Bekanntlich bin ich einige Zeit Studienrat am Gymnasium gewesen und habe die Fächer Deutsch und Kunst unterrichtet, also deutlich mehr Deutsch als Kunst. Folglich stapelten sich auf meinem Schreibtisch stets Klassenarbeiten und Klausuren. Weil im Januar die Halbjahreszeugnisse anstanden, waren die Weihnachtsferien für mich immer Korrekturzeiten. Für die Tage vom 2. Weihnachtstag bis zum 6. Januar bildete ich kleine Stapel, wodurch die täglich zu schaffenden Korrekturen überschaubar waren. Meist konnte ich mich nicht überwinden, am 2. Weihnachtstag zu beginnen, so dass die Hefte dieses Tages auf die anderen Stapel verteilt werden mussten.
Schon im Bilden und Umschichten der Stapel erkennen Eingeweihte Erscheinungsformen der Prokrastination. Zu jener Zeit litt ich stark daran. In der an sich ruhigen Zeit zwischen Weihnachten und Neujahr wurde sie immer schlimmer, ja, nahm geradezu boshafte Formen an. Alles rings um die Heftstapel gewann an Anziehungskraft. Fiel mir ein Wort auf, verfolgte ich das arme Ding durch alle Wörterbücher und gab nicht eher Ruhe, bis es gleich einer armen Versuchsmaus an den Extremitäten fixiert vor mir lag, bereit aufgeschnitten und bis ins Innere untersucht zu werden. Das Bewusstsein, mich den Korrekturen widmen zu müssen, verlieh allen Phänomen, Erscheinungen und Dingen des Lebens eine Anziehungskraft, vor der ich auf die Knie ging. Auf diese Weise wurden die prokrastinierten Korrekturtage zu den schillerndsten und reichsten des Jahres.
Leider konnte ich das nicht angemessen genießen, denn über allem schwebte der Schatten des schlechten Gewissens. Es war ein Dilemma, denn das eine war ohne das andere nicht zu haben. Derweil schaffte ich kaum noch, die Heftstapel umzuschichten. Mit dem Schwinden der Tage wurden die zu korrigierenden Stapel immer höher. Ich wusste, der anstehende Korrekturmarathon würde nicht über sanfte Hügel gehen, sondern ins Hochgebirge. Es entstand dieser Text, ein Reisebericht von einem solchen Marathon. Aus dieser Zeit resultiert ein Alptraum, der mich noch im Ruhestand plagt: Ich sitze in einer Zeugniskonferenz und habe für meine Schülerinnen/Schüler keine Noten, denn ich habe im letzten Halbjahr nicht eine einzige Klassenarbeit schreiben lassen.
Lieber Jules, das Prokastinieren kenne ich. Aber das Bild dee umzuschichtenden Stafel an Heften, beschreibt es wunderbar. Wäre das schlechte Gewissen nicht, könnte man die ungewohnt kreative Zeit während dessen genießen 😉
LikeGefällt 1 Person
Danke für deine einsichtigen Worte, liebe Mitzi. Die Prokrastination habe ich besser im Griff als früher. Leider sind dadurch die kreativen Zeiten aus der Ablenkung seltener geworden 😉
LikeGefällt 1 Person
„das seine ist nicht ohne das andere zu haben“ – wie wahr! wie quälend und doch wieder auch enorm kreativ sind solche Zeiten, in denen man schlechten Gewissens Erstaunliches leisten kann, nur weil man das nicht tun mag, zu dem man verdonnert ist.
LikeGefällt 2 Personen
Du kennst es also auch, etwas nicht tun zu wollen, „zu dem man verdonnert ist.“ Äußere Zwänge zu den eigenen zu machen, ist schwierig. Da sucht der Geist ständig nach Auswegen. 😉
LikeGefällt 1 Person
So ist es.
LikeGefällt 1 Person
Danke für den Leidensbericht, der mir aus dem Herzen spricht. Auch der vergangene Jahreswechsel wäre mir fast durch eine immer wieder verschobene, schwierige Arbeit verleidet worden. Die dabei entstehende Übersprungshandlung lenke ich leider oft nicht in Kreativität oder den Blog, sondern sondern zu YouTube, das alle Neugier zuverlässig befriedigt, aber nur Wirrwarr hinterlässt. Immerhin weiß ich jetzt, wie man einen sowjetischen LKW repariert. Wann hat das Leiden bei Ihnen aufgehört?
LikeGefällt 2 Personen
Wir waren schon beim Du, lieber eimaeckel. Youtube ist wirklich eine Geistverwirrrungsmaschine, wenn man nicht gezielt nach etwas sucht. Der Hang zur Prokrastination hat bei mir nie richtig aufgehört, ist nur weniger dramatisch, weil ich im Ruhestand weniger tun muss.
LikeGefällt 1 Person
Danke für die willkommene Unterbrechung der Korrektur meines Kafka-Stapels. In zwei bis drei Tagen werde ich mich dann dem Woyzeck-Stapel widmen. Was ist der Mensch? Staub und Dreck, nichts als Staub und Dreck.
LikeGefällt 1 Person
Gerne habe ich dich kurz abgelenkt. Bei den Korrekturstapeln hast du mein MIgefühl, liebe Andrea – solange ich nicht tauschen muss 😉
LikeLike
Als schlampiger Leser mag ich dieses Wort nicht, weil da für mich „Kastration“ drinnen steckt. Natürlich könnte ich jetzt Googeln, um zu sehen, was es bedeutet. Mach ich aber nicht. Mach ich erst später, das Jahr ist ja noch jung…
LikeGefällt 2 Personen
Es ist halt der Fachbegriff. Eigentlich ist er ziemlich hässlich. Mir gefällt er auch nicht. Es gibt kein geläufiges deutsches Wort. Aufschieberitis geht so. Verspäterung hast du gerade angeregt 😉
LikeGefällt 1 Person
Umgehen von Notwendigkeiten?
Mehr oder weniger kunstvoll, zufriedenstellend nie.
LikeGefällt 1 Person
Dankeschön, liebe Meisterin der kunstvoll gebildeten Komposita! Notwendigkeitsumgehung gefällt mir.
LikeLike
»Zum Aufschieben ist es nie zu spät.«
(Lebensweisheit n. Gunkl Paal)
LikeGefällt 2 Personen