Eine Frau namens Ramona

Weil ich einen frühen Termin hatte, wollte ich anschließend in der Bäckerei frühstücken, wo ich sonst meine Brötchen kaufe und zwar so, dass ich den mitgebrachten Stoffbeutel wortlos auf die Theke lege, und die großgewachsene ältere Bäckereifachverkäuferin packt mir meine tägliche Bestellung hinein. In der Bäckerei saß bereits ein vierschrötiger Mann und studierte die Bildzeitung. Die Verkäuferin saß ebenfalls an einem der Tische und las in Unterlagen. „Ich bin sofort bei Ihnen!“, rief sie mir zu, packte bald die Blätter zusammen und kam hinter die Verkaufstheke. Ein Blatt verlor sie.

Der vierschrötige Bildleser rief: „Du hast was fallen gelassen, Anne!“
„Sag nicht Anne zu mir!“, murrte sie, indem sie das Blatt aufhob. „Äh, Ramona!“, korrigierte er sich. Derweil ich einen großen Kaffee und ein belegtes Brötchen bestellte, dachte ich darüber nach, dass der Vorname Ramona ganz aus der Zeit gefallen ist. Von den Tausenden Schülerinnen, die ich seit dem Jahr 1980 unterrichtet habe, hat nie eine Ramona geheißen. Wohl war mehrmals Anne dabei. So wunderte ich mich, dass die Bäckereiverkäuferin auf ihren Namen bestand und dachte, gleich wie blöd ein Name ist, er wird doch irgendwann Bestandteil der Person. Ramona kommt mir vor wie der Name einer Bar im Hafenviertel. In meinem Kopf heben die Blue Diamonds an zu singen:

Ramona, zum Abschied sag ich dir Good by,
Ramona, ein Jahr geht doch so schnell vorbei.
Verzag‘ nicht und frag‘ nicht
Denn in Gedanken bin ich bei dir
Bei Tag bringt die Sonne
Bei Nacht der Mond die Grüße von mir.

Ramona, denk‘ jeden Tag einmal daran
Ramona, dass nichts vergeht, was so begann
Nach einem Jahr steh‘ ich mit Blumen vor der Tür
Ramona, dann bleib‘ ich bei dir.

Es ist der Schlager meiner Kindheit. Dass ein Jahr doch so schnell vorbei geht, fand ich damals gar nicht. Ein Jahr war ein Zehntel meines ganzen Lebens und kam mir vor wie eine Ewigkeit. Insofern tat mir die unzulänglich vertröstete Ramona leid. Was ist das überhaupt für eine Art, sich mit Good by für ein Jahr zu verabschieden? Das ganze verstieß gegen mein kindliches Gerechtigkeitsgefühl. Er macht sich auf die Socken, und sie soll nichts fragen, sondern brav in den Mond gucken, bis er irgendwann mit einem Strauß Gemüse vor der Tür steht.

Dass da zwei Schmalzlocken in Ichform singen, fand ich ebenso befremdlich. Wer von beiden verabschiedet sich denn jetzt von Ramona? Damals wusste ich noch nichts vom lyrischen Ich. Rückblickend würde ich besagter Ramona dringend empfehlen, dem lyrischen Ich einen Tritt zu geben, was freilich ein Kunststück wäre, quasi ein Tritt ins Leere. Ersatzweise kann sie dem Vierschrötigen die Bildzeitung um die Ohren zu schlagen. Wäre überhaupt gut. Liest einer die Bildzeitung, kommt eine Ramona und haut sie ihm saftig um die Ohren. Das würde schon mal helfen.

Im Bild: Warten auf Ramona – Foto: JvdL.

