Anfang der 1990-er Jahre habe ich im Wahlpflichtbereich der 10. Klassen die Kombination Deutsch/Kunst/moderne Medien angeboten. Mit diesem damals durchaus innovativen Konzept wäre ich heute völlig hinterm Mond. Internet und Smartphone haben Medien hervorgebracht, an die in den 1990-er Jahren nicht zu denken war. Schon die Demokratisierung des Lexikons durch Wikipedia hat mich begeistert. Auch die Buchpublikation durch E-Book und Print on Demand habe ich begrüßt und nutze diese Möglichkeiten. Ebenso nutze ich die Videoplattform YouTube. Sie macht mir Musik verfügbar und ich kann eigene Videos aufnehmen und veröffentlichen, was ich vor Jahren intensiv getan habe.
Besonders erfreue mich am interaktiven Medium Weblog, das nicht nur die digitale Publikation von Texten ermöglicht, sondern erstmals eine zeitnahe wechselseitige Kommunikation zwischen Textverfassern und Lesern erlaubt. Diese Entwicklung konnte ich mitgehen, denn Bloggerinnen/Blogger stehen mit ihrer Arbeitsweise noch mit einem Bein in der Buchkultur, während das andere in die unwägbare digitale Welt tastet.
Bislang völlig ignoriert habe ich die rein digitalen Erscheinungsformen des Microbloggings wie Facebook, Instagram, TikTok sowie die Smartphone-Messengerdienste. Kürzlich zwang ich mich zum Nachsitzen und sah mir die neu bei YouTube gelisteten „Shorts“ an. Ihr Hochformat zeigt, dass die Clips mit dem Smartphone gefilmt sind. Die meisten dieser Shorts sind Übernahmen von der bei Jugendlichen populären Videoplattform TikTok.
Anders als beim interaktiven Blogging geht es hier darum, dass dem eigenen Kanal möglichst viele Nutzer folgen und die selbstproduzierten Inhalte wahrnehmen. Entsprechend dominieren englische und außersprachliche Inhalte wie: Coverversionen populärer Musik, Tanzakrobatik, Kunstproduktion, erstaunliche Fähigkeiten, Lifehacks und witzige Situationen:
Besonders diese drei Schwestern sind mit verschiedenen Performences zu finden, scheinen ihre gesamte Freizeit auf die Produktion ihrer Clips zu verwenden.
Manchmal gehen kreative Inhalte viral, das heißt, sie verbreiten sich weltweit und regen andere Nutzer zu ähnlichen Inhalten an. Das Kulturphänomen der weltumspannenden Idee wird Meme genannt. Memes verraten mehr über die menschliche Kultur als in den Leitmedien darstellbar. Digitale Herausforderungen, die Challenges, entwickeln sich manchmal zum Meme.
Derzeit ist ein Gesangsmeme aktuell. Ein Part aus dem Popsong „Grace Kelly“ des britisch-libanesischen Sängers Mika wird in verschiedenen Tonhäöhen variiert und übereinander gemicht. Zuerst das Original:
Hier die Adaptionen, zuerst covert die koreanische Sängerin Dabin Cha den Song:
Dann die Varianten:
UPDATE
Die Shorts bei YouTube sind tendenziell endlos. Vor einer Weile hat sich ja der Programmierer der Pop-up-fenster für die Erfindung bei der Weltgemeinschaft entschuldigt, und wie ich hörte, hat auch der Mensch sich entschuldigt, der das unendliche Scrollen von Info-Material erfunden hat, so dass man nie ans Ende einer Seite gelangen kann. Derlei Entschuldigungen sind fruchtlos. Seit die Möglichkeiten da sind, werden sie genutzt. Bei den YouTube Shorts führt das Endlosscrollen dazu, dass man auslesen möchte, wie wir es von Büchern gewohnt sind, aber nie ans Ende gelangt. Es zeigen sich nämlich Kreativität, Erfindungsgeist und Geschick in ungeahntem Ausmaß. Da wird zeichnerisch/malerisches Können demonstriert, alte KLeidungsstücke werden modisch umgearbeitet, Ikea-Möbel handwerklich aufgepeppt [ikea hack]. Eine gute Sache, wenn derlei nicht nur konsumiert wird, sondern Anregung zum Selbermachen ist.
Danke für Deinen Beitrag durch ein Gebiet, das ich nicht normalerweise nicht bereise.
