Wir fuhren durch stockfinstere Häuserschluchten und langten an, wo die Nacht am tiefsten ist, schoben unsere Fahrräder auf den Platz und lehnten sie an eine Mauer. „Hätte man keinen größeren Ort finden können?“, fragte mein Begleiter mit Blick auf die Scharen dunkler Gestalten, die auf den Platz strömten.
„Sei nicht immer so negativ“, tadelte ich, weil ich fürchtete, er würde mich damit anstecken. Eben erst hatte er geklagt; „Wäre in den Dosen immer sauberer Thunfisch gewesen und nicht dieses schwärzliche Gekröse …“ und ich hatte sofort beide Bilder vor Augen gehabt, die runde geöffnete Dose, darin das helle, fast rosafarbene Thunfischfleisch, eng gerollt in Öl.
Ich sah auch das schwärzliche Ersatzprodukt aus neuer Zeit unter ein paar kümmerlichen Erbsen mit Mais und Fetzen von Tomate deutlich vor mir.
„Wer weiß, was aus mir hätte werden können“, fuhr er bedauernd fort.
„Was verlangst du? Das Gekröse hat dich zum großen stattlichen Mann mit telepathischen Fähigkeiten heranwachsen lassen! Die Superkraft meines Bruders hingegen ist kaum zu gebrauchen.“
„Wieso?“
„Er kann Milch sauer werden lassen. Das ist doch albern.“
„Wird sie sauer, wenn er in ihre Nähe kommt?“
„Nein, er muss es wollen.“
„Ein Glück, sonst könnte man in seiner Gegenwart keinen Milchkaffee trinken.Was ist eigentlich deine Superkraft?“
„Du solltest es wissen. Ich kann die Mitmenschen an die Wand reden.“
Inzwischen hatte sich der Platz gefüllt, Männer, alle so groß und stattlich wie wir, standen eng beieinander. Und der stattlichste von allen, uns überragend und aus unbekannter Quelle strahlend, war unser Prophet. Er stand mitten unter uns, den Gläubigen, die gekommen waren, seine Worte zu hören.
Von uns unbemerkt, hatte sich ein Mann mit einem Koffer genähert und versuchte, ihn in den engen Raum zwischen unseren schräg angelehnten Farrädern und der Mauer zu zwängen. Als ihm das gelungen war, kam er aus der hockenden Position nicht mehr hoch. Ich legte ihm die Hand auf die Schulter, drückte ihn nieder, so dass er, immer noch auf den Hacken sitzend rücklings an die Mauer kippte.Dabei sagte ich von oben herab: „Was versuchen Sie, in drangvoller Enge einen Koffer unterzubringen und nehmen dabei in Kauf, unsere kostbaren Räder zu beschädigen?“
Er schnaufte: „Wo soll ich denn hin damit, ohne einen unserer Brüder mit dem Koffer zu stoßen? Der Winkel zwischen den Rädern und der Mauer schien mir der einzige Platz zu sein. Ich entschuldige mich jetzt nicht dafür. In dieser Enge kann man nur Fehler machen.“
„Ihr Fehler hat weiter zurückliegende Ursachen: Man nimmt keinen Koffer mit auf eine Versammlung, es sei denn, man wollte eine Bombe platzieren. Und dass Sie nicht mehr hochkommen, ist das Ergebnis ihrer ungezügelten Fressgier, denn wären Sie nicht so fett, könnte die Muskulatur ihrer Oberschenkel sie aus einer hockenden Position hochstemmen.“
„Ich könnte ja vielleicht, wenn Sie mich ließen.“
„Lassen würden. Da Ihr Konjunktiv formengleich ist mit Indikativ Präteritum muss hier standardsprachlich korrekt die Ersatzform ‚würde + Infinitiv‘, also ‚lassen würden‘ eingesetzt werden.“
Er gab sich geschlagen, langte hinüber zu seinem Koffer, zog ihn heran und öffnete ihn.
„Was haben Sie darin?“, herrschte mein Begleiter.
„Nur mehrere Tetrapackungen Hafermilch“, sagte der Dicke beschwichtigend. Doch dann holte er einen Revolver hervor. Mit einem Ruck richtete er sich auf und schoss unserem Propheten in den Kopf. Er war wohl augenblicklich tot, konnte aber nicht fallen, weil er zu eng umstanden war. Die Menge erstarrte. Man hoffte auf ein Wunder. Doch plötzlich sank der Tote einfach in sich zusammen.
Als das allgemeine Entsetzen sich gelegt hatte, war der Täter im Tumult verschwunden.
Viel später sagte ich zu meinem Begleiter: „Ist nicht weit her mit deiner telepathischen Superkraft. Du hättest seine schändliche Absicht wohl ahnen können.“
„Er hatte seinen Mordplan hinter dem Gedanken an Hafermilch versteckt. Und ich war beschäftigt mit der Frage, ob dein Bruder auch Hafermilch sauer werden lassen könnte. Aber du hast auch versagt. Von wegen an die Wand reden. Wenn du ihn nicht an die Wand geschubst hättest und nicht so ein müßiges Zeug geredet hättest, wäre die Gefahr beizeiten zu erkennen gewesen.“
Er hatte Recht. Aber ich hatte auch Recht. An unseren Superkräften ist noch Arbeit.
Zum Glück dämmerte der Morgen.
Wow …..liest sich wie eine Theateraufführung.
Mit A wie Anschlag!
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„A wie Anschlag“ passt. Vielen Dank!
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