Beinah ohne Hose – aus einem Büroalltag

Frau Walden rief zu ungünstiger Stunde bei Erlenberg an und sagte: „Wir haben einen neuen Mitarbeiter, den Doktor Mobenbach. Der soll ein Buch machen, weiß aber nicht, wie das geht. Sie müssen ihm helfen!“
Erlenberg sagte, er habe noch einen Termin und verabredete, um 15 Uhr ins Institut zu kommen. Sein Termin war, mit Helen in ein Wäldchen südlich der Stadt zu fahren, wo sie an einem Teich in der schon wärmenden Frühlingssonne sitzen wollten. Helen freute sich wie ein Kind auf die Kaulquappen, die sie im letzten Jahr dort gesehen hatten. Aber wie das immer ist, auch kleine Sensationen lassen sich nicht beliebig wiederholen. Rasch verlor sie das Interesse, wollte unbedingt kiffen, und was sie danach taten, führte dazu, dass sie mit seiner Hose weglaufen konnte. Es dauerte eine Weile, bis er sie überredet hatte, die Hose nicht hoch in einen Baum zu werfen, sondern rauszurücken, so dass er ziemlich abgehetzt und derangiert im Institut eintraf. Frau Walden und Dr. Mobenbach erwarteten ihn im kleinen Konferenzraum.

Mobenbach war ihm auf den ersten Blick unsympathisch, so ein verklemmter, schwarzhaariger Typ mit blasser Haut und blutverkrusteten Nasenlöchern. Die Abneigung war wohl gegenseitig. Sie konnten einander nicht riechen, was Erlenberg besser zu verbergen verstand als Mobenbach. Vor allem wallte plötzlich eine Woge THC durch sein Bewusstsein und nebelte es völlig ein. Er sah und hörte die beiden durch einen Schleier. Im bekifften Zustand verstand er nicht, wo das Problem war, weil er ständig Filmrisse hatte und in Visionen abdriftete. Er sah den dicken Packen Manuskript vor sich, aus dem sie ein Buch machen sollten. Jemand hatte einiges vorgearbeitet, hatte aus getippten Textseiten einige Passagen rot angestrichen, andere durchgestrichen. Dann dachte er, den Auftrag schon eine Weile vor sich her geschoben zu haben, und ihn plagte ein schlechtes Gewissen. Da tauchte in ihm eine Frage auf, weshalb er sich anschickt, zu fragen, doch als er anhob, hatte er vergessen, was er fragen wollte. Etwas zu sagen, traute er sich danach nicht mehr, obwohl ihn Frau Walden immer wieder erwartungsvoll anschaut. Erlenberg hatte plötzlich die Zunge quer im Maul, und sie war ein Stück Holz.

Irgendwann entschuldigte er sich, um in der Küche einen Kaffee zu holen. Dort stand das Tablett mit Kuchen für die Mitarbeiter, denn vor kurzem war der Bäckerwagen durch die Gegend gefahren und hatte wie immer vor dem Institut gehalten. Es oblag der Frau von der Telefonzentrale herauszulaufen und Kuchen für alle zu holen. Solange das Tablett noch gut bestückt war, bediente sich jeder nach Belieben. Doch die letzten Kuchenstücke pflegte man mit einem Messer zu teilen, was gerade beim allerletzten Teilchen zu absurder Kleinheit führen konnte. Die Physiker im Cern brauchen dafür eine viele Kilometer lange Röhre. Erlenberg hielt sich nicht mit Teilchenexperimenten auf, sondern fiel schamlos über das letzte Teilchen, ein Stück Erdbeertorte, her und stillte seinen Heißhunger.

Zurück im Konferenzraum wurde ihm klar, dass es schon eine Weile um die mehrseitige Einleitung gegangen war, die Dr. Mobenbach verfasst hatte. Frau Walden war nicht zufrieden und beauftragte Erlenberg, eine bessere zu schreiben. Dem irritierten Mobenbach sagte sie: „Es gibt hier keine unantastbare Autorschaft. Damit müssen Sie leben. Das machen wir immer so.“

Erlenberg war froh, der Situation entfliehen zu können, suchte sich ein leeres Büro mit Computer, schrieb zwei Absätze Vorspann und hängte Mobenbachs Text hintenan. Seine losen Sätze fügten sich wunderbar zu Mobenbachs sorgfältigen Ausführungen und getreu der Idee des Gestaltpsychologen Rudolf Arnheim, „Paarung wirkt auf die Partner“ gab sein Vorspann dem ganzen Text etwas Leichtfüßiges, wurde aber durch Mobenbachs sorgfältige Ausführungen geerdet, wodurch die Einleitung seriöser wirkte, als Erlenberg gedacht hatte. Frau Walden zeigte sich hochzufrieden, aber Mobenbach sollte ihm nie verzeihen, dass sie Erlenberg über seinen Kopf gesetzt hatte.

Das zweite Bürohaus des Instituts war in den Hang gebaut. Es hatte einen halblegalen Anbau. Da dieses Haus ursprünglich ein großes Wohnhaus gewesen war, das man dazu gekauft hatte, war es nicht erlaubt gewesen, einen Bürotrakt anzubauen. Nachbarn hatten sich bereits gegen die Umwidmung des Wohnhauses zum Bürohaus beschwert. Auf Rat eines Mitarbeiters der städtischen Bauaufsicht war der Anbau als Schwimmbad ausgewiesen. Nur so hatte man eine Baugenehmigung bekommen können. Aber das Schwimmbad wurde niemals fertig gebaut. Das leere Becken diente als Lager, und darüber war eine Empore eingezogen, die über eine Holztreppe zu ersteigen war. Oben waren fünf Arbeitsplätze mit je zwei Schreibtischen und Computern. Den Arbeitsplatz ganz am Ende der Empore hatte sich Mobenbach gewählt. Dorthin zog er sich zurück und brütete Änderungen bereits beschlossener Vorgehensweisen aus. Demgemäß zog sich die Arbeit am Buch. Einmal sagte Erlenberg genervt: „Ihnen ist klar, dass Ihre nachträglichen Änderungen das Buch enorm verteuern? Das verstand Mobenbach nicht. Mit der gleichen eigensinnigen Beharrlichkeit, mit der er in der Nase bohrte, bis sie blutete, dachte er sich Änderungen für bereits fertige Seiten aus, tauschte hochformatige Abbildungen gegen solche im Querformat, wodurch das Layout der Seite zerschossen wurde. Dass man auch Textpassagen eins zu eins tauschen muss, verstand er erst, als Frau Walden ihm zeigte, wie man Wörter zählt. Hurenkind und Schusterjunge waren ihm völlig gleichgültig.

Als er erneut durch eine nicht passgenaue Textänderung ein Hurenkind produziert hatte, sagte Erlenberg: „Herr Mobenbach, bedenken Sie bitte, dass ich für diesen Auftrag nicht pauschal, sondern nach Stunden bezahlt werde. Frau Walden fällt in Ohnmacht, wenn sie meine Stundenabrechnung sieht.“ Da aber war das Kind schon ins Schwimmbad gefallen. Noch Jahre sollte Walden sagen: „Dieses Buch ist das teuerste, das wir je gemacht haben!“

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