Gerade als die Linie 9 die Haltestelle Noltemeyerbrücke passiert hatte, weht mich ein fast vergessener Geruch der Vergangenheit an. Ein Mann war zugestiegen und setzte sich in meiner Nähe hin. Er war wohl ein starker Raucher. Während die Bahn den Mittellandkanal überquerte, fühlte ich mich für einen Moment zurückversetzt in die Zeit meiner Schriftsetzerlehre. Da fuhr ich täglich mit dem Bus nach Neuss, das damals noch Neuß geschrieben wurde. Wenn ich früh um 6:40 Uhr einstieg, war der Bus noch leer. Bald wand er sich wie ein Lumpensammler über die Dörfer und wurde voll. Wenn es das Pech wollte, setzte sich ein Mann neben mich, den eine Wolke Gestank umgab. Der war mir unangenehm für die Nase, wie das Kreischen einer Kreissäge fürs Ohr. Es war die Mischung aus kaltem Zigarettenrauch, der aus ungelüfteter Kleidung aufsteigt, und Körpergeruch von Männern, die nur einmal in der Woche baden, sonst aber das Wasser meiden. Es war ein Gestank, an den ich mich nicht gewöhnen konnte. Er verdarb mir die ganze Fahrt. Ich hatte nicht gewusst, dass er noch in der Welt ist. Aber wenn Politiker den Leuten das Duschen ausreden und auf den Waschlappen verweisen …
Als wir in die Station Bahnhof einfuhren, sah ich aus dem Augenwinkel zwei blonde Frauen, die einander ähnlich waren. Sie stiegen hinter meinem Rücken ein. Die eine setzte sich zu mir, die andere auf die Bank der anderen Gangseite. Beide wandten einander zu und unterhielten sich. Da sie quasi vor mir saßen, konnte ich nicht umhin, sie zu betrachten. Die Schwestern trugen die Haare zum Pferdeschwanz gebunden und waren fast gleich gekleidet, anthrazitfarbene Bolerojäckchen über weißen T-Shirts, hautenge schwarze Jeans, weiße Sneakers. Die vor mir war etwas schlanker und offenbar die jüngere. Beide Frauen waren wüst tätowiert bis unters Kinn und zu den Fingerknöcheln. Ich wagte mir nicht auszumalen, wie es an den Körpern der beiden aussehen mochte. Aus dem Halsausschnitt der vor mir lugte zwischen anderem Gekritzel eine tätowierte „94“ , vermutlich ihr Geburtsjahr.
Der Jugendliche in mir überschlug ihr Alter und dachte entsetzt: So jung und schon so verschandelt. Da es mir kaum gelang, ins neutrale Leere zu starren, gewahrte ich, dass sie vorne durch die Scheidewand einen Nasenring trug. Ihre Ohrläppchen waren Hülsen aus Messing, gerade noch von ein bisschen gespannter Haut gehalten, die Ränder ihrer Ohren waren durchbohrt und mit kleinen Ringen besetzt. Und schaute ich nach schräg gegenüber, fand ich bei der anderen alles gleich, in verstörender Eintracht der Selbstverstümmelung. Tätowierung und Beringung ist Sklavenart, fand der sensible junge Mann vom Dorf und ich konnte ihm kaum widersprechen. Mode! Ist Mode, sagte der abgeklärte Städter. Und oft sind es die aus der Provinz, die jedes Maß verlieren, weil sie in der Stadt reüssieren wollen. Stell dir vor, du hast zwei durchgeknallte Töchter, die sich derart im Wahn überbieten.
In Linden stieg ich aus und überließ die beiden ihrem Schicksal. Die Stadtbahn der Linie 9 riss sie davon. Nur verantwortliche Selbstsorge berechtigt den Anspruch auf ein schönes Leben, weiß ein antikes Lebensprinzip.
Teestübchen Musiktipp
Two Door Cinema Club; Undercover Martyn
mit den tätowierungen ist das so eine sache. eigentlich sind sie schon wieder aus der mode. wer heute auf sich hält, macht SO ETWAS nicht mehr. halt bloß, dass die alten tatoos noch da sind.
ich erinnere mich, wie vor 20 jahren meine damals sich anfang der fünfziger befindliche nachbarin im bus ihren pullover nach unten zerrte, um mir ihr neues häschen-tatoo oberhalb der brust zu zeigen. das war schon damals peinlich und man möchte sich nicht vorstellen, wie es heute aussieht. allerdings dürfte es, dank der schwerkraft, noch heute faltenlos „sitzen“.
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Würde mich freuen, wenn Tatoos inzwischen Out sind. Dass manch junges Ding derlei noch als Oma mit sich herumträgt, zeigt dein Häschenbeispiel. Danke dafür.
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