Zu dick für Ruinen – Ausflug in die Literaturgeschichte

Mir hat einmal die schlanke Konfektionsgröße 98 gepasst. Mit den Jahren bin ich herausgewachsen. Genauso kann man auch aus Büchern herauswachsen. Eben brachte mir ein Bote die Werkausgabe von Herbert Rosendorfers „Der Ruinenbaumeister.“ Dieses Buch hat mich begeistert, als ich noch Hosen und Jacketts in Konfektionsgröße 98 trug. Es war die Zeit meines Studiums. Unser Kunstprofessor war ein Verehrer phantastischer Literatur. Wie er behauptete, war der französische Schriftsteller Raymond Roussel ein entfernter Großonkel gewesen. Roussels phantastischer Roman Locus Solus gilt als eine Vorwegnahme der Pataphysik und des Surrealismus.

Raymond Roussell hat mit Locus Solus zudem die experimentelle Literatur der Autorengruppe Oulipo beeinflusst und unseren Professor infiziert. Blutsverwandtschaft eben. Diese Vorliebe gab er an mich und Freund Nebenmann weiter, offenbar intravinös mit dem Gartenschlauch, denn wie ich erst über Jahrzehnte allmählich aus Konfektionsgröße 98 herausgewachsen bin, blieb ich noch lange der phantastischen Literatur treu.

Nebenmann und ich hatten uns nach dem Studium aus den Augen verloren, und als ich ihn 20 Jahre später besuchte, stand er auf einem Gerüst und werkelte an seinem Haus, das er während des Studiums mit eigenen Händen errichtet hatte, grad so, wie er Geld für Baumaterial auftreiben konnte. Mit der Maurerkelle in der Hand sah Nebenmann auf mich herab, ich voller Staunen über sein noch immer unfertiges Werk, sah zu ihm hinauf, und wie aus einem Mund sagten wir: „Ruinenbaumeister.“

Als mich letztens Freund Leisetöne in der neuen Wohnung besuchte, kam die Rede wieder auf den Ruinenbaumeister, obwohl hier fast alle baulichen Maßnahmen abgeschlossen sind. Ich bedauerte, das Buch nicht mehr zu besitzen. Am letzten Sonntag habe ich es bestellt, und das kam so: Unter meinen Büchern befindet sich eine hässlich eingebundene Raubkopie des Philobiblon, des Buches von der Bücherliebe aus dem Jahr 1344, geschrieben vom Bischof von Durham, Richard de Bury. Kürzlich lernte ich eine Buchbinderin kennen, die ihr Handwerk in der Nachbarschaft meiner Lebensgefährtin betreibt. Die Nachbarin wollte ich beauftragen, mir die Raubkopie ordentlich zu binden. Das wurde vereitelt, weil sie sich mit Corona angesteckt hatte. Aber ich wollte die Raubkopie nicht mehr ins Bücherregal stellen, recherchierte im Netz, fand das Buch, bestellte es und den Ruinenbaumeister gleich mit.

Der kam heute. Ich las und las und war noch auf Seite 104 ein wenig enttäuscht. Vermutlich bin ich für die Literatur aus der Hungerleidenszeit meines Studiums einfach zu dick geworden.