Jüngling der Schwarzen Kunst – Kirchheim-Bolanden

Sie hatten sich unzweifelhaft verfahren. Ringsum nur Landschaft, von einer elend langen Landstraße durchzogen, weit und breit keine Stadt zu sehen. Weit und breit niemand, den sie nach dem Weg fragen konnten. Karl-Heinz, der eine gewisse Führungsposition in ihrer fünfköpfigen Runde eingenommen hatte, weil er die Karte zu lesen pflegte und sagte, wo es lang ging, war kleinlaut geworden, da er sie offenbar in die Irre geführt hatte. Sie waren am Morgen in Bacharach gestartet und jetzt müde, wollten endlich die Jugendherberge in Neustadt an der Weinstraße finden, ihr Tagesziel.

Da tauchte von hinter einer Bodenwelle ein Mopedfahrer auf. Wie er sie ratlos mit ihren bepackten Fahrrädern herumstehen sah, hielt er an und fragte, wohin sie wollten. Die Jugendherberge in Neustadt? Dahin kenne er einen guten Weg. Er werde vor ihnen herfahren, sprachs und bog in einen geraden Wirtschaftsweg ein, der nach kurzer Zeit in einen ausgedehnten Wald eintauchte. Sie sahen ihn bald nicht mehr. Offenbar hatte er ihr Tempo überschätzt. Es begann zu dämmern. Irgendwann hielten sie und beratschlagten sich. Keiner traute dem Alten auf dem Moped.
„Wer weiß, wo der uns hinlocken wollte,“ sagte Ludwig ängstlich.
„Selbst wenn wir die Jugendherberge finden, kommen wir nach Anmeldeschluss und sie lassen uns nicht mehr rein“, sagte Theo.
„Wir könnten eine Nachtfahrt machen“, schlug Karl-Heinz vor.
Hannes war erleichtert und stimmte sofort zu. Er hatte genug davon, sich vor despotischen Herbergsvätern klein zu machen. Das würde ihnen das Hoffen und Bangen ersparen, ob sie wohl noch aufgenommen würden, und sie waren frei in ihren Entscheidungen. Also zurück auf die einsame Landstraße. Hannes hatte die dünne Fiberstange mit ihrem Wimpel am Gepäckständer, das jeder für einen Tag mitführen musste, und war der Ansicht, dass jetzt ein anderer übernehmen müsste, denn ein Tag und eine Nacht war gegen die Vereinbarung. Über sein hartnäckiges Insistieren gerieten sie in Streit. Am Ende musste er den Wimpel behalten und beschloss, nicht mehr mit den Idioten zu reden.

Die Stimmung in ihrer kleinen Gruppe war eisig. Stumm traten sie in die Pedale und jeder für sich verfluchte die Idee, mit dem Fahrrad von Nettesheim an den Bodensee zu fahren. Inzwischen war es stockdunkel. Eine ganze Weile hörte man nur das Jaulen ihrer Dynamos und das Surren der Kettengangschaltungen. Da, das Knattern eines Mopeds. Der Alte holte sie wieder ein und schimpfte, dass sie ihm nicht weiter gefolgt waren. Sie waren froh, als er beleidigt wieder davon knatterte. Endlich tauchten in der Ferne die Lichter einer Ortschaft auf. Das Städtchen hieß Alzey. Sie hielten an einem Platz und beschlossen, eine Kneipe zu suchen, wo sie hofften, etwas Proviant und Getränke für die Nacht kaufen zu können. Ludwig ließen sie als Wache bei Fahrrädern und Gepäck zurück. In der Kneipe bekamen sie nur Schokolade, aber immerhin.

Als sie wieder auf den Fahrrädern saßen, erzählte Ludwig beiläufig, eben habe eine Lehrerin mit ihrem VW-Käfer gehalten und ihn gefragt, ob sie in der Schule schlafen wollten. Aber er habe dankend abgelehnt: „Wir wollen eine Nachtfahrt machen.“ O mein Gott, dieser Trottel, fanden alle. Sie bedauerten längst, ihn überhaupt mitgenommen zu haben. Ludwig hatte sich bald als rechtes Arschloch erwiesen. Wann immer die Rede auf Mädchen kam, schrie er im Ton des Eiferers: „Küssen! Todsünde!“ Jetzt war ihnen klar, dass er den Schlafplatz in der Schule nur abgelehnt hatte, weil ihn eine Frau gefragt hatte. Inzwischen waren sie wieder auf einer Landstraße inmitten der Felder. Der Mond war aufgegangen und tauchte die Landschaft in fahles Licht. Auf einer frisch gemähten Wiese sahen sie Heuschober, doch Ludwig sprach sich vehement dagegen aus, dort unterzukriechen. Dann war er der erste, der über kalte Finger zu jammern anfing. Es war aber auch kalt in dieser Augustnacht. Hannes mochte seinen Lenker kaum noch anfassen. Allmählich machte sich Erschöpfung breit. Der Kälte konnte niemand mehr etwas entgegensetzen.

Sir näherten sich wieder einer Ortschaft. Direkt vor dem Ortsschild ein einladend mit Gras überwucherter Straßengraben. Dort wollten sie das Tageslicht abwarten. Ihre Schlafsäcke waren nicht wasserdicht. Darum krochen sie mit den Schlafsäcken in Müllsäcke, die Theo bei sich hatte und stiftete. Hannes zog den Müllsack bis über seine Ohren. Da plagte ihn eine Mücken mit ihrem Surren. Sonst lag er gut. Er dachte an das blonde Mädchen im schwarzen Pullover, das ihn im Speisesaal der Jugendherberge Niederlahnstein lange angesehen hatte. Dabei malte er sich aus, er hätte sie angesprochen. Aber es hätte nicht viel erbracht, weil sie ja am nächsten Morgen schon weiter nach Bacharach gefahren waren. Darüber schlief er ein. Dann wurde er aus den süßesten Träumen aufgerüttelt. Karl-Heinz war in Panik, die Müllabfuhr könnte kommen und sie mitsamt ihrer Müllsäcke ins Müllauto laden. Ach, war das unangenehm, noch schlafwarm wieder aufs Rad zu steigen und den eisigen Lenker zu halten. Es war noch immer finster. Im Schein seiner Lampe las Hannes das Ortsschild von Kirchheim-Bolanden.

7 Kommentare zu “Jüngling der Schwarzen Kunst – Kirchheim-Bolanden

  1. Verfahren, meine Spezialität, wenn ich alleine unterwegs bin. Ansonsten ist mein Mann der Kartenleser, da er keine Rechts-Links-Schwäche und keine Orientierungsprobleme hat. Reisen in der Gruppe.. vermeide ich aus den von dir so anschaulich beschriebenen Gründen. Aber alle Achtung, tapfere Pedalritter seid ihr gewesen!

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