Schweine im Newsroom

Man kann sich denken, wovon sich Redakteure der Bildzeitung hauptsächlich ernähren, von Schwein. Schwein in jeder Variante – roh als Mett auf dem Brötchen, Schwein als Schnitzel in der Kantine und natürlich Blutwurst, jederzeit und überall Blutwurst. Wurst vom Schwein. Nur boshafte Menschen denken hier an Ludwig Feuerbachs Bonmot: „Der Mensch ist, was er isst.“ Dürfen Kinder daran gehindert werden, das Schweinische zu spachteln?
Bei Bild klingeln die Alarmglocken:


Verständlich, wenn sich Bildredakteure um Nachwuchs sorgen, auch plausibel, „Seelenheil“ in Anführungszeichen zu setzten. Höhö! „Seelenheil“ bei Kindern, zwinkerzwinker. Wozu brauchen Kinder Seelenheil? Schläfenschraube

Typisch Deutschland. Kitas verbieten Schweinefleisch und auch noch Gummibärchen! Am Ende verbieten durchgeknallte Erzieher*Innen sogar die Kinderrechtspostille Bildzeitung. Und wer setzt sich dann für das Kindswohl in deutschen Kitas ein? Wir können doch nicht das Kindswohl allein den leidenschaftlichen Erziehern der Regensburger Domspatzen überlassen.

Mutmaßung über Männer und Müll

Gestern im Marktcafé. Ich sitze am Fenster und beobachte das Geschehen auf dem besonnten Markt, derweil ich meine Suppe löffle. Plötzlich eilt ein Mann heran, der aussieht wie Julian Reichelt, der talentierte neue Chefredakteur der Bildzeitung. Ich denke, nein, er ist es nicht. Warum sollte Reichelt über den Lindener Markt eilen? Zudem hat er einen Brüller in der Hose, wie diese Hosen früher genannt wurden, deren Schritt zwischen den Knien hängt, dass es aussieht, als hätte der Träger ein Ei rein gelegt und trüge es jetzt spazieren, weil er keine Gelegenheit gefunden, es heimlich zu entsorgen.

In solche Verlegenheit würde ein distinguierter Boulevardjournalist nie kommen, da er doch mit seiner Zeitung immer einen Wisch zur Hand hat, groß genug, jedes fäkale Unglück einzupacken, zumal, das wäre noch nachzutragen, der Mann, der wie Julian Reichelt aussieht, einen prallen schwarzen Müllsack trägt und mit der anderen Hand eine Mülltonne zieht. Das ist nicht so einfach wie es sich liest, denn der Lindener Markt ist an manchen Stellen grob gepflastert, wo eine beräderte Mülltonne ins Taumeln gerät, wenn man sie hinter sich her zieht. Plötzlich schaut der Mann, den wir der Einfachheit halber Reichelt nennen, der schaut auf und schaut sich um, sieht noch mehr aus wie sein eigener Doppelgänger, schaut sich heischend um und ist plötzlich von einer Horde junger Männer umschwärmt, die ihrerseits taumelnde Mülleimer hinter sich herziehen und prallvolle Müllsäcke tragen.

Bei dieser interessanten Choreographie gibt Reichelt den Ton an, wie es sich für einen Chef gehört, zerrt seine widerspenstige Mülltonne seitlich heran und bringt sie zum Stehen, öffnet die Klappe und versucht, den prallen Müllsack hineinzuzwängen, obwohl jeder verständige Mensch klar sieht, dass die randvolle Mülltonne nicht auch noch einen prallen Müllsack aufnehmen kann. Da hilft kein ungeduldiges Stopfen. Seine Gefolgsleute versuchen ihrerseits, die Säcke in ihre Mülltonnen zu stopfen, denn sie vertrauen ihrem Chef und denken: Wenn der das gegen alle Vernunft versucht, versuche ich es auch. Es wäre ja möglich, dass der Chef seinen Sack erfolgreich reinzwängt, und wie stünde man dann da, wenn man seinem guten Vorbild nicht gefolgt wäre? Der Reihe nach geben sie auf, Reichelt zuerst, dann seine Adepten. Dann streben sie wieder voran mit ihren taumelnden Mülltonnen und den Säcken, die hindernd gegen ihre Beine schlagen, und verschwinden aus meinem Blickfeld. Was für ein herrliches Fenstertheater, denke ich noch und löffle den Rest meiner Minestrone.

