Kapitel I
»Ich muss etwa 22 Jahre alt gewesen sein, als ich die im Plakat angekündigte Schwitters-Ausstellung besucht habe, stand versonnen vor einer Assemblage, als drei Besucher den Raum querten, ohne von den Arbeiten Notiz zu nehmen, eine grauhaarige Dame, eine junge Frau, gefolgt von einem jungen Mann mit üppigem Bart, sorgfältig in Form gebracht, wie auf den Darstellungen assyrischer Herrscher zu sehen. Beide hatten flammendrote Haare, waren offenbar Geschwister. Der Mann trug eine sündteure Kamera mit Objektiv vorm Bauch. Seine Schwester war von einer überirdischen Schönheit. Sie schien von einer hell scheinenden Aura umgeben zu sein, die alles ringsum überstrahlte.
Da war es aus mit meiner Versenkung. Die drei schienen mich nicht beachtet zu haben, doch als sie den Raum schon verlassen hatten und ich bedauernd hinterher sah, kehrten die Geschwister zurück und standen leise beratend in der Türöffnung. Plötzlich wandte sich die Schönheit um und kam auf mich zu.
›Entschuldigen Sie die Störung, aber wie mein Bruder Sie so kontemplativ versunken vor einer Schwitters-Assemblage gesehen hat, haben Sie sein Interesse geweckt. Er plant einen Film zu drehen und glaubt, er hätte in Ihnen eventuell seinen Hauptdarsteller gefunden.‹
Trittenheim wandte sich an die angestrengt stenografierende Marion von Erlenberg: »Da brauchen Sie gar nicht ungläubig die Stirn zu runzeln, Frau von Erlenberg. Als junger Mann war ich ein durchaus hübsches Kerlchen. Mein einziger Schönheitsfehler war ein abgebrocher Schneidezahn. Als Junge bin ich nämlich beim Cowboy-Indianer-Spiel gestolpert und mit dem Gesicht auf eine Kartoffelkiste gestürzt. Der hier«, Trittenheim klopfte mit dem Stift gegen einen Schneidezahn, »war glatt zur Hälfte abgebrochen. Erst spät ließ ich ihn überkronen, doch der Zahnarzt traf nicht die richtige Farbe. Er ist ,Trittenheim zeigte sein Gebiss, »wie Sie sehen, ein wenig heller als die anderen, also der Zahn, nicht der Zahnarzt, hehe.«
»Es ist ja Schönheit nur wahr und erträglich, wenn sie von einem winzigen Fehler kontrastiert wird«, warf Frau Kirchheim-Unterstadt ein. Sie war schon lange heimlich in den Trittenheim verliebt und wollte ihn gegen jeden Anflug von Herabsetzung verteidigen.
»Ja, so einen winzigen Makel konnte ich später auch bei der rothaarigen Silene entdecken«, fuhr Trittenheim fort. Sie sprach nämlich asynchron. Ihre Lippenbewegungen schienen den Lauten immer ein wenig voraus zu sein, als wäre sie aus dem Zeittakt gerutscht, also quasi zu schnell für den Sprachlaut. Demgemäß tönte ihre Stimme wie aus der Vergangenheit. Diesen Zeitenbruch bemerkte ich aber erst später an ihr. Im Augenblick war ich so geblendet, mein Herz sprang mir förmlich in den Hals, dass ich nichts sagen konnte.
›Nun?‹, fragte sie keck, ›hätten Sie Zeit?‹
›Ja, aber ich bin kein Schauspieler‹, kächzte ich.
›Das gibt sich‹, sagte sie fröhlich, drückte mir Papier und Kugelscheiber in die Hand und befahl: ›Schreiben Sie mir Namen und Adresse auf. Unser Fahrer holt Sie morgen um zehn für Probeaufnahmen ab!‹
Ich tat rotohrig, wie sie verlangte, und sie eilte davon. Danach war es aus mit Bildbetrachtung. Ich ging nach draußen, sank vor dem Museum benommen auf ein flaches Mäuerchen. Nach dieser Begegnung war ich irgendwie der Welt entrückt, bemerkte den aufkommenden Regen nicht, nicht den brausenden Wind, und lange saß ich da, bis ich völlig durchnässt war. Auf was hatte ich mich eingelassen? Der Bruder wollte einen Film drehen? Vielleicht war es etwas Homoerotisches? Und bevor ich nein sagen kann, hänge ich drin? Aber die Aussicht, die schöne Silene wiederzusehen, ließ mich alle Bedenken, alle Vorsicht beiseite schieben.«
Ich bin gespannt, lieber Jules. Herrlich amüsant hier, wie so oft bei dir, das Gespräch mit den Damen. Wenn man verliebt ist, dann wird auch ein abgebrochener Zahn attraktiv.
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Deine empathische Resonanz freut mich, liebe Mitzi. Fortsetzungen in Blogs haben es ja eher schwer. Aber ich wollte mal weg vom kurzatmigen Schreiben, das sich nur über eine Textseite erstreckt.
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Kann ich gut verstehen, lieber Jules.
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