Solo für Trithemius – eine Gruselgeschichte

Die Wohnung rechts von meiner steht schon immer leer. Sie ist die nie bewohnte Stadtwohnung des Hausbesitzers. Manchmal betritt sie der Hausverwalter, wenn Handwerker im Haus anzuleiten sind oder Wohnungsbesichtigungen anstehen. In letzter Zeit hat es in den oberen Etagen einige Wechsel gegeben. Inzwischen weiß ich kaum noch, wer dort wohnt. Links von meiner Wohnung lebt sporadisch Martin. Er lebt natürlich durchgängig, verbringt aber die meiste Zeit bei seiner Freundin in einer Nachbarstadt. Die Familie unter mir ist zu Beginn der Coronakrise mit ihren zwei kleinen Jungs irgendwohin geflohen, wo man sich offenbar weniger gefährdet wähnt. Die Frau über mir verbringt das Wochenende vermutlich bei ihrem Freund. Derzeit ist sie ganz weg. Ich bin also von leerstehenden Wohnungen umzingelt. Entsprechend ruhig ist es im großen Wohnhaus. Ich könnte glauben, der einzig verbliebene Mieter zu sein. Im Roman „Großes Solo für Anton“, einem Werk der Phantastik von Herbert Rosendorfer, erlebt der Protagonist, dass über Nacht alle Menschen außer ihm verschwunden sind. In meiner Welt muss es aber noch Menschen geben, weil heute Morgen irgendwer die Kirchenglocken geläutet hat. Falls sich das Läutwerk aber automatisch eingeschaltet hat, ist das auch kein Beweis. Bei der neu erwachten Winterkälte werde ich mich nicht als Fenster stellen und Ausschau halten. Selbst wenn draußen eine Person vorbeigehen würde, wäre sie mir so fern, als würde sie auf dem Mond herumspazieren.

Die Erfahrung ist mir nicht neu. Während meiner Bundeswehrzeit wurde ich strafversetzt, wurde morgens beim Appell belobigt und anschließend versetzt in eine Bremer Einheit, die als Fickerkompanie verschrien war. Diese Kompanie hatte gerade eine Ausweichkaserne bezogen, weil ihre eigentlichen Gebäude saniert wurden. Dort wollte man mich separieren, weil ich Kriegsdienstverweigerer war und schon einige Soldaten aus meinem Umfeld ebenfalls verweigert hatten. Man wies mir das unbewohnte Dachgeschoss zu. Dort gab 12 Mansardenwohnungen, denn das Kasernengebäude hatte nach dem Krieg Flüchtlinge aus dem Osten beherbergt hatte. Jetzt standen alle Wohnungen leer. Wer konnte, hatte sich eilends eine andere Wohnung gesucht, um den unheiligen Schwingungen zu entkommen, die durch das Gebäude waberten. Wenn der Wind durchs kalte Treppenhaus pfiff, röhrte er in den Fluren. Dann griffen knöcherne Hände nach den Seelen. Zum langen Flur hin standen die Türen offen, dass es wirkte, als wären die Vorbewohner alle gleichzeitig geflohen.

Ich wanderte im Dämmer des späten Nachmittags den Flur entlang und warf in jede Wohnung einen Blick, als müsste ich mich überzeugen, niemanden mehr vorzufinden. Doch ich hatte keinen Grund, so leise und verstohlen über den Flur zu streichen, wie ich es unwillkürlich tat. Ich war auf der Dachetage völlig allein. Jede Wohnung hatte drei Zimmer. Vom zentralen Raum gingen je links und recht Türen ab in angrenzende Räume. Wo ich nachgesehen hatte, schloss ich die Türen und bedauerte, keine Schlüssel vorzufinden. Bald sollte ich feststellen, dass es keine gute Idee gewesen war. Denn fast jede Tür rappelte im Rahmen, sobald der Wind sich wieder erhob. Eine Wohnung in der Mitte des Flurs empfing mich nicht gar so kalt und abweisend. Vor allem hatte sie noch Licht. Der schwarze Drehschalter neben der Tür ließ eine nackte Glühbirne aufleuchten, die in ihrer Fassung von der Decke hing. Sie beleuchtete eine ockerfarbene Blümchentapete, mit der ihre Vorbesitzer den Räumen etwas Wohnlichkeit hatten abtrotzen wollen. Man hatte sich bemüht, die Dachschräge in allen drei Räumen bis in die Raumecken hinein sauber zu tapezieren. Unter der Feuchtigkeit hatten sich Bahnen gegen den Fußboden am Stoß gelöst und sich hochgewölbt, dass die Spalten wirkten wie schwärende Wunden. Was einmal wohnlich hatte wirken sollen, verstärkte jetzt mein Gefühl unendlicher Verlassenheit.