Auf diese Hochkantformatfilmchen bei Onkel Juhtjuhp bin ich letzthin aus Versehen geraten und war froh, als ich aus dieser Sackgasse wieder rausgefunden habe.
Um was gehts dabei wirklich, ausser eben um Zeitverschwendung und die Ablenkung vom menschlich Wesentlichen?
Gruss zum Wochenende von
Robert
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Die Produzenten der Clips setzen schöpferische Kraft, Geschick und Ideenreichtum frei und nutzen die Möglichkeit sich damit zu produzieren. Wir Bloggerinnen/Blogger tun etwas Ähnliches, nur schaffen wir Texte. Wenn du in deinem Blog zeigst, wie du ein altes Fahrrad restaurierst, bist du den Nutzern von TikTok und YouTube ziemlich nah. Die Weise der Präsentation ist freilich anders, da in den Shorts alles auf eine geringe Aufmerksamkeitsspanne angelegt ist. Wer die Shorts nur rezipiert, vertändelt freilich Zeit.
Beste Grüße zum Wochenanfang
Jules
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Ich danke Dir für Deinen erhellenden Kommentar.
„Die Produzenten der Clips […] nutzen die Möglichkeit sich damit zu produzieren.“
Sind wir nicht alle Selbstdarsteller, für die das Internet die entsprechenden Möglichkeiten bereitstellt, deren Bühnen wir nur zu gerne betreten. (In der Hoffnung auf Applaus – im weitesten Sinn).
Es ist eine Scheinwelt. Schon die erste Folge von „Underscore“ legt unsere seelischen Programmation dahingehend offen.
Mir ist schon klar, dass auch „wir Blogger“ auf Aufmerksamkeit aus sind, auf Beachtung und vielleicht sogar aus ein „gefällt mir“. Aber wir sollten uns bewusst sein, dass wir andere Menschen von ihren (Lebens-)Wegen ablenken, von ihnen ihre unbezahlbare Lebenszeit beanspruchen.
Wirkliche Nähe, oder um mit Adorno zu reden, wirkliches Leben resultiert daraus nicht. Vielleicht blogge ich deshalb zunehmend weniger. Es wird mir einen Gedanken wert sein, darüber zu reflektieren.
Herzliche Grüsse,
Robert
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„Aber wir sollten uns bewusst sein, dass wir andere Menschen von ihren (Lebens-)Wegen ablenken, von ihnen ihre unbezahlbare Lebenszeit beanspruchen.“
Ich gebe Folgendes zu bedenken: Vieles, was wir bloggen, dient der gepflegten Unterhaltung, hat Witz und Erkenntniswert. Man erfährt von fremden Sachverhalten und Lebenswelten, tritt in Kontakt mit Menschen, denen man sonst nie begegnet wäre. In der Fülle kaum zu benennen sind die vielen Freundschaften und Kontakte, die in jetzt 13 Jahren meines Bloggens entstanden sind, weit über Alters- und Ortsgrenzen hinaus. Vielen bin ich real begegnet und halte die freundschaftliche Beziehung. Gerade das macht 50 Prozent meiner Motivation aus. Die anderen 50 Prozent sind überwiegend meiner Begeisterung für das Medium geschuldet. Als schöpferischer Mensch erfreue ich mich an den technischen Möglichkeiten. Heute weiß ich viel mehr von der Welt als vor dem Internet. Bloggen bildet.
Zudem ist Bloggen ein Mittel gegen Vereinsamung, während eines Lockdowns oder wenn man ein Handycap hat, das Kontakte verhindert. Eine meiner engsten Freundinnen bei twoday.net, die leider verstorbene Eugene Faust saß im Rollstuhl. In der Blogosphäre bewegte sie sich klug, humorvoll und ohne Einschränkung. Ich habe sie einmal in Hamburg besucht, und bis zu ihrem Tod telefonierten wir regelmäßig.
Was man von anderen Bloggern lernen kann, beispielsweise bei deiner Fahrradrestauration: Du vermittelst eine Wertigkeit dieser Dinge und zeigst, wie man an ein solches Projekt herangeht. Das regt an, es dir nach zu tun.
Ich selbst bin im Herzen immer noch Lehrer. In obiger Rubrik verfolge ich eine aufklärerische Absicht, vermittle Wissen und ordne ein.
Dem Adorno-Zitat muss ich daher widersprechen. Das Bloggen mit all seinen Begleiterscheinungen findet im wirklichen Leben statt.
Beste Grüße
Jules
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Lieber Jules,
abermals danke ich Dir für Deine Gedanken zum Thema. In vielem gebe ich Dir ja durchaus Recht.
