Morgens kann ich mich kaum noch überreden, mir in der Bäckerei Brötchen zu holen. Nicht, dass ich keine mehr wollte. Über die Jahre habe ich mich an frische Brötchen gewöhnt, ich esse sie quasi aus Tradition. Als ich junger Familienvater war, gab es einen Bringdienst in unserer Straße. Den betrieb ein Student; vielmehr war er der ganze Bringdienst. Wenn er morgens früh klingelte, riefen meine Kinder fröhlich: „Der Brötchenboss!“ und liefen zur Wohnungstür, um ihm zu öffnen. Obwohl ihm gefiel, wie ihn die Kinder getauft hatten, weil es so hübsch alliterierte und die dienstbare Tätigkeit aufwertete, stellte er den Bringdienst bald ein. Es lohnte sich wohl nicht – oder er hatte geerbt und brauchte kein Kleingeld mehr.
Das frühe Aufstehen und der Gang zum Bäcker war jedoch ein gutes Training für den Fall von Damenbesuch. Morgens Brötchen zu holen, scheint mir eine biologische Konstante zu sein. Denn eigentlich ist es Männersache, das Essen zu jagen. Zumindest jüngere Männer verhalten sich so. Man kann sie sonntagmorgens sehen, wie sie aus den Häusern herauskommen und ungewaschen zum Bäcker laufen. Lässiger Aufzug und Frisur verraten, dass sie gerade aus einem Bett gekrochen sind. Der Impuls, Essen zu jagen, hat etwas mit Sexualität zu tun. Er stellt sich meistens nach vollzogenem Geschlechtsverkehr ein. In Erwartung weiterer Lustgefühle beweist der Mann, dass die Frau den Richtigen erhört hat, einen, der Essen in die Höhle schleppen kann. Oder aber, er ist noch nicht erhört worden und will sich durch erjagte Brötchen attraktiv machen.
Es hat lange gedauert, bis ich die anthropologische Prägung des Höhlenmenschen überwunden und mir angewöhnt hatte, Brötchen zu holen – auch für mich selbst, wenn ich keinen Damenbesuch hatte. Es war eine Übung in Selbstachtung, in verantwortlicher Selbstsorge. In Aachen mit seiner hochentwickelten Bäckereikultur genoss ich, von wohl gerundeten und gut gelaunten Bäckereifachverkäuferinnen bedient zu werden, wodurch sicher gestellt war, dass ich noch besser gelaunt aus der Bäckerei kam als ich hineingegangen war. Es ist gewiss kurzsichtig, diese engelhaften Wesen durch hagere angelernte 400-Euro-Kräfte zu ersetzen, denn Menschen in 400-Euro-Existenzen haben meist Sorgen. Da kommt die Freundlichkeit selten von Herzen. Es werden ihnen freundliche Floskel antrainiert und man denkt, der Kunde merkt nicht, dass ihn ein Papagei bedient. Merkt er doch, wenn er kein grober Klotz ist!
Seit längerem verlasse ich die Bäckerei in meiner Nachbarschaft schlechter gelaunt als beim Eintritt – und das ist doch keine Art, godverdomme! Das zerstört meine schöne Theorie vom rechten Zeitpunkt. Demnach sollte, wer es sich leisten kann, gegen 10 Uhr aus dem Haus gehen. Dann sind die Leute durchweg fröhlicher. Der Mensch hat dem zirkadianen Rhythmus gemäß mitten im Morgen sein Leistungshoch. Zusätzlich treibt ihn die Erwartung, der Tag könnte noch irgend etwas Positives bringen, Geldpakete, ein Selfie mit einem Prominenten oder eine gestorbene Erbtante. Das nennt sich Hoffnung. Also ist gegen zehn Uhr morgens die ganze Stadt voller Energie und Hoffnung. Um diese Zeit in die Bäckerei zu gehen, fällt gewöhnlich in die Kategorie psychosoziales Doping.
Leider ist das smarte Management von Bäckereiketten mit Blödheit geschlagen und spart bei den Gehältern der Angestellten. Ihr müsst sie besser bezahlen, ihr verfluchten Mistkerle! Sonst kaufe ich mir lieber Aufbackbrötchen.
[weibliche Form von Mistkerl?]
Hmmm, so gar nicht mein Lebensstil ….
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„Jede Jeck is anders“, sagt man in Köln.
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Wenn Du die Supermarkt-Kassiererin magst, kann ich Dir ein nettes Rezept für selbstgebackene Brötchen geben. Ist gar nicht so schwer…
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Danke, aber der Gang zum Bäcker ist mir wichtig. Andere gehen mit dem Hund raus …
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Mistweiber.
