Er bringt die Sachen

Es klingelt an der Wohnungstür. Ich bin noch im Schlafanzug und will nicht aufmachen. Der Mensch lässt sich nicht abwimmeln, klingelt wieder und klopft mit dem Knöchel hart ans Holz, ruft: „Ich weiß, dass Sie da sind!“
„Nein! Ich bin nicht zu Hause!“
„Aber Ihre Schuhe stehen vor der Tür.“
„Ich habe zwei paar Schuhe.“
„Egal. Ich bringe die Sachen.“ Schwach erinnere ich mich, irgendwann in seiner Wohnung besprochen zu haben, dass er mir Sachen geben will. Seine Frau hatte gesagt, er habe die Gabe. Die wäre auch bei den Sachen. Welche Gabe? Aus Neugier hatte ich zugesagt, Sachen und Gabe anzunehmen. Da bleibt mir nichts als aufzumachen.

Sein kleiner Sohn ist bei ihm. Sie tragen Sachen in meine aufgeräumte Wohnung, für die ich überhaupt keinen Platz habe. Wohin mit einem großen ovalen Fernseher? Er ist von schmutzigem Weiß, ein klobiges Ungetüm mit integriertem Fuß, im Design, das die Macher der Fernsehserie Raumpatrouille Orion im Jahr 1966 für futuristisch gehalten hatten. Der Junge trägt noch eine schmale Matratze herein. Und mit Kleinkram überschütten sie mich. Die Gabe ist auch dabei, wirkt schäbig wie alles andere.

Er erklärt mir die Gabe: „Sie können zuvor wissen, was ist.“
„Ach“, sage ich enttäuscht: „Ich würde lieber zuvor wissen, was passieren wird, dann wäre die Option, dass ich noch etwas beeinflussen kann.“
„Meine Gabe ist nicht nutzlos. Angenommen, Sie wollen wissen, wie groß ihr Koffer ist und messen seine Höhe mit dem Zollstock. Dann wissen Sie seine Breite, ohne zu messen.“
„Ja, wenn’s um Koffer geht. Aber wie selten braucht man einen Koffer und wie noch seltener will man seine Maße wissen.“
„Sie verreisen doch gewiss ab und zu.“
„Klar, ich bin sogar erst gestern von einer Reise zurückgekehrt. Sie führte mich und meine liebe Begleiterin über Stuttgart Hbf. Der ist, wie jeder weiß, noch immer ein Kopfbahnhof, das heißt, die Züge kommen rein und fahren auf dem selben Gleis wieder raus. Wir warteten auf den Zug aus Hamburg-Altona. Der hatte wegen technischer Probleme bereits 50 Minuten Verspätung. Da war mir schon klar, dass er nicht hurtig nach Hannover fahren würde, nachdem er sich quasi mit letzter Kraft nach Stuttgart geschleppt hatte. Trotzdem mussten wir der Durchsage vertrauen, er werde nur fünf Minuten später als geplant losfahren und nahmen unsere reservierten Plätze ein. Erst dann wurde durchgerufen, der Zug falle komplett aus. Um das vorauszusehen brauchte ich Ihre Gabe nicht, sondern nur einfache Antizipation.“
„Aber den Bahnbediensteten wäre meine Gabe nützlich.“
„Eher nicht. Sie würde ihnen alle Hoffnung nehmen. In einer Organisation, in der alles Spitz auf Knopf organisiert ist, kann man nur hoffend arbeiten, hoffend, dass das Kontrolllämpchen wieder ausgeht, das eine Bremsstörung anzeigt, bebend, dass das Heftpflaster hält, mit dem eine Weiche geflickt wurde, flehend, dass sich kein Sturm erheben wird, weil ein Bahnvorstand einen Wind gelassen hat. Denn dem Netzwerk der Bahn fehlt Redundanz, es fehlen alternative Verbindungen, auf der sich Störungen umgehen lassen.

„Früher“, sagt ein hilf- und ratloser Lokführer aus der Tür seiner Lok heraus, „früher wären sofort zwölf Mann ausgerückt, um die Schäden an der Lok zu beseitigen. Aber heute müssen die erst zusammengerufen werden.“ Seine Lok steht still. Der Furz aus dem Bahnvorstandssessel war leider verheerend. „Wann es weiter geht, weiß ich auch nicht“, sagt der Lokführer. Nie zuvor hätte ich gedacht, dass die gewaltigen Lokomotiven, die so eine immense Kraft und Geschwindigkeit entfalten können, von Männern gesteuert werden, die nichts wissen. Die Unwissenheit aber ist eine Begleiterscheinung fragiler Netzwerke. Solche Netzwerke sind streng hierarchisch organisiert. Das Wissen verdünnt sich von oben nach unten, denn es ist per Definition Herrschaftswissen und festigt die Macht der Entscheidungsträger. Es heißt, schlanke Netze seien kostengünstiger und effektiver. Verschlankung aber bedeutet Ausdünnung. Was nicht oft gebraucht wird, kommt weg. Weg kommt auch, was mehr Kosten verursacht als es beim Normalbetrieb einbringen könnte. Da nun aber der Normalbetrieb von unzähligen Faktoren gestört werden kann, sind wir also auf dem Stuttgarter Bahnsteig gestrandet. Was hülfe da Ihre Gabe? Gar nichts. Ich bitte also um Rücknahme der Sachen und Ihrer Gabe auch. Und der Kleine soll die Matratze wieder wegtragen, so sehr ich auch Kinderarbeit ablehne.“

14 Kommentare zu “Er bringt die Sachen

  1. Was für ein schöner Text. Von leichter Hand geschrieben, auf dass die Bedeutungsschwere nicht sofort fühlbar ist. Am Ende nicke ich – ja, ich will auch nicht alles im Voraus wissen.
    Liebe Grüße
    Sabine vom 🕷 🕸

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  2. Kaum zu Hause, geht es wieder los. Als hätte man nicht den Strich gezogen. Nein, nicht den Schlussstrich, aber immerhin einen Strich. Völlige Ignoranz. Wie soll das enden?

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