Ich trat an die Dachgaube und schaute hinaus. Es war fast finster. Am Gebäude drüben flatterte eine helle Plane im Wind und schlug klatschend gegen eine Mauer. Ein Schauer lief über meinen Rücken. Drum drehte ich mich um und schloss die Tür zum Flur. In der schmalen Kammer links vom zentralen Raum stand ein schmales Bett mit blanker Matratze, mein Bett für die Nacht. An der Wand hing noch ein Poster, ein sonnengebräuntes nacktes Mädchen schritt vom Betrachter weg durch ein Kornfeld. Wo das Höschen gesessen hatte, war die Haut deutlich heller und verstärkte den Eindruck der Nacktheit. Sie hatte den Oberkörper halb zurück gewandt und schaute in die Kamera. Nie hätte ich gedacht, dass ein solches Poster tröstlich auf mich wirken könnte. Auch wenn sie dabei war fortzugehen, war ich noch nicht allein, nicht gar so verlassen.

In der Nacht schreckte ich hoch. Mir hatte geträumt, auf dem Gang würden Türen geschlagen. Wer würde zu nachtschlafener Zeit so rücksichtslos sein? Ich wollte irgendwas rufen, aber meine Stimme war tonlos. Meine Tür stand offen. Aus der Schwärze des angrenzenden Raumes hörte ich eine vertraute Stimme flüstern: „Ja?“ Ich sagte: „Wilhelm? Ich habe Angst.“ Wieder schlugen Türen. Draußen hatte sich ein Sturm erhoben. Der Herr des Sturms polterte über den Flur, stand plötzlich in meiner Tür und schaute sich suchend um. Ich wollte um Hilfe rufen, doch ich brachte nur einen schwachen Hauch hervor, so sehr ich mich mühte. Der Herr des Sturms schnaubte verächtlich, verharrte eine Weile im Raum, dann war er weg. Ich erwachte davon, dass ich rief und fand mich zu Hause in meinem Bett. Die Tür zum Flur war scheinheilig geschlossen, doch ich war sicher, dass sie vorher offen gestanden hatte.

Kennst du das? Du erwachst aus einem Alptraum und findest dich in einem ähnlichen, allein in einem großen Haus. Nur meine Wohnung ist tröstlicher. Hier bin ich zu Hause und fühle mich wohl. Blöd ist, dass man inzwischen die Fenster vermauert hat.

Gedanken über einen braunen Schildermaler

Kategorie zirkusmerkel-muss-weg1Es gibt Köpfe, die möchte man lieber nicht haben. Nicht für zwei Sekunden möchte ich den Kopf des Mannes haben, der sich hinsetzt und ein Schild „Merkel muss weg“ lettert. Was mag er sich gedacht haben, als er seine Buchstaben gemalt hat? Ist ihm, indem er sich auf die sauber ausgeführte Form seiner Groteskbuchstaben konzentrierte, der Sinn vielleicht unwirklich geworden, sogar ganz entfallen, wie ein Wort seinen Sinn verliert, wenn man es oft genug aufsagt? „Merkel muss weg!“ ist ja, wenn mans harmlos betrachten will, in seiner eindringlichen Alliteration und Einsilbigkeit eine ganz kleinkindliche Forderung. Sowas fordert keiner mit Verstand, womit ich mich schon mal vorsorglich bei den Kindern entschuldigen möchte. Die Ähnlichkeit liegt im magischen Denken, bei dem alles verschwinden kann, wenn man nur die Augen schließt.

Wenn Menschen mit dem Verstand eines Erwachsenen derlei fordern, lässt es sich nicht mehr mit kindlich magischem Denken entschuldigen. Dass jemand „weg muss“, fordert einen Akt der Gewalt. „Muss weg“ richtet sich gegen die physische Existenz. Das geht nicht nur gegen Frau Bundeskanzlerin Merkel, sondern auch gegen die Flüchtlinge, deren Hiersein man ihr anlastet. Es wurden ja bei Pegida-Demonstrationen schon Galgen für Politiker gesehen. Und von Schießbefehlen gegen Flüchtlinge war auch schon die Rede. Wer in diesem geistigen Umfeld ein Schild „Merkel muss weg!“ in die TV-Kameras hält, kann sich nicht rausreden, er habe nicht gewusst, welchen Ungeist er stärkt. Der ist von einer derart barbarischen Unmenschlichkeit, dass es einen schütteln muss, wenn man ein bisschen Anstand, Herzensbildung und Kultur in sich hat. Was glaubt wohl der Schildermaler, welchen Beitrag er zur öffentlichen Diskussion leistet? Wir wollen solche Töne nicht. Sie führen zu Galgen am Wegesrand, bejubelt von einer Meute mit Fackeln, Sensen und Dreschflegeln. Diese Leute wollen nicht die abendländische Kultur verteidigen, sondern in ihrem kackbraunen Sumpf ersäufen.