Endlich weiß ich, warum der meine ständig mit viel zu viel Backwaren heimkommt….
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Letzteres würde ich als gutes Zeichen werten. Und dankeschön für den Formulierungsvorschlag. Passt, aber ich spare mir im Text das Gendern.
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Mein erster Vorschlag wäre „Mistbiene“. Was die Brötchen nebst Bedienung angeht, haben auch wir Durststrecken, obwohl wir mit zwei Bäckereien in Reichweite verwöhnt sind. Gibt es kein Alternativangebot in verträglicher Entfernung? Auf Selbstbackbrötchen ist nur im absoluten Notfall zurückzugreifen.
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Ich müsste zum Lindener Markt laufen, wo ich aber stets vorzüglich bedient werde. Eigentlich sollte es mir das wert sein. Danke für deinen Vorschlag. „Mistbiene“ gefällt mir auch. Das Gendern von Mistkerle erspare ich uns trotzdem, ohne bleibt die Diktion saftiger. 😉
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„Mistbiene“ ist eine mögliche weibliche Form des „Mistkerls“, ist allerdings eine Beleidigung für die Biene. „Zimtzippe“ geht aber auch. Die Verwandtschaft zur „Zimtschnecke“ wird deutlich, doch die sind einfach nur lecker. „Zimtzippe“, so dachte ich als ich noch viel kleiner war, seien nur schlecht gewordene Zimtschnecken. Stimmt ja auch irgendwie.
Von den Brötchen- und Essen jagenden Typen begegnete mir noch keiner. Doch – mein Vater! Allerdings ist das schon sehr lange her. Die Bäckereifachverkäuferinnen in meiner Stammkonditorei sind unterschiedlich gut gelaunt und manche sind lächelresistent. Fuchst mich überhaupt kein Bisschen, denn sobald ich meine Brötchenbeutetüte zu Hause öffne, ist dieser Duft sofort da. Ich wünsche mir viel mehr Bäckereifachmänner, leider sind die so rar wie seltene Erden.
Liebe Grüße
Amélie
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Obwohl die Mistbiene zum zweiten Mal vorgeschlagen wurde, von Andrea und von dir, liebe Amélie, teile ich deine selbst vorgebrachten Einwände. Bei Tiernamen fällt mir das ulkige Gif der unvergessenen Eugenie Faust († 2013) ein, das ich hier aus ihrem Twoday-Blog zitiere:

Der Bäckereifachmann solte eigentlich der Bäcker sein; im Verkauf sieht man selten einen, wie ja das ehrliche Handwerk stirbt. Die meisten Bäckereien sind ja gar keine mehr, sondern Aufbackstationen. Die aufzubackenden Teigrohlinge kämen sogar aus China, habe ich mal gelesen.
Lieben Gruß
Jules
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Ich stelle mal wieder fest, dass ich hoch privilegiert bin. In meiner unmittelbaren Nachbarschaft – nicht hier in der Mani, wohl aber in Athen – betreibt ein liebenswerter Bäcker mittleren Alters das ererbte Handwerk wie eh und je, vom Kneten des Teigs bis hin zum Auskühlen der runden Brotlaiber auf dem offenen Regal. Ein Bangladeschi vertritt ihn am Nachmittag weniger freundlich, dafür wichtigtuerischer. Die alte Bäckerin, die die herumlungernden Strassenhunde mit Brotresten und Kissen zum Lagern versorgte, ist leider nicht mehr, aber immer noch sitzt der alte Bäcker gern vor der Tür unter dem blühenden Oleander. Der Duft des Brotes liegt weiträumig in der Luft. Brötchen freilich gibt es nicht.
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@ Gerda und Amélie
Du schilderst ein Idyll, Gerda, das nicht mehr von dieser Welt zu sein scheint. Ähnliches kannte ich als Kind in den 1950-er Jahren. Schön, wenn sich ausgerechnet in Sennestadt noch eine Traditionskonditorei hält. In München kannte ich einen Aufbackbäcker, der in seinem Tiefkühlschrank Säcke voll tiefgefrorener Teigrohlinge aus China hortete, um sie bei Bedarf in seine Aufbackstation zu schieben. Er war Bäcker gewesen, trauerte aber dem nächtlichen Arbeiten nicht nach. Danke für eure Berichte.
