Alptraum von Agenten

Unter Agenten gibt es den Fall des sogenannten Schläfers, also eines schädlichen Agitateurs, der eine Weile unauffällig und unerkannt unter einer bürgerlichen Tarnung lebt, um dann irgendwann aktiviert zu werden. Der bekannteste Fall ist der des Kanzlerspions Günter Guillaume.

Im Traum war ich in ein großes Mietshaus in der Endzeit der Nazidiktatur versetzt. Ich war ohne Zutun Mitglied einer Gruppe, die sich dem heimlichen Erhalt alter Nazistrukturen verschrieben hatte. Das wurde nicht offen ausgesprochen, aber ich sah es, sobald ich darauf aufmerksam geworden war. Man besaß und verwendete beispielsweise nur deutsche Produkte und vermied Fremdwörter, lehnte also überhaupt kulturelle Einflüsse von anderen Völkern ab. Mir war bald klar, dass es in all den Häusern der Stadt ähnliche Schläferzellen geben musste, wusste aber nicht, was dagegen zu tun wäre. Hier versickerte mein Traum, gab mir aber zu denken.

Nur scheinbar beruhigend wäre die Vorstellung, die Mitglieder der Schläferzellen würden alt und gebrechlich oder würden wegsterben, bevor sie gesellschaftliche Bedeutung erlangen könnten, entsprechend der Parabel, die Bert Brecht durch Herrn Keuner erzählen lässt in „Maßnamen gegen die Gewalt“:

    „In die Wohnung des Herrn Egge, der gelernt hatte, nein zu sagen, kam eines Tages in der Zeit der Illegalität ein Agent, der zeigte einen Schein vor, welcher ausgestellt war im Namen derer, die die Stadt beherrschten, und auf dem stand, daß ihm gehören solle jede Wohnung, in die er seinen Fuß setzte; ebenso sollte ihm auch jedes Essen gehören, das er verlange; ebenso sollte ihm auch jeder Mann dienen, den er sähe. Der Agent setzte sich in einen Stuhl, verlangte Essen, wusch sich, legte sich nieder und fragte mit dem Gesicht zur Wand vor dem Einschlafen: „Wirst du mir dienen?“ Herr Egge deckte ihn mit einer Decke zu, vertrieb die Fliegen, bewachte seinen Schlaf, und wie an diesem Tage gehorchte er ihm sieben Jahre lang. Aber was immer er für ihn tat, eines zu tun hütete er sich wohl: das war, ein Wort zu sagen. Als nun die sieben Jahre herum waren und der Agent dick geworden war vom vielen Essen, Schlafen und Befehlen, starb der Agent. Da wickelte ihn Herr Egge in die verdorbene Decke, schleifte ihn aus dem Haus, wusch das Lager, tünchte die Wände, atmete auf und antwortete: „Nein.““

Dass man irgendwann „Nein“ würde sagen können und die Sache wäre erledigt, ist sicher eine trügerische Hoffnung. Die Schläferagenten haben Nachkommen, unschuldige Kindlein, die mit der Zeit verdorben werden. Und sind sie bereit, Macht zu übernehmen, beherrschen sie all die schmutzigen Kniffe sowie die schädlichen rhetorischen Mittel und setzen die Skrupellosigkeit ihre empathielosen Eltern mit der Kraft ihrer Jugend ein, sind also noch schrecklicher und bösartiger als ihre fett und faul gewordenen Vorfahren. Also wird das Verderbte, das Asoziale weiterleben in den Häusern und nach gesellschaftlicher und politischer Macht streben, um genau dort weiterzumachen, wo die Großväter gescheitert sind.

20 Kommentare zu “Alptraum von Agenten

  1. Du alpträumst historisch! Ich bin sehr beeindruckt. Mir ist es bisher nur gelungen futuristisch zu träumen – von einem lautlos fahrenden völlig durchsichtigen Auto, das ohne Scheinwerfer fuhr, dessen Innenraum aber hell aufleuchtete, sobald es anhielt. Es war übrigens voll besetzt – vermutlich von den „enfants terribles“ der fetten und verderbten Faulpelze aus Deinem Traum. – Man sollte sich das Schlafen abgewöhnen.

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  2. Die Geschichte gibt einem einerseits das Gefühl, dass der Agent alles bekommen hat und die Ungerechtigkeit gewonnen hat. Andererseits hat sie auch etwas starkes, dadurch dass der Wille von Herrn Egge nicht gebrochen wurde. Mit dieser Überzeugung kann man sehr lange Widerstand leisten. Es fehlt aber tatsächlich etwas an der Strategie, die dem Agenten Unannehmlichkeiten bereitet. Eine Anleitung zum Partisanenkrieg wollte Bert Brecht wohl nicht verfassen. Eher etwas zum Thema Durchhaltevermögen.

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    • Brechts Einleitung, die ich hier weggelassen habe, gibt dir Recht:
      „Als Herr Keuner, der Denkende, sich in einem Saale vor vielen gegen die Gewalt aussprach, merkte er, wie die Leute vor ihm zurückwichen und weggingen. Er blickte sich um und sah hinter sich stehen – die Gewalt. „Was sagtest du?“ fragte ihn die Gewalt. „Ich sprach mich für die Gewalt aus“, antwortete Herr Keuner. Als Herr Keuner weggegangen war, fragten ihn seine Schüler nach seinem Rückgrat. Herr Keuner antwortete: „Ich habe kein Rückgrat zum Zerschlagen. Gerade ich muß länger leben als die Gewalt.“Und Herr Keuner erzählte folgende Geschichte: (siehe oben)

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  3. Günter Guillaume war aber eigentlich kein sogenannter Schläfer, der vorerst inaktiv bleibt und zu bestimmtem Zeitpunkt erst “geweckt“ und aktiviert wird. Er wurde ja vom MfS zielstrebig als aktiver Agent im Westen eingesetzt, war also eher ein sogenannter Maulwurf, meine ich.

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