Wenn Dinge nicht gut gehen

Mein Kardinalfehler ist eine gewisse Lässigkeit. Ich habe sie mir nicht ausgesucht, habe nicht gerufen, als der Charakter vergeben wurde: „Ach, und ich wäre noch gerne nachlässig!“ Diese Eigenschaft wird einem Rheinländer einfach untergejubelt. Sie verführt ihn, an das Rheinischen Grundgesetz zu glauben: „Et hätt noch immer jot jejange!“ In der Verbform „hat“ statt „ist“ steckt jene naive Vorstellung, der liebe Gott wird’s schon richten. Mit 30 bin ich aus der Kirche ausgetreten und nicht so vermessen zu glauben, dass für mich himmlicherseits noch was gerichtet würde. Im Gegenteil werden die Dinge boshaft geregelt. Wie sonst wäre zu erklären, dass ich fast immer die Straßenbahn verpasse.

Ich breche stets zu einem ungefähren Zeitpunkt auf und kann mich darauf verlassen, dass ich die Bahn schon in der Ferne sehe, wenn ich auf die Straße mit dem Bahngleis einbiege. Hat man etwa in der kosmischen Registratur einen Kerl dafür abgestellt? Startet er die Bahn just, wenn ich vors Haus trete, so dass ich sie mich ätschbätsch überholt, wenn ich noch zu weit von der Haltestelle entfernt bin? Wie armselig! Und das nur, weil ich keine Kirchensteuer mehr bezahle?

Vermutlich habe ich nur einmal in meinem Leben die ZDF-Sendung „Verstehen Sie Spaß“ gesehen. Da trat ein Mann auf, der von sich behauptete, er könne aus dem Stand höher springen als der deutsche Meister im Hochsprung. Im Vorabinterview sagte er etwas, was sich mir ob der dahinter winkenden Tragik wohl eingeprägt hat: „Meine Sprungkraft ist das einzige, was mir geblieben ist.“ Ähnlich könnte ich sagen, die glücklich fügende Hand hat sich mir entzogen, und die Nachlässigkeit ist mir als einziges geblieben. Ich erinnere mich an Zeiten, als mir der nonchalante Umgang mit den Dingen des Lebens noch nachgesehen wurde, von einer Lebensgefährtin, die die Ergebnisse meines Handicaps mit einem freundlich geseufzten „Ach, Jules!“ quittierte. Jene Frau war es auch, die mir riet, bei Telefonautomaten mit Automatenstimme zu sprechen, um besser verstanden zu werden. Eben bekam ich einen Anruf. Der Termin für das Aufmaß meiner neuen Küche musste um einen Tag verschoben werden. Ich hörte eine kaum verständliche Automatenstimme und bat mit verstellter Stimme um Wiederholung der Ansage. Aber dann war’s doch eine echte Frau. Automatenstimmen tönen inzwischen sowieso besser als menschliche.

Mit den Jahren bin ich natürlich gewarnt und versuche, meine Nachlässigkeit einzudämmen. Gegen Ende einer Planung wird’s dann doch unerquicklich vage. Und so standen meine Lebensgefährtin und ich gestern verloren an der Hildesheimer Straße und warteten auf ein Taxi. Das fand uns aber nicht, weil es an der gefühlt 100 Kilometer langen Hildesheimer die Hausnummer 66 mindestens zweimal gibt, einmal in Hannover, einmal in Laatzen. Baltasar Gracian rät in seinem Handorakel, man solle seinen Hauptfehler erkennen und abstellen. Alle anderen würden wie Dominosteine fallen. Drum dieser Text. Ich habe ihn völlig ungeplant zu Ende gebracht. Abgestellt ist da also noch nichts. Der Hochspringer aus dem Stand scheiterte übrigens. Da hatte er auch nichts mehr.

11 Kommentare zu “Wenn Dinge nicht gut gehen

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