Wissensgewinn, Überwindung von Einsamkeit, mögliche menschliche Begegnungen et cetera all das ist mir nachvollziehbar.
Dennoch spielen sich diese Formen des Austauschs nicht in der realen Welt ab.
Was das „Kennenlernen“ anderer Menschen im virtuellen Raum betrifft, da kann man Glück haben oder auch nicht. Was mir in den vielen Jahren in meiner Zeit als Blogger begegnet ist, hat mir menschliche Abgründe gezeigt. In realen Begegnungen wären mir solche Abgründe erspart geblieben.
Aber ich habe, wie Du, auch andere Erfahrungen in persönlichen Begegnungen gemacht. Emotional waren und sind diese Begegnungen von einer anderen, erfüllenderen Qualität als das Verbleiben im virtuellen Raum.
Schlussendlich haben wir aufgrund Deines Beitrages diesen Austausch begonnen. Für mich persönlich wäre es wesentlich befriedigender, dieses Austausch mit Dir im wirklichen Leben zu erleben anstatt auf eine kleine Kommentarspalte beschränkt.
Herzliche Grüsse
Robert
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Lieber Robert,
mein Frankfurter Freund, der Kulturwissenschaftler Vladimir Alexev aka Merzmensch unterscheidet schon lange nicht mehr die reale von der virtuellen Welt. Zu eng ist beides inzwischen verknüpft. Natürlich haben wir uns über das Blog kennen- und schätzen gelernt. Uns verbindet die Begeisterung für den Merzkünstler Kurt Schwitters. In desem Kontext haben wir uns mehrfach in Hannover getroffen. Die Begegnungen waren immer inspirierend.
Negative Erfahrungen, wie du sie benennst, habe ich bei Treffen von Blogfreunden im fassbaren Leben nie gemacht. Indem man ihre Texte liest und mit ihnen im Kommentar interagiert, enthüllt sich bald die geistige Struktur des Gegenübers. Da ist man auf der sicheren Seite. Daher fände ich es auch prima, wenn sich ein Treffen zwischen uns ergäbe.
Ich habe dir die Vorzüge des Bloggens skizziert, bin aber im Grunde gegen alles Digitale, der unübersehbaren Schäden wegen, die diese Technologie mit sich bringt. Daher kann ich deine Skepsis teilen. Doch es bringt nichts, sich gegen eine kulturelle Entwicklung zu stemmen. So versuche ich, das Beste daraus zu machen.
Viele Grüße
Jules
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Lieber Jules,
Deine Einleitung beginnt mit einem Erlebnis aus dem wirklichen Leben 😉
Ein Missverständnis – nicht im wirklichen Leben des Blogumfeldes hatte ich negative Erlebnisse. Dies geschah im virtuellen Blogleben. Entweder in bestimmten Formen der Kommentare oder auch auch im fortgesetzten Austausch „hinter den Linien“, also z.B. per Mail.
Ich halte es für Kraftvergeudung, sich „gegen kulturelle Entwicklungen zu stemmen“. Aus diesem Grund verhalte mich ruhig und beobachte. Denn nichts bringt mich dazu, auf jeder Welle mitzuschwimmen.
In diesem Sinn „fände ich es auch prima, wenn sich ein Treffen zwischen uns ergäbe.“
Viele Grüsse,
Robert
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Was ein Meme ist, haben wir uns vor etwa zwei Jahren von unseren kopfschüttelnden Kindern erklären lassen, die sich wohl insgeheim fragten, wie wir ohne dieses Wissen in der Welt des Internet zurechtkommen konnten. Gerade vergleiche ich im Unterricht die Tagesschau mit Youtube-Formaten, deren Grenzen den Kindern absolut bewusst sind. Aber ihr Unterhaltungswert ist höher – und auch die Verständlichkeit der Sprache für diese Altersgruppe.
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Ein Meme, das um die Welt läuft, erinnert mich an die Idee des Kettenbriefs. Hans Bächtold-Stäubli im Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens und findet den Ursprung im fernen Tibet: „Der Kettenbrief gehört zu den religiösen Mechanisierungen des Gebetes, deren höchste Steigerung in der Gebetsmühle der buddhistischen Tibetaner mit der Formel „Om mani padme hum“ vorliegt. Hier handelt es sich darum, ein kurzes Gebet oder einen harmlosen Spruch durch Versendung zu verbreiten, so dass die Gebetskette nicht unterbrochen wird, womöglich um die Erde herumläuft.“
Internet-Formate mit Nachrichtenformaten des Öffentlich-rechtlichen Fernsehens zu vergleichen ist sicher lohnend.
