Einen Porsche im Rückwärtsgang fahren

Das Netzwerk des Teestübchens, bestehen aus kommentierenden und still mitlesenden Bloggerinnen und Bloggern, dieses Netzwerk mit seinen Querbezügen zu anderen Blogs erscheint mir manchmal wie eine Dorfgemeinschaft, in der alle einander mehr oder weniger gut einschätzen können. Gelegentlich abonniert eine Fremde, ein Fremder mein Blog. Ich schaue dann nach, wer mir die Ehre gibt, und finde oft unvernetzte Blogs, worin jemand sich vorstellt, seine Ziele des Bloggens formuliert hat, aber keinerlei Hinweise gibt, mit wem er sich austauscht. Im Extremfall versteht die bloggende Person ihr Blog als Einkanalmedium, fährt also einen Porsche im Rückwärtsgang.

Ein im Straßenbild gelegentlich auftauchendes Graffito vermittelt die deprimierende Botschaft: „Niemand liest dein Blog.“ Gewiss gibt es Millionen Blogs mit diesem Schicksal. Oft steckt dahinter jemand, der das Medium gerade für sich entdeckt hat und die naive Vorstellung hegt, die Welt würde nach dem ersten Post sogleich applaudieren. Ich kenne das Gefühl aus jungen Jahren. Als im Jahr 1973 in einer Aachener Studentenzeitschrift erstmals ein Cartoon von mir abgedruckt war, habe ich auch geglaubt, zumindest die Stadt würde begeistert aufjauchzen und mir käme das irgendwie zu Ohren. Aber nichts geschah. Nicht mal in meinem Umfeld wurde applaudiert, selbst dann nicht, als ich monatlich eine ganze Seite für diese Zeitschrift zeichnete und schrieb. Später, während meiner Zeit als Lehrer, gelang es mir nach vielen Versuchen 1994 erstmals, eine Satire im Titanic-Magazin zu platzieren. Unter den rund 100 Kolleginnen und Kollegen gab es nur einen, der das wertschätzte. Eine Fachkollegin Kunst warf einen geringschätzigen Blick darauf und sagte: „Dafür hätte ich keine Zeit“, womit sie mir die arglos gezeigte Satire in den Mund zurückstopfte als einen wertlosen Zeitvertreib, dem nur solche nachgehen, die die schulischen Anforderungen nicht ernst nehmen. Dabei zählte ich zu den engagierten Lehrkräften, was sie von sich nicht sagen konnte.

Zurück zu den Blogs. Sie sind ein Medium der wechselseitigen Kommunikation. Sie funktionieren bestens in einem gepflegten Netzwerk des Gebens und Nehmens. Man kann nicht erwarten, gelesen zu werden, wenn man nicht bei anderen liest und kommentiert. Wer auf Beifall hofft, ohne selbst Beifall zu spenden, sollte weiterhin für die Schublade schreiben oder den Weg in ein Einkanalmedium finden. Weil es notwendig ist, bei anderen zu lesen und gegebenenfalls zu kommentieren, kann ein gut geführtes Blog kein Massenmedium sein.

Zur Orientierung für zufällige Besucher eines Blogs ist es gut, das Netzwerk zu zeigen, mit dem man interagiert. Manche Themes scheinen das nicht vorzugeben oder Blogger sind derart selbstbezüglich, dass sie darauf verzichten, sich zu vernetzen. Aufmerksamkeit bekommt aber in der Regel nur, wer aufmerksam agiert. Trotzdem ist es schwer, in der Konkurrenz um Aufmerksamkeit zu bestehen. Wer abgeschlagen ist, findet vielleicht Trost in einem kurzen Text von Franz Kafka: „Zum Nachenken für Herrenreiter“:
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Finde deinen ersten Blogeintrag im Internetarchiv!

Kürzlich zeigte arte den dystopischen SF-Film „Rollerball“ aus dem Jahr 1975. Die Welt ist darin beherrscht von wenigen Konzernen. Zur Unterhaltung der Massen dient der brutale Sport „Rollerball“, bei dem die Mannschaften bis aufs Blut gegeneinander kämpfen. Sie gehören den verschiedenen Konzernen, da Nationen abgeschafft sind. Abgeschafft sind auch Bibliotheken. Das kulturelle Erbe der Menschheit ist digital in einer zentralen Datenbank erfasst. Als der Protagonist dort recherchieren will, wann die Herrschaft der Konzerne begonnen hat, erfährt er beiläufig, dass der Zentralcomputer das 12. Jahrhundert nicht mehr auffindet. Da das Gedächtnis der Menschheit nur noch digital existiert, ist ein ganzes Jahrhundert verloren.

