Upps, Gedankenfreiheit! – meine mediale Sozialisation

Die viel diskutierten Filterblasen sind nicht erst mit den Algorithmen des Internets entstanden. Sie sind nur demokratisiert worden. Vor dem Internet waren sie alltäglich und im Sinne des gesellschaftlichen Konsens gewollt. Eltern, Familie und soziales Umfeld konnten sehr viel stärker als heute kontrollieren, welche Informationen zu einem Kind oder Heranwachsenden vordrangen. Im dörflichen Umfeld meiner Kindheit und Jugend geschah diese Kontrolle über die Institution Kirche und ihre Publikationen, durch den Index, der im Eingang zur Kirche hing und Zeitschriften einteilte zwischen „empfehlenswert“ und „abzulehnen“ sowie die Borromäusbücherei mit ihrem ausgewählten Bestand.

Und natürlich sah auch die Schule es als ihre Aufgabe an, Denken und Fühlen der Heranwachsenden zu kontrollieren. Da herrschte noch das Denken des Obrigkeitsstaats, wie es aus einem Memo des preußischen Staatsministers Karl Hofmann aus dem Jahr 1878 hervorgeht:

    „Wie leicht wird ferner all der gute Samen, den die Schule in das jugendliche Gemüt gestreut hat, zerstört und ausgerottet, wenn der junge Mann von dem Lesen, das er in der Schule gelernt hat, in der Weise Gebrauch macht, dass er sozialdemokratische Blätter studiert, wenn er etwa von seiner Fähigkeit im Schreiben […] Gebrauch macht, um selbst Artikel in sozialistischen Blättern zu schreiben.“

Derlei Gedankenkontrolle wurde fortgesetzt unter der Naziherrschaft, und im spießigen Nachkriegsdeutschland der Adenauer-Ära war es nicht anders. Demgemäß kritisierte mein Lehrer beim Elternsprechtag: „Der liest ja soviel“, was meine Mutter befremdlich fand. Aber hinter der Kritik stand die Sorge, dass selbstständiges Lesen Informationen abseits der schulisch gezogenen Kanäle bot.

Vor jeder Wahl wurde von der Kanzel ein Hirtenbrief vorgelesen, worin die deutschen Bischöfe ihre Schafe mahnten, auf dem rechten Weg zu bleiben und eine christliche Partei zu wählen. Das machte mir klar, wie ich die Welt anzusehen hatte. Mit 15 Jahren war ich noch überzeugter CDU-Anhänger und wurde erst in der Jugendherberge Freudenstadt durch zwei Studenten aus Amsterdam mit einem völlig konträren Weltbild konfrontiert.

Wehe, wenn sie losgelassen

Glücklicherweise kam ich in meinem Beruf als Schriftsetzer mit beliebigen Texten in Kontakt, und so erweiterte sich mein Weltbild bald über die dörflichen Grenzen hinaus. Mit 18 las ich die genossenschaftliche Frankfurter Rundschau. Das war die einzige bürgerliche Zeitung gewesen, die sich nicht an der Hetze gegen rebellierende Schüler und Studenten beteiligt hatte. Ich las die sozialistische Konkret, die Pardon und die fast vergessene Schülerzeitschrift „Underground“, die wie Pardon im Verlag Bärmeier-Nickel erschien und zum Entsetzen bislang fröhlich prügelnder Lehrer monatlich den Goldenen Schlagring verlieh. Die geistige Befreiung ging einher mit einer sexuellen Befreiung. Doch wie an einem rasch verbotenen Pardon-Titel zu sehen, war es medial eine sexuelle Befreiung des Mannes. Es wurde Mode, eine Maobibel zu besitzen. Ich empfand mich als Kommunist und las tapfer die deutschsprachige Peking-Rundschau, deren parteichinesisch ich überhaupt nicht verstand.

Im Zimmer einer Freundin fand ich die Zeitschrift Twen und tat sie verächtlich als zu bürgerlich ab. Rückblickend war Twen eine gutgemachte Zeitschrift, veröffentlichte beispielsweise einen wunderbaren Hintergrundbericht über die Dreharbeiten zum Beatles-Trickfilm Yellow Submarine mit den Zeichenanweisungen des federführenden Düsseldorfer Grafikers Heinz Edelmann für das Londoner Trickfilmstudio.


14 Kommentare zu “Upps, Gedankenfreiheit! – meine mediale Sozialisation

  1. So kann man durch Lesen vom „rechten Weg“ abkommen.

    Nie vergesse ich mein erstes Heft von Undergound. Chefredakteur war Lutz Reinicke, der Asistent von Hans Nikel und später als Lutz Kroth Chef von Zweitausendeins.
    Twen brachte auch Schallplatten heraus.

    Es waren goldene Zeiten für junge neugierige und lesehungrige Menschen…
    Where have all the good times gone (The Kinks)

    Gruss
    Robert

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  2. Die TWEN! Ich mochte diese Zeitschrift schon als zehnjähriger vor-pubertierender Lauselümmel.

    KLICK …..

    „Ab Oktober 1960 erschien twen im Verlag Theodor Martens & Co., München, bei der auch die Illustrierte Quick herauskam.“

    Ich hatte das große Glück, in den Jahren 1962 und 1963 eine gewisse Rita M. aus der Familie Martens in München im Zuge der sogenannten „Ferien für Berliner Kinder“ kennen zu lernen.

    Als Kreuzberger Proletenbalg war dieser Luxus und die Fürsorglichkeit der Frau R.M. in bester Münchner Wohngegend für mich überwältigend und an die legendären Kuchen und Torten, die eine gewisse Sekretärin T.J. für den „jungen Herrn aus Berlin“ buck, noch viel mehr …

    Mit ihrem Namen konnte ich damals noch nichts anfangen und sie war (das fiel mir als als junger Bub dann doch auf) sehr schüchtern und zurückhaltend.

    Sie arbeitete in der Redaktion des Verlags Theodor Martens (Chefredaktions-Sekretärin für die Illustrierte Quick u.a.), wie ich Jahrzehnte später durch meine Recherchen erfuhr und sie war in jener Zeit oft in den Häusern der Martens zu Besuch gewesen.

    Die Freundschaft zwischen den Martens und meiner Familie hielt noch etliche Jahre und wir wurden finanziell unterstützt sowie mit Geschenken und mehrjährigen Gratis-Abonnements von TWEN, QUICK und die Fußall-Illustrierte „Kicker“ bedacht.

    KLICK….

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  3. Interessante Betrachtung über das Wesen von Filterblasen. Ich habe mich in den letzten Tagen ab und zu gefragt, wie wir vor dem Zeitalter des Internets eigentlich zu Wissen gekommen sind. So war es eben – auch damals fehlte eigentlich bei den meisten der Durch- und Überblick. Beziehungsweise: Es gab einen allgemein geteilten Wissenskanon. Und den Rest erhaschte man sich nur mit dem gut informierten Blick über den Tellerrand.

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    • Als ich mit etwa 18 Jahren den Spiegel zu lesen begann, verstand ich zunächst fast nichts, denn mir fehlte das Vorwissen über politische und kulturelle Zusammenhänge. So nach und nach verdichtete es sich, und ich begann den Spiegel verständig zu lesen. Man muss das nicht als Gewinn sehen 😉 Mitunter staune ich, wieviel von den Zeitläuften ich mitbekommen habe, obwohl die medialen Kanäle so schmal waren. Der Mensch muss irgendwann glauben, er hätte den „Durch- und Überblick“, weil manche Entscheidungen das verlangen.

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