Bett fünf war der Tiefpunkt meiner Reise. In ihm wurde mir klar, dass der Verlust der Autonomie durch einen Beinbruch bislang ungeahnte Gefahren birgt. Das Prinzip „Paarung wirkt auf die Partner“ galt auch hier. Da die Hausärzte der Einrichtung überwiegend mit dementen Bewohner zu tun hatten, entschieden sie auch über meinen Kopf hinweg und verordneten vorsorglich ein Medikament, das geeignet war, aus mir einen anhaltenden Pflegefall zu machen. Indikation „Bei Unruhe.“ Hätte ich dem Impuls nachgegeben, den hässlichen Putz von den Wänden zu kratzen, wäre es passiert. Für diesen Fall hielten die Pflegekräfte eine chemische Keule vor. Ich entkam glücklich in eine andere Einrichtung, fühlte mich wohl aufgehoben im sechsten Bett, bloggte, schaute Tour de France und plante meine Reha. In Stunden der Verzweiflung war der ferne Lichtblick gewesen, zur Anschlussheilbehandlung nach Aachen zu fahren, in eine vertraute Umgebung, zu Familie, Freunden und Exkollegen. Diese Aussicht hatte mir die geistige Gesundheit bewahrt.
Bett sieben war gar kein Bett, sondern eine Couch im Wohnzimmer meiner Tochter und Familie in Aachen, wo ich von Sonntag auf Montag übernachtete, um pünktlich am Morgen die Reha anzutreten.
Meine Unterkunft in der Reha glich einem Hotelzimmer. Demgemäß war auch Bett acht dem allgemeinen Design angepasst, wirkte kaum noch wie ein Pflegebett, hatte aber die diversen Funktionen der Höhenverstellung und einen Galgen. Hatte ich Bett sechs noch aus Langeweile auf und ab gefahren, wurde in acht nötig, Kopf- und vor allem Fußteil zu verstellen, um mein inzwischen heftig schmerzendes Bein hoch zu lagern. Im Ohr habe ich noch das entsetzliche Jaulen, wenn der Elektromotor das Bett auf und ab fuhr, eine Funktion, die mein Enkel weidlich nutzte, bis seine Mutter ihm Einhalt gebot, weil eine Unterhaltung unmöglich war.
Wenn einer in der Kurklinik um Urlaub fragt, steckt sich die Dame an der Rezeption die Finger in die Ohren und singt „Na-nanaa-na-naaa-na!“ Sie darf nämlich nicht wissen, dass jemand die Einrichtung verlässt, ein Versicherungsding, versteht man. Das Verbot aushäusiger Aktivitäten ist zwar abseits der Lebenswirklichkeit, aber es muss alles seine Richtigkeit haben in Deutschland. Die Exkollegin eines Exkollegen ist zu einem 80. Geburtstag eingeladen, und ich erwarte Besuch. Die Schwäbin reist an, und wir wollen die Gelegenheit nutzen, nach acht Wochen mal wieder gemeinsam zu übernachten. Ich buchte ein Zimmer in einem anonymen Hotel, genoss das Wiedersehen, konnte das bequeme Bett neun aber nicht richtig genießen, denn zu dieser Zeit litt ich schon Schmerzen, weil sich aus der Verschraubung des Nagels in meinem Bein ein Bolzen herausgedreht hatte. Vielmehr hatte mein Körper diesen Bolzen herausgedreht, ein mir rätselhafter Vorgang. Man weiß ja, dass der menschliche Körper Fremdkörper abstößt, aber dass er dazu auch eine Gewindeschraube drehen kann, wusste ich nicht. Am Morgen beim Frühstück im Hotel wunderte ich mich über die vielen leichtfüßigen Zweibeiner. Ich war nur noch Leute mit Rollator oder Krücken gewohnt.
Bett zehn war das kürzeste von allen und wurde erst nach mehrstündiger Suche gefunden, nicht weil es so kurz war, sondern weil man in der Abteilung für orthopädische Chirurgie des Aachener Marienhospitals keinen Platz für mich hatte. Fündig wurde man zwei Etagen höher in der Frauenabteilung. „Keine große Sache“, sei meine OP, meinte der coole Chirurg, aber es ist wohl ein Unterschied, ob man in ein Bein hineinschneidet oder der Eigentümer des geschnittenen Beins ist.
Trotz meiner Befürchtung, es wäre doch eine größere Sache, wurde ich nach drei Tagen wieder entlassen und durfte das operierte Bein voll belasten. Mein Zimmer und mein Bett standen mir noch zur Verfügung, und zwei Wochen später kehrte ich nach Hannover ins eigene Bett zurück. Meine Odyssee durch zehn Betten hatte gut vier Monate gedauert.
„Waren Sie im Urlaub?“, fragte meine Unternachbarin, als wir uns zufällig begeneten. „Ich habe sie so lange nicht gesehen.“
„Nein, ich hatte mir das Bein gebrochen“, sagte ich und schilderte kurz die Gründe meiner Abwesenheit. Da sprach sie das passende Schlusswort: „Schön, dass Sie wieder da sind.“
Musiktipp
dEUS – Bad Timing
Nach dem erotischen Einstieg von Teil 1 hätte ich mir für den Teil 2 aus formalen und inhaltlichen Gründen einen erotischen Ausstieg gewünscht…. 😉
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Dem schließe ich mich an. 😉
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Ihr habt Recht. Aber im anderen Kontext mal. Ich bin der Geschichte müde.
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Kein Wunder, zu viele Schlafstätten…
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Ich ändere den letzten Satz einmal auf: schön dass du schreibend nie weg warst. 🙂
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Das war tatsächlich meine Rettung, liebe Mitzi.
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Solche Geschichten lesen sich mit dem Wissen, dass alles endlich gut wurde, doch viel angenehmer. Wir verstehen jetzt die Redensart „Das ist doch kein Beinbruch“ gleich viel besser, die ja wohl darauf verweist, dass etwas nicht so schlimm wie ein Beinbruch ist, während die Wendung mit der lockeren Schraube eine Bedeutung hat, der du glücklicherweise noch entgehen konntest, obwohl dann doch die Schraube locker war. Schön, dass man dich endlich laufen ließ.
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