Im Jahr 1975 war an das Internet noch nicht zu denken. Von ihm heißt es: „Das Internet vergisst nichts.“ Die stereotype Formel stimmt nur bedingt. Alles, was sich mit Suchmaschinen finden lässt, muss ja irgendwo auf Servern gespeichert sein. Sobald Server abgeschaltet oder zerstört werden, sind auch die dort gespeicherten Seiten verloren. Im vergangenen März brannte in Straßburg ein Rechenzentrums-Verbund mit rund 100.000 Servern. Wie viele Kunden vom Datenverlust betroffen sind, lässt sich noch nicht abschätzen.

Bei meinem Aufruf zur Bloggeschichte taucht die Frage auf, ob denn die frühen Versuche überhaupt noch auffindbar wären, wenn es zu lange her ist und oder der Weblogdienst nicht mehr existiert und die Server abgeschaltet sind. Vorausgesetzt man weiß die damalige Internetadresse noch, gibt es eventuell eine Rettung: Verlorene Internetseiten speichert das schon 1996 gegründete Internetarchiv waybackmachine, ein gemeinnütziges Projekt mit Sitz in San Francisco. Ein Spiegelserver der Daten von San Francisco befindet sich sinnvoller Weise auf einem anderen Kontinent, nämlich in der ägyptischen Bibliotheca Alexandrina. Freilich ist die Speicherung von Blog-Postings lückenhaft. Man braucht etwas Glück. Wer seine alte Internetadresse nicht mehr weiß, kann testweise seine aktuelle in die Maske eingeben und findet seinen Anteil am kulturellen Welterbe der Menschheit. Viel Erfolg!

Weiter zum Projekt Sammlung historischer Bloggeschichten

Eine Sammlung historischer Bloggeschichten

Kollegin Marana hat gestern hier ein Faksimile ihres ersten Blogeintrags aus dem Jahr 2005 gezeigt, erstveröffentlicht in ihrem Blog auf der jetzt versunkenen Plattform Blog.de. Diese Anregung will ich aufgreifen. Mein erstes Blog ist unzugänglich, weil beizeiten gelöscht. Es hieß „Wolfsburg-Notizen“ und war insgesamt so düster wie der Name verspricht, denn ich heulte meinen Liebeskummer in die Nacht hinaus. Im Nu versammelten sich traurige und depressive Menschen darum und bestätigten, wie schlimm doch alles sei, dass es mich gruselte. Ich wollte kein schwermütiges Zentrum für gefühlsduseliges Gejammer betreiben.

Da fiel mir ein Teppichhandelsprospekt in die Hände, in dem schon wieder eine herzzerreißende Geschichte erzählt wurde. Diesen Text schrieb ich um und machte einen Ausverkauf der schlechten Gefühle. Anschließend hatte ich ein leeres weiß getünchtes Teppichhaus. Es sollte immer hell und freundlich sein, darum die Grundfarbe Rot-Weiß. Aus diesem Teppichhaus mein erster Beitrag, importiert von Blog.de, leider nicht im Original-Layout:

Erstveröffentlichung 11. November 2005, Teppichhaus Trithemius bei Blog.de

A U F R U F
Schreibe deine eigene Bloggeschichte, erkläre den Namen deines Blogs, zeige deinen ersten Blogeintrag und verlinke zu meinem Aufruf! Ich werde die Links zu den historischen Bloggeschichten unter diesem Beitrag hier sammeln und bin gespannt auf deine Geschichte.
EDIT Ich habe mich eventuell nicht klar ausgedrückt. Wünschenswert wäre ein eigener neuer Beitrag zur eigenen Bloggeschichte (wie von mir und Feldlilie beispielsweise) und Verlinkung hierher, damit die Leser*innen die Angaben auf euren Blogs finden und nicht hier in den Kommentaren suchen müssen.

1) Feldlilie, Trithemius frug …

2) Noemix, Falsche Antwort (Angaben zur Bloggeschichte im Kommentar weiter unten)

3) Tinderness, Sauseschritt Un, deux, trois.