Bericht von meiner ethnologischen Forschungsreise von Hannover nach Aachen und zurück (Folge 3)

Folge 1Folge 2

Die Stadt Aachen vergibt seit 1950 alljährlich den Karlspreis, benannt nach Karl dem Großen. Geehrt werden Personen, die sich um die europäische Einigung verdient gemacht haben. Selbstverständlich kommen einfache Menschen für den Preis nicht in Frage. Man ehrt grundsätzlich hochrangige Persönlichkeiten, um sich in deren Glanz zu sonnen. Im Jahr 2000 wählte das Karlspreis-Direktorium den damaligen US-Präsidenten Bill Clinton. Warum ein Präsident der Vereinigten Staaten?, fragte sich da mancher. Höher rauf geht es ja kaum noch. Warum nicht gleich < Zaphod Beeblebrox oder Gott? Beeblebrox kennen sie nicht und den Karlspreis an Gott zu vergeben, haben sie sich die geltungssüchtigen Aachener Honoratioren noch nicht getraut. Das Karlspreis-Direktorium hatte sowieso schon rote Ohren, als es auf einer internationalen Pressekonferenz in einem Kölner Hotel den Preisträger Bill Clinton bekannt gab. Da fragte ein erstaunter US-Journalist, wo Aachen denn überhaupt liege, und bekam die verwirrte, verwirrende Antwort: „Östlich von Köln.“ Da hätte er lange suchen können. Östlich von Köln liegen das Sieger- und das Sauerland.

Aachen liegt westlich! Etwa 80 Kilometer hinter Köln im westlichsten Winkel Deutschlands liegt Aachen. Weiter westlich geht es gar nicht. Wer noch weiter fährt, landet tatsächlich wieder im Osten, denn gleich an Aachens westliche Stadtgrenze grenzen die belgischen Ostkantone und Hollands südöstliche Provinz Limburg. Darum kann ich mit dem ICE 14, Fernziel Brüssel fahren. Er braucht für die Strecke Köln – Aachen gerade mal 33 Minuten. Ich habe eine Sitzplatzreservierung für den Wagen 25. In diesen Wagen drängen auch betagte Engländer und Engländerinnen, die zuvor in einer großen lärmenden Menschentraube den Bahnsteig versperrt haben. Nachdem sie alle ihren Platz gefunden und ihr Gepäck verstaut haben, verdunkelt sich der Himmel im ICE. In dieser drangvollen Überfüllung taucht plötzlich ein junger Araber neben mir auf und fragt in gebrochenem Englisch, ob der Platz noch frei sei. Er wirkt irgendwie schmuddelig und stinkt bestialisch.

Ich deute auf die leuchtende Reservierungsanzeige für den noch leeren Platz neben mir und fühle mich schlecht. Zum ersten Mal steht vor mir ein realer Flüchtling und ich sage: „Sorry, alles reserviert!“ Und was mir noch peinlicher ist, ich bin froh drum. Die Aussicht, eine halbe Stunde seinen Gestank ertragen zu müssen, haut mich um. Der junge Syrer zeigt mir seinen Fahrschein, hofft vermutlich, ich würde ihm den Platz zugestehen, wenn ich nur sähe, dass er einen gültigen Fahrschein nach Brüssel hat. Da taucht ein gut gekleideter Araber auf, offenbar der Platzeigentümer, lässt sich den Fahrschein zeigen und erklärt dem Syrer was, vermutlich, dass ein Fahrschein keine Reservierung sei, worauf der und ein zweiter Flüchtling sich verziehen. Was für eine Szene!
badetuch
Erstens wollte ich nie in die Situation kommen, einem Flüchtling einen Platz zu verweigern als wäre ich der Herr aller Plätze. Zweitens denke ich, dass die vielen freiwilligen Helfer, die Flüchtlinge in Empfang nehmen und versorgen, dass die auch konfrontiert werden mit Menschen, die sich auf einer wochenlangen Flucht nicht haben waschen können, die ihre Notdurft an den unmöglichsten Orten verrichten mussten und sich letztlich um hygienische Fragen nicht mehr kümmern konnten. Aber was hätte ich in dieser Situation tun können, um zu helfen? Während ich mich das frage und mit mir hadere, hat der feine Araber neben mir offenbar keine Probleme, packt einen dicken Plastikhalm aus der Papierhülle und zuzzelt einen sattgelben Smoothie. Auch die lärmenden Engländer haben gute Laune. Und alle Welt soll wissen, dass es ihnen zu gut geht.

