Die Alten im Jammerholz und unterm Hammer

Im kafkaesken Film „Traumstadt“ von Johannes Schaaf nach dem 1909 erschienenen Roman „Die andere Seite“ von Alfred Kubin, gibt es eine verstörende Szene, deren Sinn ich mir erst seit einigen Tagen deuten kann. Die kranke Lebensgefährtin des Protagonisten wird von einem Pferdefuhrwerk abgeholt und außerhalb der Stadt in einen Baum gebunden. So weit der Film. Bei einer Geburtstagsfeier lernte ich ein Paar aus dem Wendland kennen. Das Gebiet nahe der Elbe ist der Siedlungsraum der Wenden, einem slawischen Volksstamm, identisch mit den südöstlich in der Niederlausitz lebenden Sorben.

Ich befragte den Mann aus dem Wendland, ob in seiner Heimatregion noch wendische Bräuche gepflegt würden. Er berichtete eher scherzhaft vom Jammerholz. Dahin würden die Alten gebracht und an oder in die Bäume gebunden. Dieser schreckliche Brauch entstand vermutlich in Notzeiten, als hinfällige Alte entsorgt werden mussten, um die dörfliche Gemeinschaft nicht durch Versorgungsfälle zu schwächen und in ihrem Fortbestand zu gefährden. Befremdlich in unserer Gesellschaft, deren Errungenschaft eine ausreichende Altersversorgung ist. Zwar sind auch bei uns viele Geringverdiener von Altersarmut bedroht, aber unsere reiche Gesellschaft könnte sie auskömmlich ausstatten.

Dass Altersversorgung eine Erscheinung der Neuzeit ist, zeigt auch Jacob Grimm, der sich mit germanischen Rechtsaltertümern beschäftigt hat. Er berichtet von einem ähnlich derben Brauch, um zu verhindern, dass aus eigener Schuld in Not geratene Alte der Allgemeinheit zur Last fielen. An Kirchen, Stadttoren und Häusern fand sich in alter Zeit eine Keule oder ein Hammer angebracht. Die Bedeutung dieses Symbols wird in folgender Inschrift deutlich:

    Wer den Kindern gibt das Brot
    Und selber dabei leidet Not,
    Den soll man schlagen mit dieser Keule tot.

Bei Hans Sachs findet sich eine ähnliche Formel:

    Wer sein Kindern bei seinem Leben
    Sein Hab und Gut thut übergeben.
    Den soll man denn zu schand und spot
    Mit dem Kolben schlagen zu todt.

Zuletzt ein drastischer Beleg aus einer alten Handschrift:

    da was geschriben‚ swer der si,
    der ere habe unde gout,
    da bi so nerrisch muot
    daz er alle sine habe gebe
    sinen kinden unde selber lebe
    mit noete und mit gebrestenn,
    den sol man zem lesten
    slahen an die Hirnbollen
    mit diesem slegel envollen,
    daz im daz hirn mit alle
    uf die Zunge valle.

Alle Beispiele zeigen, dass dem Alten die Schuld gegeben wird, weshalb ihm der Tod zukommen soll, „gleichsam als strafe für die thorheit, sich allzu früh seiner habe zum besten der kinder abgethan zu haben“, schreibt Jacob Grimm. Grimm vermutet, dass derartig brutale Strafen nicht tatsächlich angewandt wurden, sondern als Drohung gemeint waren. Um in dieser Sache jemanden zu mahnen, war es sicher hilfreich, ihm zu zeigen,
wo der Hammer hängt.

10 Kommentare zu “Die Alten im Jammerholz und unterm Hammer

  1. Liebe Jules, das erinnert mich an den Altenteil, der in Bayern noch heute Brauch ist. Wenn ein Bauer oder eine Bäuerin den Hof an das Kind übergibt, wird ein Vertrag aufgesetzt der den Altenteil bis ins Detail regelt. Vom Wohnrecht, über die Anzahl der wöchentlichen Eier, Milch, Fleisch oder was auch immer die Alten noch brauchen ist darin geregelt. Sie geben die Zügel aus der Hand, sorgen gleichzeitig aber bis an ihr Lebensende vor. Ich erinnere mich, dass meine Oma vehement auf ihre Anzahl von Eiern bestand. Notfalls verschenkte sie sie, wenn sie sie nicht brauchte. Zurück in die Familie, was wenig Sinn machte aber immer akzeptiert wurde.

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    • Liebe Mitzi, vielen Dank für den Hinweis auf die Altenteilregelung und wie diese Form der Altersvorsorge im Fall deiner Oma konkret ausgestaltet war. In bäuerlichen Kreisen wird das Altenteil bei der Übergabe von Höfen an die jüngere Generation vielleicht heute noch so geregelt.

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  2. Guten Tag! Mein Name ist Koske, ich kommentiere hier (sehr frei nach Prof. von Bülow aka Loriot).

    Gruselig! Dennoch werde ich versuchen, den eben oben annoncierten Film zu sehen; wir bitten um Verständnis.