Wenig später fuhr ich mit dem Rad zum Einkauf und überquerte den Platz „Am Küchengarten.“ Dort stand ein großer Müllcontainer, und Reichelt wie ein Feldherr oben auf der Leiter leitete seine Vasallen an, die Tonnen zu leeren und die Säcke abzuladen. Den naheliegenden Schluss, ich hätte die Redaktion von Bild Hannover bei der Arbeit gesehen, will ich korrekterweise von mir weisen. Ich fuhr viel zu schnell vorbei, als dass ich hätte sehen können, was die Kerle da genau gemacht haben.

Den Affen gehts gut – sind glücklich tot

„Eine Affenschande“ titel heute die Bildzeitung. Und Tagesschau.de veröffentlicht das Bild eines zerknirscht schauenden Volkswagen-Vorstandsvorsitzenden Matthias Müller mit der frohen Botschaft: „VW kündigte an, in Zukunft auf Tierversuche zu verzichten.“ Das klingt nebenbei, als wären Tierversuche bei VW in der Vergangenheit immer üblich gewesen. Ein neuerdings um das Wohl von Affen besorgter Tagesschau.de-Forist fragt: „Wie geht es denen eigentlich???“, während sich ein anderer zu der komplett ahnungslosen Behauptung aufschwingt „Keiner ist dabei gestorben.“

Quelle: Tagesschau.de


Die scheinheilige Aufregungsunkultur bei der Bildzeitung, ein Vorstandsvorsitzender, der mal wieder nichts gewusst hat, oder die Naivität der Foristen, alles ist gleichermaßen deprimierend. Vivisektion bedeutet, dass nach Abschluss einer Versuchsreihe sämtliche Versuchstiere getötet werden, auch wenn sie körperlich unversehrt geblieben sind und nicht durch bestialische Eingriffe dauerhaft geschädigt wurden. Man tötet die Versuchstiere, weil sie in wissenschaftlicher Hinsicht verbraucht sind. Ihr erneuter Einsatz in einer Versuchsreihe könnte das Ergebnis verfälschen, wobei die Aussagekraft von Tierversuchen ohnehin umstritten ist, nicht nur, wenn Affen Dieselabgase einatmen müssen.

Ein Wort noch zur Bildzeitung. Im Februar 2014 stellte Bild einen „herzlosen Zoochef zur Rede“, den Dänen, der die Tötung des „Giraffen-Jungen Marius“ und dessen Verfütterung an die Raubtiere zu verantworten hatte. Wie hier die Volksseele zum Sieden gebracht und wieder heruntergekühlt wird, ist ekelhaft. Es hilft nichts, sich von Bild was in die Tasche lügen zu lassen. Letztlich scheint es doch so zu sein, dass der Verzehr von Fleisch den Menschen abstumpft gegenüber dem Leid anderer Lebewesen, und er ist bereit, zu seinem Genuss jegliche Barbarei zu akzeptieren. So ist der brutale Umgang mit dem Tier alltägliche Praxis in unseren Gesellschaften. Wer eingekerkerte Raubtiere im Zoo besichtigen möchte, ist auch Täter, nicht allein ein Zoodirektor, der ihm das ermöglicht. Wer Huhn essen will, begünstigt auch das Kükenschreddern. Wer sich um das Wohlergehen der VW-Versuchsaffen sorgt, glaubt auch, dass Raubtiere im Zoo oder Zirkus mit Reiswaffeln gefüttert werden. All dieser unfassbare Selbstbetrug, man denkt nicht, es mit vernunftbegabten Erwachsenen zu tun zu haben.

Letztlich wird die „Affenschande“ VW nicht schaden. Es hat einen morbiden Charme, ein Auto aus einem Konzern zu fahren, der aus Nazi-Ungeist entstanden ist und in schauerlicher Tradition VerBegasungen anordnet, ohne dass sich irgendein Verantwortlicher findet – im Zirkus des schlechten Geschmacks.