Während am Horizont die ersten Höhenzüge der Nordeifel vorbeiziehen, über die ich in meiner Aachener Zeit als Radsportler unzählige Mal gefahren bin, kann ich mich gar nicht ablenken, sondern frage mich, warum die Flüchtlinge weiter nach Brüssel wollen. Ist da ein irrationales Element in der Wanderbewegung? Wollen diese entwurzelten Menschen einfach immer weiter nach Westen, möglichst weit weg von Ländern, wo Chaos ist, wo Bürgerkrieg herrscht, wo man sich gegenseitig beschießt, in die Luft sprengt, den Hals abschneidet? Vergessen manche bei ihrer Suche nach Sicherheit, Perspektive und Glück, irgendwo anzukommen, sich niederzulassen, wo es schon gut ist, in der Hoffnung, weiter weg wäre es noch besser?

In Brüssel, war zu hören, kann die Ausländerbehörde pro Tag 250 Asielzoekers (wörtlich: Asylsucher) registrieren. Die Zahl wird auf Geheiß des zuständigen Staatssekretärs nicht erhöht. Tausende stehen dort den ganzen Tag an und werden auf den nächsten Tag vertröstet. Sie übernachten in Zelten in einem Park nahe der Registrierungsbehörde. Das Rote Kreuz hat in einem nahen Büroturm 200 Schlafstellen eingerichtet, die fast nicht genutzt werden, worüber sich kürzlich ein flämischer Politiker öffentlich aufgeregt hat. Man versteht nicht, warum die Flüchtlinge lieber in Zelten leben. Es ist also nicht besser in Belgien. Da wie hier gibt es große Hilsbereitschaft in der Bevölkerung und Unverstand gepaart mit Unfähigkeit in der Politik. Wo ist eigentlich Karlspreisträger Bill Clinton? Europa könnte US-Unterstützung gut gebrauchen. Schließlich müssen wir die rücksichtslose Kriegspolitik der USA ausbaden, durch die eine ganze Region im Nahen Osten destabilisiert wurde, in deren Folge das Flüchtlingselend entstand. Aber Ehrungen wie der Karlspreis sind eben nicht mehr wert als hohle Reden, buckelnde Honoratioren, eitles Schaulaufen der Prominenz und Festbankette auf Kosten des Steuerzahlers in historischen Gemäuern. Wers nicht glaubt, der lese hier meine launige Exklusiv-Reportage, als Angela Merkel den Karlspreis an den Hals bekam.

Upps, der Lautsprecher kündigt schon Aachen an. Ich winde mich mit meinem Koffer zum Aussstieg.

Folge 4

Kommentar: Das Flüchtlingselend ist unser Elend

„Tina, jetzt brauche ich nen Schnaps!“, sagte ich vorgestern Abend der Gastgeberin, nachdem ich von einem mir bis dato unbekannten jungen Mann Ansichten gehört hatte, die so bodenlos waren, dass ich gar nicht gewusst hatte, wie ich argumentativ begegnen sollte. Immerhin war allem zu entnehmen, dass er wohl das Handelsblatt las. Welches neoliberale Drecksblatt noch für das krude Durcheinander in seinem Kopf verantwortlich war, – ich habe nicht nachgefragt.

Ich stehe sowieso schier machtlos vor der braunen gedanklichen Jauche, die sich in letzter Zeit übers Land ergießt. Das nicht enden wollende Flüchtlingselend und unsere verantwortungs- und hilflos agierende politische Klasse haben ein menschenverachtendes Gedankengut in ungeahntem Ausmaß freigesetzt.

