch nicht mehr erinnern, warum er jemals in Baal ausgestiegen war und dort seine Strichfiguren an die Wände gesprüht hat.
Denn wie gesagt: Eigentlich gibt es da ja nichts.