Ein Aachener Freund war einst zu Besuch in Hannover, und wir saßen zum Abendessen vor dem Plenum, einem Lokal auf dem Eck zwischen der Badenstedter Straße und der Nieschlagstraße in Linden-Mitte. Plötzlich kam meine Hausärztin die Badenstedter Straße hinunter, beschwingt an der Seite eines Mannes. Sie wirkte wie frisch verliebt. In Zivilkleidung sah sie aus wie ihre jüngere Schwester, wiewohl Beschwingt- und Verliebtsein immer einen verjüngenden Effekt hat. Wenngleich sie gleich mehrfach zu uns herüber schaute, war ich mir nicht sicher, ob sie meine Hausärztin war: Ich zweifelte, obwohl Ihre Praxis nicht weit entfernt liegt.
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Als ich am späten Nachmittag in der Fußgängerzone saß, kam ein Mann vorbei, in dem ich eigentlich den Chefarzt der Kurklinik hätte erkennen sollen. Ich blieb allerdings unsicher, bis er außer Sicht war. Erstens hätte ich ihn nicht in der Fußgängerzone erwartet. Zweitens kannte ich ihn bislang nur in Berufskleidung. Wer bei ihm einen Sprechstundentermin hat, wird von ihm abgeholt. Dr. Evinghoven [Name geändert] begrüßt seinen Patienten und geht leichtfüßig rückwärts den Flur entlang vor ihm her. Dann trägt er weiße Turnschuh, eine weiße Hose und ein weißes T-Shirt. Er ist ein großer kräftiger Mann und für seine Position noch recht jung. So kenne ich ihn, und so erkenne ich Dr. Evinghoven, nicht aber in der Fußgängerzone mit groben Doc-Martens-Schuhen an den Füßen und knielangen Hosen, im Outfit eines Berufsjugendlichen. Er hatte offenbar im Supermarkt eingekauft und trug einen Rucksack, in der Hand aber einen Zehnerpack Toilettenpapier. Dass ich auch bei ihm am Erkennen zweifelte, zeigte mal wieder, wie kontextabhängig die Wahrnehmung ist.
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Glücklicherweise halte ich mich von den sogenannten „sozialen Medien“, Twitter, Facebook, Instagram usw. fern. Ein anderer hätte vielleicht getwittert: „Hilfe! Der Chefarzt der Kurklinik hamstert Klopapier!“ und hätte damit nicht nur einen Klopapier-Engpass in Aachen-Burtscheid herbeigeführt, sondern eine Kettenreaktion ausgelöst, die gleich einem Tsunami um den Erdball gerast wäre, was letztlich den endgültigen Ruin der menschlichen Art bedeutet hätte. So gefährlich können Ärzte auf freier Wildbahn sein.
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Irrtümlich im Wartebereich vor dem falschen Arztzimmer gewartet und noch irrtümlicher in der ausliegenden Zeitschrift Gala geblättert. Ich las das Editorial der Chefredakteurin Brigitte Huber. Der total verschmockte Text weckte in mir den Wunsch, ins Heft zu brechen. Und ich habe den nur gelesen. Wie man derlei Dreck schreiben kann, ohne in die Tastatur zu speien, wird mir immer ein Rätsel bleiben.
Musiktipp
Detektivbyrån – Om Du Möter Varg – [Wenn du einen Wolf triffst]
Verschmockt ist ein schönes Wort, lieber Jules. Ganz klar schöner, als alles was in der Gala wohl steht. Aber hier hängt die Latte auch nicht hoch 😉
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Danke, liebe Mitzi. Das Wort stammt aus dem Jiddischen. Im von mir verwendeten Wortsinn „taucht der Schmock laut Duden erstmals als Name einer Figur aus Gustav Freytags Lustspiel „Die Journalisten“ von 1852 auf und steht seither als eine mittlerweile veraltete Bezeichnung für einen opportunistischen Zeitungsschreiber, der jede Meinung vertritt, wenn man ihn dafür bezahlt.“ (Wikipedia)
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Danke, Jules 🙂
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Die Gala ist wirklich supergruselig. Und es gibt Menschen, die glauben tatsächlich, was darin steht. 🙄
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Auch Erwachsene brauchen Märchen.
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😄 wohl wahr 😄 aber da bleib ich dann doch bei den richtig märchenhaften Sachen … Einhörner … Feen … Trolle …
Obwohl 🤔 ich war mal auf Island; da gab’s einen Elfenstein mitten auf einer Wiese, den man nicht verrücken durfte.
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Zum Glück trampeln wir nicht in Galas Spuren außer mal in zwangsläufigen Wartesituationen. Ich nehme es dann als Quelle der Belustigung 😉
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Besser ist das.
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