4) frauhemingistunterwegs, Erster Blogeintrag – unterwegs

5) Karfunkelfee, Link zur waybackmachine, Im Reich des Kinderkönigs

6) Daggi Dinkelschnitte, Willkommen in der Dinkelebene

7) Herr Ösi, Da bin ich

8) Dieterkayser, 17. April, Schreibmann wird 18

9) Froggblog, Blog-Archäologie

10) Myriade, Mein erster Blogeintrag ohne Blogeintrag

11 Lo, Von der Melonia übers SPIEGELei zum Kohlenspott

Einiges über einiges

Vorrede – Die man getrost überspringen kann

Es gab eine Zeit, einige Jahre ist das her, da habe ich täglich geschrieben, was nicht etwa bedeutet, ich hätte nur irgendwo rumgesessen und etwas in mein Notizbuch, das ich immer bei mir hatte, wenn ich es nicht zu Hause hatte liegen lassen, wobei mein Zuhause damals in Aachen war, hineingekritzelt, wie vielleicht böse Zungen behaupten würden, kämen sie hier zu Wort, sondern ich habe sauber abgetippte Texte, gelegentlich auch selbst fotografierte oder selbst geklaute Bilder, Bildmontagen oder eigens erstellte Gif-Animationen, ja, sogar bei YouTube hochgeladene selbst gefilmte und geschnittene Videos in meinem Blog, das bekanntlich Teppichhaus hieß und aus drei Filialen bestand, die zu verschiedenen Zeiten jeweils das Haupthaus waren, wie jetzt dieses Teestübchenblog, in dem Sie, werter Leser gerade versuchen, sich durch ein Satzungeheuer zu wühlen, das Haupthaus ist, wo ich derzeit die meisten Leser habe, wobei ich die Leserinnen nur nicht erwähne, weil mich keiner einen Sexisten schimpfen können soll, indem er behauptet, ich würde die Leserinnen gezielt ansprechen, was sozusagen eventuell sexuelle Belästigung sein könnte, man weiß es nicht, denn im Internet wirken Texte ja viel unvermittelter, suchen sich den Weg direkt ins Stammhirn, unter Ausschaltung der Logik und der Vorsicht, wozu speziell allen Leserinnen hier mal ausdrücklich angeraten sei, also zur Vorsicht, dass sie sich der Logik zu bedienen verstehen, versteht sich von selbst und wird keinesfalls in Zweifel gezogen, denn das Stammhaus auf der versunkenen Plattform Blog.de hatte einst die eifrigste Leserschaft, was mich ungemein motivierte und dazu brachte, dort gut 1400 Postings zu veröffentlichen, veröffentlicht.

Hauptteil – In dem es um etwas Geheimes geht
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Gutenberg bei WP umgehen – zwei gute Tipps

Wer nach Möglichkeiten sucht, den unhandlichen WP-Editor mit dem hochtrabenden Namen „Gutenberg“ zu umgehen, findet im Netz fast nur Hinweise auf ein Plugin mit dem Classic-Editor. Dieses Plugin kann aber nur installieren, wer den teuren Businesstarif gebucht hat.
Kürzlich fand ich zwei preiswertere Möglichkeiten. Aus nicht nachvollziehbaren Gründen geriet ich beim Bearbeiten eines Textes ins gewohnte Backoffice mit dem Classic-Editor-Formular. Ich habe auf den Link im Browserfenster kurzerhand ein Lesezeichen gesetzt und kann damit den alten Editor problemlos aufrufen, nachdem ich einen Entwurf gespeichert habe. Die zweite Möglichkeit habe ich einem Kommentar der Userin Belana Hermine bei Kollegin Miss Tueftelchen gefunden (klick Abbildung).

Viel Vergnügen mit dem Classic-Editor und viel Erfolg!

Plausch mit Frau Nettesheim – Am Paketband knibbeln

Frau Nettesheim
Vielleicht sind Sie nur faul, Trithemius. Oder wie nennen Sie das, innerhalb eines Monats gerade einen Text zu veröffentlichen?

Trithemius
Erholung? Ferien? Urlaub? Schöpferische Pause? Wussten Sie, Frau Nettesheim, dass Urlaub von erlauben abstammt? Urlaub ist die Erlaubnis, nichts zu tun. Und weil ich mein eigener Chef bin, habe ich mir den Urlaubsschein selbst ausgestellt. Hätte ich Sie um Erlaubnis fragen müssen?

