Modischer Trübsinn

„Soll ich Ihnen das Modell ‚Winterdepression und Todessehnsucht‘ einpacken?“, fragt die Verkäuferin.
„Och nein, schneiden Sie nur die Etiketten ab, die geht so mit“, sage ich und schlüpfe in die neue schwarze Winterjacke.
Sie unterscheidet sich kaum von der Vorgängerin, denn ich will nicht aus der Masse herausstechen, mit etwa einer roten Jacke. Ich weiß nicht, ob es überhaupt erlaubt ist. Das Verhaltensmuster, in der dunklen Jahreszeit mit einer ebenso dunklen Jacke zu laufen, grenzt nicht etwa an eine Psychose, sondern gehört zum kulturellen Erbe unserer Gegenwart wie Glühwein, Salzgebäck und Mettigel und prägt unsere Sozialbeziehungen.

Einmal bei einer Geburtstagsfeier traf ich früh ein und hängte meine Jacke leichtsinnig an den Garderobenhaken. Als ich gehen wollte, war meine Jacke unter den schwarzen Jacken späterer Gäste verschwunden. Ein freundlicher junger Mann half mir aus der Not, indem er sich den wachsenden schwarzen Jackenberg auflud. Unter der Last schien er zu schrumpfen, bekundete aber, dass er sich glücklich schätze, mich wenigstens bei dieser Gelegenheit kennenzulernen, der ich ja wohl nach Hause wolle. Es war nicht die geringste Ironie in seinen Worten,- aber er kannte mich ja nicht wirklich, hehe, und tat aus einem durchaus dubiosem Grund, was der Titanic-Autor Eugen Egner sowieso anregt: „Nehmen Sie sich Zeit für den größten Mist, heben Sie die schweren Winterjacken wildfremder Leute hoch.“

Thema Todessehnsucht: Bei Dunkelheit im Straßenverkehr fand sich mancher schon aufgegabelt auf einer Motorhaube. Wem das zu unsicher ist, der lasse sich von einem SUV unter die Räder nehmen. Glücklicherweise fahre ich kein Auto, muss demgemäß nicht bei Dunkelheit auf herumstolpernde schwarze Schatten achten. Gibt es rationale Gründe dafür, im Winter dunkle Jacken zu tragen? Natürlich würden sie bei klirrender Kälte und Sonnenlicht wärmen, denn Schwarz absorbiert alle Farben des Spektrums und wandelt sie in der Jacke in Wärme um. Aber Sonnenlicht? In letzter Zeit keins gesehen. Schwarze Jacken machen trübsinnig. Eine ganze Bevölkerung kleidet sich wie für eine Beerdigung. Es ist, als hätten sich ModeschöpferInnen gegen die Menschheit unserer Breiten verschworen. Früher gings nur gegen Frauen [im Bild, Schuhmode vom Frauenhasser, Teestübchen Archiv], heute auch hier Gleichberechtigung.
[Ein Beitrag zum anstehenden Blue Monday, dem traurigsten Tag des Jahres.]

20 Kommentare zu “Modischer Trübsinn

  1. Dort, wo es aus beschriebenen Gründen angebracht wäre, Dunkles zu tragen – im Skigebiet – wird die schwarze dann gegen eine weiße Jacke ausgetauscht. Mir scheint, hier wirkt sich eine Ur- Neigung zu Tarnung und Mimikri aus, die ja auch als innere Anpassung an die jeweils herrschende Stimmung und Meinung allgegenwärtig ist.

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  2. Eine Nachbarin meinte kürzlich, angesichts einer Unterhaltung über Kleidung: „Naja, Ihr seid ja erfrischend monochrom unterwegs.“ Das nahmen wir als Kompliment.
    Wir tragen phantasiebeflügelndes Schwarz. Ausserdem befolge ich einen Satz von Frank Zappa im übertragenen Sinn: „red shoes don´t make it.“

    Lieber schwarze Kleidung über dem farbigschillernden seelisch-geistigen Innenleben als atzelbunt verkleidet die schwarze Seele verbergen wollen/müssen/sollen…

    Ich wünsche ein entspanntes Wochenende
    Robert

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  3. Saß gerade in einem Café an der Müllerstraße, der pulsierenden Schlagader des Berliner Wedding, und zählte die Menschen, die keine schwarze Daunenjacke trugen. Das war ein lustiges Spiel und es kam mir der Gedanke, alle Menschen zu prämieren, die ein bisschen Farbe in diesen trüben Wintertag brachten. Es wären nicht viele gewesen.

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