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Ja, lieber Jules, die alte klassische Brötchenbäckerei stirbt aus. In unserer Sennestädter Traditionskonditorei übernahmen die Zwillingssöhne das Geschäft der Eltern und immer noch finden sich als Bedienung überwiegend weibliche Kräfte. Was ich echt schade finde. Doch die Brötchen von Wölke schmecken immer noch genauso wie in meiner Kindheit. Ist eben solides Traditionshandwerk. Brötchen brauchen Gehzeit. Die haben sie in den Billigbäckereien nicht mehr. Teig aus China? Himmel hilf! Das ist mir neu, ich dachte immer, die Chinesen seien die unangefochtene Größe im Minudelschwenken…;-)
However – lasse Dir Deine Brötchen schmecken! Du hast großes Glück, wenn sie noch so schmecken wie die, die ich aus meiner Lieblingskonditorei kenne und liebe…:-)
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Miststück, schlage ich vor und erwäge daheim Ausschnitte deines feinen Textes gut lesbar auszulegen. 😉
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Dankeschön für deinen Vorschlag, liebe Mitzi, und das hübsche Lob. Das Elend herrscht wohl überregional. Als ich vor Jahren in München übernachtete, war dort gerade eine bekannte Großbäckerei aufgeflogen und behördlich geschlossen worden.
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Die gibt es jetzt übrigens wieder und das sogar unter dem gleichen Namen. Man vergisst schnell und laut meinem Vater im Fall von Bäckereien auch egal. Der war als Schlosser in fast allen Münchner Backstuben und… naja, er mag Mäuse und schmunzelt über Ratten. 😉
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Mistress…
(… ich soll üben, mich kurz zu fassen…)
(… „psychosoziales Doping“ ist „Höchst, höchst spaßhaft!“ [Kesselmeyer, Bankier]…)
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Aber Sie doch nicht, lieber Herr Koske. Die Mahnung mit dem Kochlöffel richtet sich primär an mich selbst wg der notwendigen Informationsökologie. Freut mich, dass Ihnen „psychosoziales Doping“ gefällt. Die Sache ist auch höchst erbaulich.
Beste Grüße!
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… öhm… das verstehe ich jetzt nicht… das macht aber nichts; das Alter ist nicht einfach, aber es geht vorbei… und es gibt ja immer wieder diese Neonyme aus der Feder des Herrn Trittenheim… ich glaube, „Neonym“ ist ein Neonym,,, egal – ein symptomfrei nicht von Zählerablesungsgymnastik belastetes Wochenende wünscht Herr Koske…
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Icfh dachte, Ihre Bemerkung: (… ich soll üben, mich kurz zu fassen…) bezöge sich auf die Mahnung im Haeder „Verstopfen Sie das Netz nicht …“ Neonym ist mir unbekannt, passen würde Neologismus, wenn die Neuschöpfung von anderen übernommen würde.
Gleichfalls schönes Wochenende,
wünsch Ihr Tritteneim
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… (?)… gegen die Anfechtungen meiner Paranoia (oder so ähnlich), die mich dazu neigen lassen (oder so ähnlich), solche „Mahnungen“ persönlich zu nehmen (denn ich versuche zu mainstreamen, indem ich meinen Narzissmus forciere und mich daher immer und überall angesprochen fühle), habe ich mich schon vor langer Zeit, aber ein für alle Male abzusichern versucht mit dem Valentin-Zitat in meinem Header (d. h. natürlich, in dem meines Blogs), es wäre schon alles gesagt, nur noch nicht von allen… – Recht hat er, der Valentin, und man sollte ihm überhaupt einen Dr. phil. h. c. postum verleihen (was ich, wie mir scheint, gar nicht nur „witzig“ gemeint habe)…
Stimmt – „Neologismus“. Das Wort war mir entfallen (das hat aber nichts mit dem Alter zu tun; ich war schon immer so)…
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… Informationsökologie“ ist auch sehr gut… – Man wird das ja wohl noch sagen dürfen…
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gut beschrieben, ist in unserer kleinstadt nicht anders. und erschwerend kommt hinzu, dass man vor 7.30 uhr kein croissant kaufen kann, und nach ca. 9.30 uhr sind oft die erhofften brötchen alle. wir würden gern mehr zahlen für besseren service, reden ist sinnlos.
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Dankeschön! Die Wörter Kleinstadt und Croissant passen offenbar nicht zusammen. Hannover-Linden hat die Genossenschaftsinitiative „Linden backt“, wo man die aussterbende Bäckereikultur selbst in die Hand genomen hat.
https://lindenbackt.de/ueber-uns.html
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