Frau Nettesheim
Das hier ist ein freies Weblog.

Trithemius
Warum spekulieren Sie dann, ob ich vielleicht nur faul wäre? Es ist wie bei einer Rolle Paketband. Ich kann einfach den Anfang nicht finden.

Frau Nettesheim
Sie haben eine Schreibblockade.

Trithemius
Scheint so. Wäre ich ein angestellter Schreiberling, dessen Urlaub geendet hat, müsste ich einfach loslegen, aber als freier Mann … Ich bringe lieber Altglas zum Container.

Frau Nettesheim

Übernehmen Sie sich nicht! Am Ende sind Sie schon wieder urlaubsreif.

Trithemius
Sie haben Recht, Frau Nettesheim. Ich lege mich dann besser gleich was aufs Ohr.

Editorial – Wenn der Autor einen neben sich gehen hat

Meine lieben Damen und Herren,
zu den Besonderheiten unseres Publikationsmediums zählt die Nähe zwischen Schreiberinnen und Leserinnen, Schreibern und Lesern, einmal bedingt durch die zeitliche Nähe von Schreiben und Lesen, jedoch hauptsächlich durch die Kommentarfunktion. Sie ermöglicht den persönlichen Kontakt auf eine Weise, wie es im Printmedium unmöglich oder nur selten möglich ist. Man muss schon eine öffentliche Autorenlesung besuchen, dann auch noch Glück haben, um mit Autorin oder Autor ins Gespräch zu kommen.

Diese Nähe in unserem Medium führt auch zu einer Verwischung der Grenzen zwischen Autor und Icherzähler. Aus der Buchkultur sind wir gewöhnt an die Vorstellung, dass es einen fundamentalen Unterschied zwischen beiden gibt. Der Autor, die Autorin ist eine reale Person, der Icherzähler/die Icherzählerin ist fiktional, also der Vorstellung entsprungen und lebt nur zwischen Buchdeckeln.

Die in drei Folgen veröffentlichte Erzählung „Bückling vor dem Formular“ ist so ein Fall. Sie ist bereits im Jahr 2014 veröffentlicht im E-Book „In meinem Bügeleisen ist beinah Vollmond.“ Man könnte jedoch glauben, dass sich in ihr Ereignisse abspielen, die meine derzeitigen Probleme betreffen. Die reale Vorlage für Jeremias Coster, mein Aachener Freund Thomas Haendly, ist bereits tot, und das Geschehen ist in Aachen angesiedelt, ohne dass es erkennbar wäre. Das geschilderte Konditorei-Café existiert wirklich.

Da ich in einigen Blogtexten persönliche Erfahrungen schildere, manchmal aber rein fiktional in Ichform erzähle, trage ich ungewollt zur Verwischung der Rollen bei. Deshalb will ich erzählenden Texten zukünftig eine eigene Kategorie zuweisen und ein eigenes Ikon voranstellen, das Traumzeit-Ikon. Das Bild ist der Ausschnitt aus einer farbigen Tusche-Arbeit, die ich gezeichnet habe, als ich noch jung und knusprig war. Nach und nach werde ich zurückliegende Texte in die Rubrik einordnen, auch die Erzählung „Bückling vor dem Formular“, wie bereits geschehen.

