In ihrem Viertel war die Bauwut ausgebrochen. In jeder Baulücke sah man Rohbauten, fast jedes bereits stehende Haus wurde renoviert. Ringsum flatterten aufgerissene Verpackungsfolien im Wind oder wurde in Fetzen über die Straße getrieben. Um diese Uhrzeit waren die zahlreichen Gerüste noch verwaist. An einem Kran baumelte eine Kreissäge. Ein Betonmischer war halb im Schlamm versunken.
Ich traf beizeiten ein. Die angegebene Adresse war ein zehnstöckiger Flachbau. Sie wohnte ganz oben. Eine Weile wartete ich vor dem Haus. Dann beschloss ich, sie an der Wohnungstür abzuholen. Vielleicht würde sie mich sogar einlassen, wenn sie noch nicht fertig zum Aufbruch wäre. Der feuchtkalte Frühnebel ließ mich frösteln. Da wäre ein warmes Bett verlockend. Ich suchte ihren Namen auf dem Klingelbrett und wollte schon die Schelle pressen, als die Haustür aufging und der Hausmeister hervortrat, erkennbar am grauen Kittel.
„Wo wollen Sie hin?“, fragte er.
„Zu Frau Cornelius, zehnte Etage.“
„Ich bringe sie hinauf“, sagte er, trat in den Hausflur zurück und komplimentierte mich zum Aufzug. Man brauchte einen Schlüssel, um ihn zu betätigen. Ich hörte ihn eintreffen. Die Tür schob sich auf, wir traten ein, fuhren aber nur bis zur zweiten Etage. Der Hausmeister bedeutete mir zu folgen. Wir stiegen im Treppenhaus eine Etage tiefer.
„Sie wundern sich“, sagte er, „aber anders geht’s nicht. Umbauten.“
Auf der ersten Etage wurde er plötzlich abberufen. Ich stand allein. Für den Aufzug fehlte mir der Schlüssel. Auch der Aufstieg war nicht möglich, denn die Tür zur Treppe war durch eine glatte metallene Bautür ohne Türdrücker verschlossen. Mir blieb nichts als hinunter zu gehen. Schon stand ich wieder wartend vorm Haus. Einige Leute kamen hervor, offenbar auf dem Weg zur Arbeit. Frau Cornelius kam nicht. Ich betrachtete mein Sonnenbrille. Sie war mit einem knallbunten Muster verklebt, das nur von innen durchsichtig war. Glücklicherweise schien die Sonne nicht, denn ich hätte mich vor den anderen Leuten der bunten Brille wegen geschämt. Vielleicht hatte Frau Cornelius bereits das Haus verlassen, derweil der Hausmeister mich in die Irre geleitet hatte. Vielleicht suchte sie mich und schalt mich unzuverlässlich. Ich würde es nicht mehr erfahren, denn ich erwachte.
Kann man, darf man, tut man…sich im Traum schämen?
Komisch, wenn ich drüber nachdenke, ist es mir noch nie passiert.
Hier steht ja auch…“denn ich hätte mich…geschämt.“ Hätte.
Nachtgruß kurz vor den starken Träumen von
Sonja
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Die Bandbreite der möglichen Gefühle ist im Traum nicht eingeschränkt. Er ist nur oft ohne Moral.
Beste Grüße
Jules
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Wie gut, dass dir jedenfalls der Ausweg, wenngleich ein Rückzug, der dich an denselben Platz, aber mit stark veränderten Gefühlen brachte, offen stand. Wirst du nun noch einen zweiten Anlauf machen, um Frau Cornelius, vielleicht sogar ihr Bett, im zehnten Stockwerk zu erreichen? Oder wirst du aufgeben, weil du weitere Enttäuschungen nicht erleiden möchtest? Die Unschlüssigkeit martert, da wird eine bunt eingefärbte Brille zum beschämenden Firlefanz. Liebe Grüße! Gerda
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Ich nehme die Traumbotschaft an, dass es nämlich nichts bringt, auf Frau Cornelius zu hoffen 😉 Lieben Gruß
Jules
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Zum Glück konntest du dieses Haus wieder verlassen, und musstest nicht angsterfüllt und schweißgebadet eine Ewigkeit lang drinnen umher irren und nach einem Ausgang suchen! 😉
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Dass Aufwachen hätte ja auch das Herumirren beendet. Danke für die Anteilnahmen.
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Einen Moment lang fürchtete ich, dass nicht nur der Aufstieg sondern auch der Abstieg verwehrt geblieben ist. Dann wäre es ein echter Albtraum geworden, lieber Jules
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Ja, Glück gehabt, liebe Mitzi. Und danke für dein MItfürchten.
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