Von beleckten Buntstiften und zermanschten Kartoffeln

Kürzlich hat sich der Journalist und Titanic-Kollege Bernd Fritz das Leben genommen. Er wurde 71 Jahre alt und hat in seinem Leben Beachtliches geleistet. Den medialen Nachrufen war zu entnehmen, worin seine wichtigste Lebensleistung bestand. Er hat im Fernsehen an Buntstiften gelutscht und deren Farbe angeblich am Geschmack erkannt. Damit habe er sich ins „kognitive Gedächtnis der Deutschen gemogelt“, hat ein Fernsehmoderator namens Thomas Gottschalk der Bildzeitung gesagt. Ich kann bei Bild aus Gründen nicht nachschauen, habe deshalb aus der Stuttgarter Zeitung zitiert. Vielleicht stammt der Fehler von dort, denn sinnvoll ist in dem Zusammenhang doch nur das „kollektive Gedächtnis.“ Die Kollegen der anderen Blätter zitieren übereinstimmend denselben Quatsch. Vielleicht verstehen aber Gottschalck und die komplette Journaille nicht den Unterschied zwischen kognitiv und kollektiv. Zum Mitschreiben: „Kognitiv“ bedeutet grob „die Erkenntnis betreffend.“ Ein dressierter Affe kann erkennen, ob einer an Buntstiften lutscht. Eine derart schwache Verstandesleistung kann nicht gemeint sein. „Kollektiv“ bedeutet „gemeinschaftlich.“ Wie es das „kognitive Gedächtnis der Deutschen“ nicht geben kann, höchstens „eines Deutschen“, ist das „kollektive Gedächtnis der Deutschen“ zwar sinnvoll, aber ein Konstrukt, eine Metapher. Es gibt keine Entsprechung in der Dingwelt. Gemeint ist, woran sich eine Gemeinschaft erinnert. Diese Gemeinschaft scheint leider nur so verständig zu sein, wie ihre dümmsten Mitglieder, denn das „kollektive Gedächtnis“ speichert nur kindliche Sachen wie Buntstiftlutschen.

Anderes Beispiel: Wenn sich noch jemand an den Schauspieler Raimund Harmstorf erinnert, dann vermutlich, weil er in dem TV-Mehrteiler „Der Seewolf“ vom Dezember 1971 mit der bloßen Hand eine Kartoffel zerdrückt hat. Schon hatte das kollektive Gedächtnis Harmstorf auf die Rolle des Kraftmeiers festgelegt, obwohl später bekannt wurde, dass die Kartoffel gekocht gewesen war. Auch Harmstorf ist freiwillig aus dem Leben geschieden. Das Drehbuch dieser Tragödie haben die Bildzeitung und RTL geschrieben.

Am 2. Mai 1998 hatte die Bildzeitung in großen Lettern getitelt: „Seewolf Raimund Harmstorf in der Psychiatrie“ und weiter: „Mit aufgeschnittenem Handgelenk von der Polizei aufgegriffen.“ Die Falschmeldung war am Abend vom RTL-Magazin „Explosiv“ aufgegriffen und einem Millionenpublikum ins kollektive Gedächtnis gedrückt worden, ein schweres Stigma für einen Seewolf. „Das ist mein Todesurteil“, soll Harmstorf zu seiner Lebensgefährtin gesagt haben. Stunden später, am 3. Mai 1998, erhängte er sich. Die Einzelheiten hier.