Botschaft aus der nur unscharf berechenbaren Randzone

Hannovers Wetter ist selten extrem, meistens irgendwas dazwischen. Wenn woanders das „Schneechaos“ Dächer zum Einsturz bringt, haben wir in Hannover so gut wie gar kein Wetter. Ein bisschen Schnee fiel vor Tagen, war sofort wieder weg und wich Regen. Regen? Mit richtigen Pfützen auf den Wegen? Hatten wir höchst selten in letzter Zeit. Der ich lange in Aachen gelebt habe, das als Regenloch verschrien ist, vermisse ich Wetter, so richtiges Wetter, bei dem die Naturgewalten zeigen, wer hier das Sagen hat. Ich mag kräftig durchgepustet werden, mag natürlich auch Regengüsse und mag es, mit dem Fahrrad nach schwerem Landregen unterwegs zu sein, wenn die Welt wie frischgewaschen ist. Einmal bog ich außerhalb Aachens nah der niederländischen Grenze leichtsinnig in einen Weg ein, der selbst für mein Alltagsrad ungeeignet war, denn er entpuppte sich zunehmend als unbefahrbar. Die schweren Reifen von Traktoren hatten im unbefestigten Feldweg tiefe Spuren hinterlassen, in denen das Regenwasser schlammig stand. Ein blauer Himmel und die Sonne hatten mich ganz vergessen lassen, wie sehr es in den Tagen zuvor geregnet hatte. Es war kaum zu verhindern, vom schlammigen Mittelstreifen in eine der unergründlich tiefen Pfützen in der Karrenspur zu schliddern, wo der Vorderreifen pratschend, gurgelnd und schmatzend eine trüb-lehmige Bugwelle vor sich her schob. Mensch, Hund und Pferd hatten schon vor mir die selbstverständliche Schönheit der Karrenspurpfützen zertrampelt.

Ich schilderte diese Tour 2006 im Teppichhaus-Blog, dem Stammhaus des Teestübchens und schrieb, dass die chaotischen Randzonen zertrampelter Pfützen mathematisch nur annähernd zu beschreiben sind, nämlich mit Rekursionsformeln, wie ich später erfuhr. Die Wendung „nur unscharf berechenbare Randzone“ hat ein damaliger Blogfreund, der Wiener Musiker Martin Kratochwil, alias Kurzweil, in einem Kommentar geprägt:

Das ist die Bedeutung des Bloguntertitels: „Nachrichten aus der nur unscharf berechenbaren Randzone.“ Als Bloggerinnen und Blogger schreiben wir meist über Dinge, die in den Mainstream-Medien unbeachtet bleiben, mal Privates, mal Politisches, manchmal Skurriles, Witziges, Erstaunliches, Nachdenkliches, auch Poetisches, Alltägliches, Wissenswertes, selten Subversives, doch immer Freigeistiges, insgesamt nichts Weltbewegendes, aber trotzdem ist’s Kultur im wahrhaft sozialen Austausch, wie das Hannöversche Wetter eben doch Wetter ist.

Von Zeitdieben und Bewohnern virtueller Dörfer

Lang ist es her, da saß ich täglich am Schreibtisch und zeichnete. Wenn ich hoch blickte zum Fenster hinaus sah ich eine junge Frau aus dem Haus gegenüber. Sie war kürzlich mit Mann und Kind dort eingezogen, und sie gefiel mir gut. Einmal dachte ich: Nie werde ich ihren Namen erfahren, nie werde ich mit ihr reden. Es gab keinen Grund es zu tun, denn sie hatte Familie, ich hatte Familie. Sie hätte ebenso gut auf dem Mond wohnen können, so fern war sie mir, obwohl sie mehrmals täglich vor meinen Augen durch die Haustür ging. So ist das in der Stadt. Man ist sich fremd, selbst mit den Nachbarn.

Kurz vor sechs im Supermarkt. Lange Warteschlangen vor den Kassen. Jeder steht da, ohne die Miene zu verziehen. Man gibt sich verschlossen und unnahbar. Die Wartenden in der Schlange sind nicht die Mitmenschen, sondern Zeitdiebe. An den Supermarktkassen steht eine temporäre Zwangsgemeinschaft aus Zeitdieben. Ein jeder stiehlt dem anderen die Zeit. Ärger keimt in dir auf, wenn da jemand voran in der Schlange den Einkaufswagen randvoll hat und dann seinen kilometerlangen Einkauf aufs Band legt. Und immer wieder die Unruhe um einen herum, weil da jemand herumschwirrt, der sich vordrängen will, indem er sagt: „Ich hab nur ein Teil!“. Hassenswert die Kartenzahler, von denen man glaubt, dass sie langsamer sind als Barzahler. Und wenn dann auch noch die Karte nicht funktioniert, ach, wie ist man genervt von den mehrmaligen Versuchen unter den Augen der fatalistisch guckenden Kassiererin. So ein Aufwand, solch ein Zeitdiebstahl, damit 5,96 Euro abgebucht werden können! Nervig auch der selbstverliebte junge Mann, der nach dem Bezahlen seinen Einkauf nicht abräumt, sondern in aller Ruhe einen Handyanruf beantwortet.

