Die Besucherin – Kapitel III

Kapitel IKapitel II

Pünktlich um zehn Uhr klingelte es an meiner Haustür. Ein livrierter Chauffeur half mir mit höflichen Gesten in eine schwarze Limousine. Den Wagen hatte ich schon einmal gesehen. Er parkte am Vortag vor dem Museum und hatte ein Diplomatenkennzeichen. Der Chauffeur hatte wartend darin gesessen. Wir fuhren nach Norden aus der Stadt hinaus und dann längere Zeit durch einen ausgedehnten Wald. Mit einem Mal bremste der Wagen herunter und bog in einen schmalen Fahrweg ein, der steil nach oben führte. Zwischen den Bäumen blitzte ein rotes Ziegeldach. Der Wagen bog um die Ecke, und vor uns tat sich eine kurze ebene Straße auf, an deren Ende sich eine stattliche Jugendstilvilla erhob.

Wir passierten ein Tor, fuhren eine gewundene Auffahrt hinauf und hielten auf einem mit Kies bedeckten Vorplatz. Der Chauffeur öffnete mir die Wagentür, und bevor ich noch aussteigen konnte, sprang über die Eingangstreppe eine aufgeregte Silene herab und rief: ›Kommen Sie, kommen Sie! Wir renovieren im Wintergarten unserer Großtante.‹

Silene trug eine farbbeschmierte Latzhose, aber ihr stünde auch ein Kartoffelsack. Sie hakte sich bei mir unter und schwatzte drauflos: ›Tante Margret ist nämlich in ihre Sommerresidenz in der Toscana gefahren. Wir wollen sie mit der Renovierung überraschen. Und außerdem ist das Werkeln gut gegen die depressive Verstimmung meines Bruders. Bengt geht es gar nicht gut. Seitdem wir ihn vor zwei Jahren aus Otto Mühls Sekte freigekauft haben, erlebt er immer wieder depressive Schübe. Bengts Therapeut führt das auf Brainwashing in Mühls Sekte zurück. Naja, der Mühl nennt es Kommune. Aber haben Sie die Leute schon mal gesehen? Laufen alle in den gleichen Latzhosen herum, Männlein wie Weiblein mit kurzgeschorenen Haaren, dass man sie gar nicht unterscheiden kann, und dann die Horde ungewaschener Kinder! Die meisten soll der Mühl ja selber gezeugt haben. Er schläft so ziemlich mit jeder Frau der Kommune, macht auch vor jungen Mädchen nicht halt, nicht mal vor denen er annehmen könnte, dass sie seine Töchter sind. Puh!‹

Ich fragte: ›Der Wiener Aktionskünstler Otto Mühl? Der auf der Bühne Schweine schlachtet, ausweidet und ihr Blut und die Gedärme über nackt darliegende Frauen ausgießt?‹
›Genau der‹, nickte Silene.
›Wie ist denn Ihr Bruder da hineingeraten?‹
›Ach, er hat so gewisse Neigungen. Seit seiner Pubertät dreht er Splatterfilme‹
›Splatterfilme? Sind’s nicht die, in denen ein Mensch real vor laufender Kamera getötet wird?‹
Silene lachte: ›Das sind Snuff-Videos, Dummer!‹

»Mir wurde mulmig, wie ihr euch denken könnt. Ich hatte nicht die geringste Lust, Hauptdarsteller in einem Splattermovie zu sein, noch weniger von einem manisch Depressiven namens Bengt in einem Snuff-Video hingeschlachtet zu werden. Aber Silene hatte mich in ihren Bann geschlagen.

Der gepflegte Park, die prächtige Jugenstil-Villa, die Inneneinrichtung, alles kündete von großem Reichtum, nicht protzig, sondern gediegen. Altes Geld, wie man so sagt. Im Wintergarten hatte Silene, oder war es Bengt gewesen? ein wenig hellblaue Farbe an eine Wand geschmiert und ziemlich nachlässig über Lichtschalter und Steckdosen gestrichen.«

›Das geht aber so nicht‹, sagte ich. ›Man muss Lichtschalter und Steckdosen vor dem Streichen abschrauben oder wenigstens mit Klebeband abkleben.‹
›Ach, nicht schlimm‹, sagte sie leichthin, ›Wir lassen sowieso nachher die Maler kommen. Die können das richten. Es ging nur darum, Bengt ein bisschen von seinem Trübsinn abzulenken. Wenn die Seele krank ist, muss man nutzen, was gesund ist, also was mit den Händen machen. Hier, zieh du auch einen Overall an!‹

Als ich in dem Teil vor ihr stand, sagte sie: ›Jetzt gehörst du uns‹, reckte sie sich vor und gab mir einen trockenen Kuss auf den Mund. Ihre Lippen waren kühl. Dann besann sie sich und küsste mich nochmals, diesmal mit mehr Gefühl.

›Wir streichen jetzt das Tischlein dort. Es hat im Keller gestanden, aber weiß gestrichen ist es sicher ein Schmuckstück. Fangen wir an! Ich habe Farbe und Pinsel schon bereit gelegt.‹

Ich hätte ja das Tischlein zuerst ein wenig angeschliffen, wenigstens mal abgewischt, aber Silene hielt sich nicht mit Vorarbeiten auf und machte sich mit Eifer ans Streichen. Bengt tauchte auf und näherte sich vorsichtig. Er trug den gleichen Overall wie wir. Ab und zu machte er ein Foto von mir, tat aber sonst nichts. Ich war froh drum, denn so hatte ich Silene ganz für mich. Gelegentlich kamen wir uns beim Streichen so nah, dass ich ihren Atemhauch spürte. Ich sog ihn auf, ja, ich besoff mich daran.

Urplötzlich verlor Silene die Lust, warf den farbgetränkten Pinsel achtlos zu Boden, und rief:
›Ach, lassen wir das. Wir hören auf. Tante Margrets Majordomus soll die Maler herbefehlen, dass sie alles in Ordnung bringen!‹

›Was wird mit mir?‹, fragte ich. ›Bengt scheint nicht sonderlich interessiert zu sein. Ich könnte also gehen, aber habe mich, das muss ich gestehen, bereits unsäglich in dich verliebt, Silene.‹

(Kapitel IV)

4 Kommentare zu “Die Besucherin – Kapitel III

  1. Silene….was für eine Frau muss das sein (oder was für ein Mann muss das sein) sich streichend dem möglichen Schicksal fügen, der Protagonist in einem Splattermovie zu werden. 😉
    Die Streichorgie mit ihrer Sinnlosigkeit (wobei sie mag dem Depressiven vielelicht ja helfen) ist herrlich beschrieben. Überhaupt, lieber Jules…ich lese direkt weiter.

    Gefällt 1 Person

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