Derzeit vernebelt man das kollektive Gedächtnis mit Warnungen vor Fake News im Internet. Es wäre zu wünschen, die Deutschen würden mal nachhaltig speichern, welches Drecksblatt die Bildzeitung ist, und sie nicht mehr kaufen, noch anfassen. Populäre TV-Moderatoren sollten sich schämen, sich von der Bildzeitung, der charakterlosen Mutter aller Fake News, zitieren zu lassen und Bundesinnenminister Lothar de Maizière sollte nicht ausgerechnet dort seine fragwürdigen Grundsätze unserer Leitkultur veröffentlichen. Nach dem gestalttheoretischen Prinzip: „Paarung wirkt auf die Partner“ lautet die Botschaft: Die Deutschen sind rundum unerfreuliche Menschen, nämlich kollektiv gewissenlos, sensationsgeil, blutrünstig, menschenverachtend, schlicht doof. Von solchen kulturellen Ideen möchte man sich schon aus kognitiven Gründen lieber nicht leiten lassen.

Gestrandet, wo man „Ciao!“ zum Abschied sagt

Inmitten trüber Gedanken befiel mich heute die Einsicht, dass ich in diesem Hannover gestrandet bin wie auf einem Planeten fern der Heimat. Da war ich schon auf dem Weg zum Getränkemarkt, um ein wenig flüssige Heimat zu holen. Wie zur Bestätigung dieser düsteren These tauchte da aus dem diesigen Grau dieses Nachmittags ein Schild auf. Was hat da wohl auf der Tafel gestanden, wo gewischt und korrigiert worden ist? Es muss ein kurzes Wort gewesen sein. Stand da etwa „Das letzte Getränkesortiment der Galaxis!“ adäquat zu „letzte Tankstelle vor der Autobahn“ oder „Das Reste-Getränkesortiment der Galaxis?“
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Jedenfalls nehme ich die Tafel als galaktischen Fingerzeig, dass ich mit meiner Eingangsvermutung nicht so falsch liege. Wer im 18. Jahrhundert nach einem Schiffsunglück an einer englischen Küste strandete, den steckten die Ureinwohner meistens ins Irrenhaus, wo er mit kalten Wassergüssen traktiert wurde, bis jemand merkte, dass das vermeintlich irrsinnige Gestammel des armen Opfers eine fremde Sprache war. Hab ich mal gelesen oder habs mir ausgedacht. Jedenfalls weiß ich es und bin vorgewarnt.

Im galaktischen Getränkemarkt wurde ich eben mit dem mir fremdländisch klingenden „Ciao!“ verabschiedet. Gestern hörte ich das auch schon. Da kam der emsige Bildzeitungsleser in den Biosupermarkt, als ich gerade meinen leeren Suppenteller wegbrachte, und fragte, ob mein Platz jetzt frei würde. Ich musste noch meinen Rucksack holen – da saß er schon da, in seine Dreckspostille vertieft und holte sich die tägliche Rate Hirnerweichung. Ich sagte „Tschüss!“ und er rief ebenfalls „Ciao!“

Ich dachte, so verabschieden sich außer den Leuten in Italien nur Club Mate schlürfende Hipster oder die Prosecco saufenden Mitglieder der Toskanafraktion. Wieder was gelernt! Man kann in Hannover-Linden also täglich das Fachblatt für Dixiklos und Bauwagen studieren wie die Offenbarung und zum Abschied ganz weltmännisch „Ciao!“ rufen. Da komme ich mir mit meinem rheinländischen „Tschüss“ glatt ein bisschen simpel vor, obwohls ja eigentlich eine Form von französisch „adieu“ ist, allerdings verschliffen und nicht so fein.

Gestern saßen der Bildzeitungsleser und ich sogar notgedrungen an einem Tisch. Ich beeilte mich wegzukommen und sagte: „Tschüss!“ Er kontert „Ciao!“ „Dat säht mer nit!“, denkt der Kölsche in mir. Auf diesem Planeten ist alles komplett durcheinander. Die Bildzeitung lesen und „Ciao!“ rufen ist wie Latte macciato aus dem Pisspott saufen oder Prosecco pinkeln trotz Prostatakarzinom.