    Ich glaube, die Methoden sind subtiler geworden, aber die Tendenz ist geblieben; ja, klingt auch scheußlich.

    Ich hatte schon vor Jahren den Gedanken, zuweilen denkt etwas in mir, und ist es denn ein Gräuel fürwahr (und ich war insgesamt neun Monate lang [ha, neun Monate, ha!] Altenpflegehelfer, bin also mitnichten nur am Theoretisieren), dass die, und das würden manche jetzt als sehr milde formuliert bezeichnen, Missstände in Senioreneinrichtungen die unbewusste Retourkutsche der Kriegskindernachkommen sind; unter anderem für Parentifizierung („Du musst den Papa ersetzen!“, der gefallen ist, usw. usf.) „Gnade der späten Geburt“ scheint mir einer der Politikersprüche, die Tatsachen ins Gegenteil verdrehen, und das übrigens, was auch wieder mindestens interessant ist, unabhängig von der politischen Ausrichtung (was Herrn K., angeht, er spricht so selten über sich, so ist er politisch nach wie vor extreme Ultramitte).

    Das könnte sich aber jetzt ein bisschen ändern, weil immer mehr Unternehmen schnallen, dass mit immer mehr immer noch fitten Senioren ein riesiger Markt heran wächst.

    Das war das Wort zum Sonntag aus der Unterschicht (da Herr K., O-Ton vox populi, „die Wende verpennt hat“ hat, entwickelt er hier typischen Planvorsprung)!

    Mit ausgezeichneter Hochachtung

    Herr Koske

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    • Lieber Herr Koske, danke für den fachlich fundierten Hinweis auf Grausamkeit gegen Alte in Altenpflegeeinrichtungen. Vergleichbar grausam war ja die regide Isolation der Alten und Hinfälligen im Lockdown. Da ich die Idee vom Volkskörper, mithin einer Volkspsyche ablehne, teile ich Ihren Verdacht einer „unbewussten“ Retourkutsche nicht, obwohl es lohnt, darüber nachzudenken, warum eine reiche Gesellschaft die Altenpflege nicht besser organisieren kann und auch noch durch Privatisierung dem marktradikalen Profitstreben ausliefert. Die vielen fitten und unternehmenslustigen Senioren sollten nicht über Missstände in der Altenpflege hinwegtäuschen. Danke für den trotz der Zwischenrufe bedenkenswerten Kommentar
      und beste Grüße!
      Übrigens kann ich sowohl Alfred Kubins Roman wie auch die eigenständige Filmfassung empfehlen.

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      • Ha! Von „Volkskörper“ war aber nicht die Rede bzw. Schrift; ich hatte nicht einmal den Gedanken an dergleichen illustre Ballungen, aber es gibt das Unbewusste (auch, wenn ich mich selbst immer wieder darüber lustig mache, weil ich mit entsprechenden Textbausteinen schier gesteinigt worden bin), mit dem, für mich, viele… äh… – völlig irrationale… äh… – Abläufe erklärbar(er) werden; die schaurige Posse um den Flughafen Berlin-Brandenburg etwa ist, behaupte ich in meiner persönlichkeits- sowohl als auch störungsspezifischen Arroganz, ein Abbild des Geschehens in den für dieses Projekt verantwortlichen Gruppen. Usw.

        Die Empfehlung ist angekommen – aber ich hatte das sowieso vor… äh… Lesen und Gucken…

        (… das ehrwürdig verwitterte Fossil K. wird nun wieder gesiezt, ach…)

        (… im Auge behalten, den Mann – plant den Umsturz…)

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        • Doch, mein Lieber, wenn „die Kriegskindernachkommen“ gemeinschaftlich unbewusst handeln, dann muss es etwas wie einen Kriegskindernachkommensvolkskörper geben, denn nur im Körper gibt es einen Geist, mithin das kollektive Unbewusste, wovon hier die Rede war. Und: Wer sich als „Herr Koske“ vorstellt, will offenbar förmliche Distanz und wird folgerichtig gesiezt.

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  3. Interessanterweise, laut Küpper: Wörterbuch der deutschen Umgangssprache (1955-1970) ist die Redensart »zeigen, wo der Hammer hängt« erst in den 1960er-Jahren entstanden, wobei die Herkunft weitgehend unklar ist. Bei Krüger-Lorenzen: Deutsche Redensarten (1960) findet sie noch gar keine Erwähnung. Dabei würde sich der zur Drohung aufgehängte Hammer bei Grimm ja trefflich als Herleitung anbieten, trifft aber offenkundig nicht zu.

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    • Das eigentlich zuverlässige Lexikon der sprichwörtlichen Redensarten von Lutz Röhrich weiß nichts über die Wendung. Dass die Redensart erst in den 1960-er Jahren aufgekommen sein soll, bezweifele ich. Ich fürchte, offenkundig ist hier noch gar nichts. Einstweilen ist die Herleitung aus dem Rechtsalterthum plausibel.

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