Warum ist das so? Warum sind die in den Warteschlangen nicht Mitmenschen, sondern Zeitdiebe? Warum redet man nicht untereinander, um sich die Wartezeit zu versüßen? Warum stiehlt man sich gegenseitig die Zeit, statt sie einander zu geben? Welchen Sinn haben die verschlossenen Mienen?

Bewohner fremder Dörfer – Foto: JvdL – (größer: Klicken)


Die Städter sind sich räumlich nah, doch innerlich fern. So fern ist man einander, wie ich und die junge Frau vom Mond uns fern waren. Der Grund ist einfach darzulegen. Es geht um Abstand von jenen, die man sich nicht ausgesucht hat. Man will zwar ein Gesellschaftswesen sein, doch die Gesellschaft wählt man sich aus und bildet Netzwerke in den Städten. So ist der Städter eigentlich ein Dorfbewohner. Allerdings ist sein Dorf virtuell. Es besteht aus diesem imaginären Netzwerk von ausgesuchter Gesellschaft, eventuell ergänzt um die Verwandtschaft. Mancher ist mit seinem Netzwerk nicht zufrieden. Die Menschen im eigenen Umfeld sind sich oft zu ähnlich. Da wäre ein exotischer Vogel nicht schlecht. Noch besser wäre natürlich eine berühmte Persönlichkeit. Leider verhält es sich meistens so wie bei Briefmarkensammlungen: Die wirklich Seltenen haben immer die anderen.

Eine Blogplattform bietet die Möglichkeit, andere Menschen ins eigene Netzwerk aufzunehmen. Das digitale Netzwerk ist eine Ergänzung der imaginären Netzwerke des Alltags. Seltsam, dass es leichter ist, mit fernen Menschen Kontakt aufzunehmen als mit den eigenen Nachbarn. Irgendwann in der Zukunft wird man über solche Verhaltensweisen lachen. Wir werden es leider nicht mehr erleben, denn bevor der von nebenan unser Mitmensch wird, muss noch viel Wasser den Rhein hinunter laufen.

Forschungsreise zu den Franken (3) – Christian und ich

Jeweils an meinen Geburtstagen in den Jahren 2012 und 2013 hat Gottes Stiefelabsatz nach mir gezielt, und beim zweiten Mal bin ich ziemlich ramponiert darunter weg gekrochen: 2012 erlitt ich einen Herzinfarkt. Er kam nicht aus heiterem Himmel, hat mich aber trotzdem überrascht, weil ich gewohnt war, dass mein Körper mir keine Kapriolen macht. Gerade hatte ich mich erholt, hatte wieder Zutrauen zu mir gefasst, erwischte mich genau ein Jahr später ein Schlaganfall, in dessen Folge ich wieder Stehen, Gehen und Sprechen lernen musste.

„Herzinfarkt UND Schlaganfall?“, fragte ich ungläubig, als ich es noch nicht wahrhaben wollte.
„Klar“, sagte der Arzt, ein Gemütsmensch, „man kann ja auch Läuse UND Flöhe haben.“
„Mag sein, aber so einen kenne ich nicht.“

Eine Weile habe ich mich ängstlich beobachtet, weil ich meinem Körper nicht mehr traute, und sah jedem Geburtstag bang entgegen. Dieses Misstrauen bedingte, dass ich auch mein zuvor unerschütterliches Selbstvertrauen verlor. Da ich geistig frischer war denn je, habe ich alles daran gesetzt, auch wieder körperlich fit zu werden. Zeitweise bin ich wöchentlich zu vier Therapien geradelt. Mit meinen langsamen Fortschritten wuchs das Zutrauen. Trotzdem habe ich mich in den letzten fünf Jahren überwiegend in vertrauten Bereichen bewegt. Im Umgang mit Fremden bin ich ein bisschen scheu geworden, zumal die Modulationsfähigkeit meiner Stimme erst spät zurückkehrte und auch jetzt noch nicht völlig meinen Wünschen entspricht.

Meine digitale Existenz hat mir in allem sehr geholfen, denn dort konnte ich ignorieren, dass ich körperlich beeinträchtigt war, mal abgesehen davon, dass ich seit dem Schlag mit einem Finger schreibe und das sehr fehlerhaft. Es geht nicht gerade nach dem polizeiinternen Terroristensystem: „Jede Sekunde ist mit einem Anschlag zu rechnen!“, aber unwesentlich schneller, wenn ich Korrekturzeiten hinzurechne. Das regelmäßige Bloggen hat mir sehr geholfen. Wer bei mir liest, likt und kommentiert, hat dazu beigetragen, mich wieder aufzubauen. Dafür bin ich allen sehr dankbar.