Uff, Schwerkraftwellen

Gestern Morgen habe ich mir Kaffee gemacht und anschließend gefrühstückt. Es war gegen 7 Uhr, könnte aber auch früher gewesen sein. Ich guckte mich um und dachte: Huch, was is’n das? Ich hab ja ein Fenster in meiner Küche! Da hab ich doch glatt mal rausgeguckt. Unten auf dem Fußweg kam eine stämmige junge Frau heran. Sie sah aus, als würde sie etwas wirklich Schweres transportieren. Obwohl der Weg dort flach ist, ging sie vorne über gebeugt und stampfte quälend langsam näher, als ginge es da unten den Berg hinauf. Da ahnte ich schon, dass mal wieder die geheimnisvollen Schwerkraftwellen im Spiel sein müssten. Prompt meldete Bild gestern: „Einsteins Gravitationswellen entdeckt!“ So oder ähnlich lautete die Schlagzeile, ich hab den genauen Wortlaut vergessen, denn ich konnte den Text beim Mittagstisch nur mit einem Seitenblick erhaschen. Da saß nämlich wieder der emsige Bildleser.

Den sehe ich fast täglich, einen Mann, der die lange graue Mähne wie ein Künstler nach hinten gekämmt trägt, schokoladenbraune Kordhose, Jeansjacke, stylische Lesebrille auf der Nase, Latte macchiato trinken und die Bildzeitung von vorne bis hinten studieren. Ein Künstler zweifellos, denn es ist große Kunst, die Bildzeitung zu lesen und dabei wie ein Intellektueller auszusehen. Ich könnte das nicht. Man würde mir ansehen, dass ich mich schäme. Darum beneide ich Leute wie ihn um ihre Blendkraft. Just durch diesen Biosupermarkt schritt mal ein Hipster und trug in der Hand was spazieren, mit soviel Stolz, dass ich dachte, es ist mindestens Kants „Kritik der reinen Vernunft“, aber es war nur eine Schachtel Staubsaugerbeutel. Ich glaube, manche bestehen nur aus Außenwirkung. Oder wie Gottfried Benn treffend sagt: „Zaubern, Seiltrick, Nichts – und darüber Glasur.”

Sorry, vom Thema abgekommen. Es ging um Schwerkraftwellen. Anderswo in Hannover – am Max-Planck-Institut für Gravitationsphysik – hat man ein mikrofeines sekundenlanges Zittern von Laserstrahlen verzeichnet, die Fernwirkung einer Kollision zweier schwarzen Löcher in einer Entfernung von 1,3 Milliarden Lichtjahren.

aufpassenSchwester(Zeichnung aus: Kristall (1952), Montage: Trithemius, größer: klicken)

Inzwischen ließ das Max-Planck-Institut für Gravitationsphysik verlauten, weil es die von Einstein in der Relativitätstheorie vorhergesagten Gravitationswellen offenbar tatsächlich gebe und man jetzt wüsste, wonach zu suchen ist, würden wir zukünftig häufiger mit Schwerkraftwellen zu tun haben. Man erwägt ein Frühwarnsystem einzurichten, denn es wäre ein sträfliches Versäumnis, wenn aus den Tiefen des Universums ein Gravitations-Tsunami heranrollen würde, der Laserstrahlen nicht nur mikrofein, sondern eventuell sogar hauchfein erzittern ließe, ohne dass die Öffentlichkeit davon erführe. Mindestens in der Bildzeitung müsste das stehen, damit auch die Intellektuellen Bescheid wüssten – und man werde dafür sorgen, vorausgesetzt der Forschungsetat würde kräftig erhöht, am besten sogar verdoppelt, die Nachricht vom sekundenlangen Zittern der Laserstrahlen zeitnah auch auf den Schachteln von Staubsaugerbeuteln zu vermelden.

Ich hingegen verspreche, gegen ein geringe Gebühr pro Leserin und Leser Bescheid zu geben, wenn unten auf dem Fußweg mal wieder eine stämmige Frau gegen Gravitationswellen ankämpft. Ersatzweise teile ich mit, wenn ich Kaffee gemacht und aus dem Küchenfenster geguckt habe.

Schönes Wochenende