Als unsere Politiker vor Jahren die vor dem Zusammenbruch stehenden Banken als „systemrelevant“ mit Milliarden Steuergeldern gerettet haben, als der ehrenwerte Stéphane Hessel aufrief: „Empört Euch!“, da hätte man ja vermuten können, dass sich der Volkszorn erheben würde. Aber die Occupy-Bewegung blieb in Deutschland klein und schon bald hörte man nichts mehr von ihr, obwohl doch mit der Bankenrettung massives Unrecht geschah. Zur Erinnerung: In den Jahren 2008 bis 2011 stützten die Länder der Europäischen Union die Bankbranche mit 1,6 Billionen Euro. Laut einer Studie des Rheinisch-Westfälischen Instituts für Wirtschaftsforschung (RWI) von 2013 kostete Deutschland die Finanzkrise 187 Milliarden Euro. Wie kommt es, dass diese immensen Summen bereits aus dem kollektiven Gedächtnis verschwunden sind, aber die paar Kröten, die uns bislang die Flüchtlinge gekostet haben, zum Problem werden, das die Leute den politischen Brandstiftern und Bauernfängern in die Arme treibt?

am-Hunger-verdienenSoweit die Flüchtlinge nicht aus Kriegsgebieten kommen, werden sie gern als Wirtschaftsflüchtlinge bezeichnet. Sie erfahren noch weniger Solidarität und Mitgefühl als die Menschen, die vor den Gräueln des Bürgerkriegs flüchten. Dazu möchte ich einen Sachverhalt in Erinnerung bringen: Die Finanzkrise wurde ausgelöst durch die Immobilienkrise. Diese beiden Krisen zogen 2008 eine Nahrungsmittelpreiskrise nach sich, weil Geldanleger in Ermangelung besserer Möglichkeiten begannen, auf dem Weltmarkt mit Nahrungsmitteln zu spekulieren. Ich erinnere mich noch gut an entsprechende Anlagetipps in der deutschen Presse wie hier 2008 in WELT ONLINE, wo ganz unverhohlen dafür geworben wurde, am Hunger auf diesem Globus Geld zu verdienen. Das Resultat: Wie die Vereinten Nationen festgestellt haben, war nach der Nahrungsmittelpreiskrise die Zahl der Hungernden auf der Welt um 100 Millionen gestiegen. 100 Millionen Menschen, als hätte man ganz Deutschland und Belgien in den Hunger getrieben!

Zusätzlich betreiben die Industrieländer gegenüber den Entwicklungsländern Agrardumping, zwingen sie, Importbeschränkungen aufzugeben und ihre einheimische Landwirtschaft nicht mit Subventionen zu unterstützen, damit die Industrieländer ihre Produktionsüberschüsse aus der subventionierten Landwirtschaft in die dortigen Märkte drücken können, wodurch die heimischen Bauern ihre Existenzgrundlage verlieren. Dürfen wir uns wundern, dass die Menschen, denen wir alles nehmen, denen wir für unseren Wohlstand den Boden unter den Füßen wegziehen, nach Europa drängen?

Sie werden den gefahrvollen Weg nach Europa weiterhin wagen, solange die EU die Politik gegenüber ihren Heimatländern nicht ändert. Da hilft es auch nicht, die Boote der Schlepper militärisch zu bekämpfen. Wenn die seetauglichen Schiffe durch unser Militär zerschossen sind, steigen die Menschen eben in Schlauchboote und ertrinken auf hoher See. Das Grausige ist die Vorstellung, dass wir uns an die Nachrichten von Ertrunkenen gewöhnen könnten wie an unsere jährlich drei- bis viertausend Verkehrstoten. Sensibel sind wir weiter und zunehmend, was die politisch korrekte Sprachverwendung betrifft. Die Menschen dürfen im Mittelmeer ersaufen, solange wir sie nicht „Neger“ nennen, ist das soziale Gewissen beruhigt.

Ein Wort noch zum Tenor der öffentlichen Diskussion. Ihre Härte spiegelt schlicht die Härte unserer Gesellschaft, in der durch gewisse Medien jahrelang die Verachtung für die 12, 5 Millionen Armen in Deutschland geschürt wurde. Es sind vermutlich zuerst die Armen und Abgehängten unserer Gesellschaft, die sich vor dem Flüchtlingszustrom fürchten. Sie ahnen nämlich, dass diese Menschen mit ihnen da unten konkurrieren werden um Arbeitsplätze, billigen Wohnraum, wie sie bei der Tafel anstehen werden und dergleichen. Natürlich ist es der falsche Weg, diesen Menschen mit Hass und Verachtung zu begegnen. Sie kennen es längst. Nur der Ton ist schärfer geworden. Was uns helfen würde, wäre eine neue Mitmenschlichkeit, eine Besinnung im Bewusstsein, dass mit unserer Duldung vieles falsch gelaufen ist in unserer Gesellschaft. Das Elend der Flüchtlinge zwingt  uns, über unser moralisches Elend nachzudenken und anders und besser zu handeln.

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