Nach fünf Jahren wage ich wieder einen Schritt aus den vertrauten Kreisen in eine mir völlig fremde Welt. In Nürnberg bin ich nie zuvor gewesen, nur durchgefahren, wenn ich zu meiner Münchner Freundin pendelte, damals vor Gottes zweitem Stiefeltritt. Meinen Buchlayouter Christian Dümmler (CD) wollte ich immer schon kennenlernen, denn fernschriftlich waren wir uns vertraut und sympathisch. Zudem hatte mich socopuk zu ihrer Ausstellung eingeladen. Für meine Reise hatte ich mir aber ungünstige Bedingungen ausgesucht, denn die Hitze scheint mir glatt lebensgefährlich für einen wie mich zu sein.

Wie schön, dass es noch geht, einfach in ein Taxi zu steigen und eine Adresse zu nennen. Der ortskundige Taxifahrer fährt los, statt zu sagen: „Damit ich Sie fahre, brauchen Sie eine Smartphone-App, und ich Ihre Bestätigung, dass ich Ihre Bestands- und Bewegungsdaten weitergeben darf.“ Uber und vergleichbaren Smartphone-Buchungsquark bräuchte es meinetwegen nicht zu geben. Der Taxifahrer stutzt, als ich ihm die Hausnummer nenne, und siehe da, er findet sie nicht, sondern lässt mich in der Nähe raus. Ich irre ein Stück durch die Hitze, bis jemand hinter mir meinen Namen ruft und Christian mich einsammelt.

Es geht zu wie immer. Man kennt sich zwar nicht, aber wir kennen uns. Es dauert nicht zwei Minuten, da sind digitale und analoge Existenz verschmolzen, was ein erstaunliches Phänomen ist. Ist man sich schreibend sympathisch, mag man auch den äußeren Menschen. Christian trägt einen Sommerhut und ist viel jünger als ich gedacht hatte. Freundlicherweise nimmt er die Schuld mit der falschen Hausnummer auf sich, aber ich vermute, dass er sie mir korrekt genannt hat, ich sie aber falsch aufgeschrieben habe. Ich bin in einer reizarmen Welt aufgewachsen, was bedingt, dass mich zu viele Eindrücke überfordern und es zu Fehlleistungen kommt.

Christians Atelier im Rückgebäude (hier ein Bild) ist angenehm kühl. Die lange Fensterfront zeigt nach Norden. Ich erkenne im Raum große Leuchttische, an der Wand eine professionelle Fotografie-Einrichtung mit Vorhang, Beleuchtung und Kamera auf Stativ, zwei große Computer-Bildschirme, Kunst an den Wänden, Schränke und viele viele Dinge, zuviele als dass ich sie hätte registrieren können. Etwa drei Stunden sitzen wir zusammen und erzählen uns was. Außerhalb der Ferien hat er immer mehrere Praktikanten. Christian zeigt mir Arbeitsproben, einige DIN-A-5-Heftchen mit Tuschezeichnungen und hübsch geletterten Texten. Ich staune über die kalligrafische Qualität, und er sagt: „Ja, bei mir müssen die schreiben.“ Einige kenne ich, Christian hat sie bei meinem Philobiblon-Projekt mitmachen lassen. Das schön in Fraktur geschriebene Heft der Praktikantin Cornelia schaue ich mir näher an. Sie war mir schon im Blog als fähig aufgefallen. Natürlich blättere ich viele Hefte nur an und ignoriere einige, was ich später bereue, was mich bei unserem Abend im Biergarten sogar ein bisschen traurig macht. Buchkunst, Drucktechnik und Typografie  sind das fachlich Verbindende zwischen uns, aber Christian ist Künstler, der „overlord of bookdesign“, wie ihn der amerikanische Fotograf und Buchgestalter Jason Koxvold genannt hat, während ich aus der handwerklichen Tradition komme. Nach gut drei Stunden und mehreren Ladungen Eis für die Getränke verabschiede ich mich zur Siesta im Hotel. Wir wollen am Abend noch zum Biergarten gehen.

Fortsetzung