Johannes Erlenberg verreiste gewöhnlich nicht, erst recht nicht in der Hauptreisezeit bei der Hitze des Sommers. Er scheute einfach die damit verbundene Mühsal. Den Sinn des Reisens hatte er nie verstanden. Warum können die Leute nicht einfach zu Hause bleiben? Als Kind war er in einer reizarmen Landschaft aufgewachsen, war nie verreist und hatte sich trotzdem glücklich gewähnt. Auch heute genügte ihm, ganz bei sich zu sein. Er musste nicht andere Orte aufsuchen. Mit den Jahren hatte er genug Landschaften in seinem Kopf angelegt, in denen sich trefflich reisen ließ, ohne die müden Glieder zu strapazieren. Aber diese Reise hatte aus Gründen sein müssen.
Erlenberger hatte sich orientiert, wo der Wagen 16 seiner Reservierung etwa halten würde und wartete ziemlich weit draußen am ausgewiesenen Gleis 6 des Stuttgarter Hauptbahnhofs. Der Zug hätte längst einfahren müssen. Ihm schwante, dass etwas nicht stimmte. Plötzlich sagte eine Frauenstimme aus dem Lautsprecher an, der Zug werde abweichend auf Gleis 10 abfahren. Jetzt war Eile geboten. Er hastete zurück an den Anfang des Bahnsteigs, wo er hinüber zu Gleis 10 wechseln konnte. Der ICE stand wartend da, und Reisende drängten hinein. Der Wagen 16 war, wie schon an Gleis 6 vorgesehen, weit draußen am Anfang des Zuges. Erlenberger wusste, dass er nicht genug Zeit hätte, um den langen Weg über den Bahnsteig zu seinem Wagen zu schaffen. Etwa bei Wagen 5 war er der letzte auf dem Bahnsteig und stieg vorsichtshalber ein. Keinen Moment zu früh. Während der Zug anrollte, kämpfte er sich mühsam durch die Gänge Wagen um Wagen vorwärts.
- Das dauert und bietet die Gelegenheit für ein paar grundsätzliche Erwägungen: Nicht alle sind mit den Leistungen der Bahn zufrieden. Manche finden sogar, dass sich am Zustand dieses Unternehmens eine tiefe Verachtung des Fahrgastes ablesen lässt. Aber zur Ehrenrettung all der fleißigen und bemühten Bahnbediensteten an der „Front“ muss eines unbedingt gesagt werden, dass der desolate Zustand der Bahn auf politische Entscheidungen und solche der Vorstandsetagen zurückgeht. So mag einerseits der Befund zutreffen: „Der Fisch stinkt vom Kopfe her“. Aber nicht alles stinkt. Die direkt dem Vorstand unterstellte Abteilung „Fahrgastkonfusion“ leistet vorzügliche Arbeit. Ihre wichtigsten Strategien: „Zug fährt abweichend von Gleis X“, „veränderte Wagenreihung“, „ausgefallene Reservierungsanzeige“, „fehlender Wagen X.“ Die Abteilung „Fahrgastkonfusion“ ist vermutlich hervorgegangen aus der Abteilung „Versteckte Kennzeichnung der Wagennummer“, bis einem der Frühstücksdirektoren der Deutschen Bahn eingefallen ist, wie daraus eine größere Sache zu machen wäre.
Ein nicht geringer Teil der Fahrgäste gerät durch Strategie „Zug fährt abweichend von Gleis X“ bereits in Konfusion und steigt am falschen Wagenende ein, so dass nach allen Zustiegen eine Wanderbewegung einsetzt, was wiederum die richtig eingestiegenen Fahrgäste daran hindert, an ihre Plätze zu gelangen. Sich durch derlei Staus zum vorderen Wagen durchzukämpfen, ist etwas für junge, sportgestählte Burschen, die freigiebig Schubser, Rippenstöße und nötigenfalls saftige Tritte verteilen mögen, aber nichts für ältere Herrn. Als Erlenberger endlich der Wagen 16 erreicht hat, ist er erschöpft und verschwitzt. Sein Hemd klebt ihm nass auf dem Rücken.