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Ich muss sagen, habe alles durchreist und bin jetzt wieder dort angekommen, wo ich mich wohlfühle. Blog, Telefon und gelegentlich WhatsApp, Telegram und Signal. Alle anderen „Microblogging“ Dienste bediene ich nicht mehr…
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So geht’s mir auch, nur dass ich Smartphone-Apps selten nutze.
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Been there, seen that, done that, wie die Engländer so schön treffend sagen.
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Interessanter Einblick in ein mir vollkommen unbekanntes Feld. Danke. Mir scheint, dass da genauso viele kreative Lräfte freigesetzt werden können wie bei vielen anderen Tätigkeiten auch. Schon allein das technische know-how, die Überwindung der Scheu aufzutreten etc pp. Jugendliche brauchen peergroups, um sich selbst zu definieren.
Heute las ich übrigens, dass die zuständige EU-Kommissarin in ihrer Davos-Rede das weltweite Verbot von TikTok anregte. weil es da schnelle Übergänge zu gefährlichen Inhalten gebe….
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Ich habe lange einen Bogen um derlei Formate gemacht, finde aber, man muss wissen, was die Generation Z im Internet so treibt. TikTok wird schon eine Weile krirtisiert wegen seiner Nähe zur chinesischen Regierung und zum Geheimdienst. Doch ein weltweites Verbot scheint mir die Allmachtsphantasie einer von Zensur träumenden Politikerin zu sein.
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Auf diesen Plattformen muss ich auch nachsitzen, lieber Jules. Vieles ist mir fremd und interessiert mich nicht – wie 99% der Shorts auf Youtube. Ich bin meinen Nichten und Neffen dankbar, dass sie mich auf das eine oder andere Video auf Youtube und anderen Plattformen gestossen habe, dass ich aber amüsant, interessant oder einfach nur schön zum Anschauen finde.
Auch bei ihrem Vater waren sie damit erfolgreich. Er hat seit etwa einem Jahr ein Instagram Account mit mittlerweile tausenden von Followern. Was er macht? Holzhacken, Armdrücken im Wirtshaus und mit den Händen Telefonbücher zerreissen. Es war ein Witz, aber irgendwie hat er einen Nerv getroffen. Meine Familie amüsiert sich köstlich und wir sind auch tatsächlich stolz auf diesen knapp 70ig jährigen der über sein Hobby selbst lacht aber große Freude daran hat.
Die Mika Cover die du rausgesucht hast, habe ich gerade auch ganz angeschaut – gefällt mir.
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Was wären wir ohne die Kenntnisse der jüngeren Generation. Bei mir sind es die Söhne, die sich besser auskennen als ich. Danke für das amüsante Beispiel, liebe Mitzi. Mit Instagram kenne ich mich nun gar nicht aus. Aber es reizt mich schon, deinen Schwager (oder Schwippschwager?) beim Armdrücken und Holzhacken zu sehen 😉
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Stimmt. Wir können uns glücklich schätzen, dass uns die jüngern unter die Fittiche nehmen. Den Armdrückenden habe ich dir gemailt 😉
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Vielen Dank, liebe Mitzi. Das Programmieren (in Basic) habe ich meinen Söhnen beigebracht, doch bald haben sie mich überflügelt. So muss es sein. Wir alle stehen auf den Schultern unserer Ahnen. Sie auch.
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mein lieber mann, du kennst dich aber aus. aber wetten, dass du nicht weisst, was creepypasta ist?
ich lasse jetzt eine kleine programmempfehlung auf die arte-mediathek folgen: „Underscore“. 5-teilig. habe ich letzthin vorm einschlafen oder beim nicht-schlafen gesehen und bin nun wieder einmal ein stückchen klüger.
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Bis zu deinem Kommentar kannte ich „creepypasta“ tatsächlich nicht. Inzwischen habe ich mich schlau gemacht. Dankeschön für den Programmtipp
https://www.arte.tv/de/videos/RC-022798/underscore/
schaue ich mir an.
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Vielen Dank für den Hinweis auf die Serie Underscore.
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„Shorts“ habe ich auch erst vor ein paar Wochen entdeckt… und schon generiert man in Nullkommanix erstaunliche Zugriffszahlen…
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Sehr originell, lieber Herr Ösi. Danke fürs Zeigen!
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