Parallel zur südlichen Grenze unseres Dorfes verläuft die abschüssige Wyckgasse. Ich bin sie sicher tausendmal gegangen, auf dem Weg von oder zu meiner Stammkneipe oben an der Chaussee. Trotzdem blieb sie mir fremd. Wenn wir in Kindertagen in der Dunkelheit der Novemberabende im Dorf Klingelmännchen spielten, war die Wyckgasse besonders aufregend, denn sie bot nur geringen Schutz. Zu eng lehnten sich die alten Häuser der Wyckgasse aneinander. Sie waren wie das Dicht-an-dicht einer Stadtmauer. Obwohl unser Dorf nicht groß war und sich im Lauf der Generationen ein Netz von Verwandtschaftsbeziehungen darüber gelegt hatte, von denen ich schon als Kind wusste, war die Wyckgasse wie ausgespart. Ich kannte nur eine Person aus der Wyckgasse, meinen Mitschüler Volker Harms. „Kennen“ ist hier ein zu großes Wort, denn Volker Harms hielt auf Abstand, war mit niemandem befreundet, und nie ist jemand von uns auf die Idee gekommen, ihn in ein Spiel einzubeziehen. Er war die Fleisch gewordene Unauffälligkeit und Zurückhaltung.
Die Leute der Wyckgasse waren eine eingeschworene Gemeinschaft. Als müssten sie besondere Abbitte für große Schuld leisten, taten sie sich zur alljährlichen Fronleichnamsprozession hervor wie keine Straße sonst. Entlang der Wyckgasse erstreckte sich in ihrer Mitte ein dickes Band aus gefärbtem Sägemehl, darin prächtige Muster und Bilder, etwa das Lamm Gottes, das mit dem Vorderlauf ein stabförmiges Kreuz umfangen hält, auf himmelblauem Grund. Nur der mit dem Baldachin beschirmte Priester, der die Monstranz durchs Dorf trug, durfte den kunstvollen Sägemehlteppich betreten. Die vier Männer an den Stangen des Baldachins traten links und rechts des Teppichs wie auch das ihnen folgende Fußvolk.
In der Dämmerung eines Spätnachmittags im Dezember, aus ost wehte ein schneidend kalter Wind und schob mich die Wyckgasse hinunter. Etwa auf halber Höhe gingen vor mir zwei Männer, die offenbar schwere Holzkisten geschultert hatten. Plötzlich schwenkten die Holzkisten nach links, so dass ich sie in voller Länge sehen konnte, es waren frisch gehobelte Särge. Sie tauchten in die Häuserfront ein. Dort war mir noch nie eine Einfahrt aufgefallen. Als ich näher kam, sah ich gegen eine Mauer mit grünem Leimverputz, in der eine Lücke klaffte. Dahinter erstreckte sich ein kleines Brachgelände mit niedrigem Buschwerk, durch das sich ein Trampelpfad wand. Die Männer mit den neuen Särgen waren nicht zu sehen. Sie mussten dem Pfad gefolgt sein. Nach hinten wurde das Brachgelände durch eine fast senkrecht ansteigende Abbruchkante begrenzt. Zwischen Brombeerranken stand dort schmutzig grau der Mergel an. Nur wo Kaninchen und Dachs frisch gegraben hatten, leuchtete der Mergel gelb. Der Pfad schwenkte ein und blieb parallel zur Abbruchkante.
Ich war neugierig, diese unbekannte Welt zu betreten, im vertrauten Dorf ein Areal zu entdecken, von dem ich gut 50 Jahre nichts gewusst hatte. Da wichen die Büsche und der Pfad wurde zum Weg, dann zur Straße aus gestampfter Erde, und ich gewahrte eine Reihe von Häusern im Stadium des Verfalls. Trotzdem schienen sie bewohnt zu sein, denn die stumpfen Fenster hatten Gardinen. Plötzlich ertönte aus einem der Häuser ein verzweifelt klingendes Stimmchen: „Hilfe! Hilfe!“ Ich erschrak und spähte hinauf zu den Fenstern. Leider konnte ich nicht ermitteln, aus welchem der Häuser der Hilferuf gekommen war, denn wie um das zu verhindern, riss die Wolkendecke, und ich wurde von einer tiefstehenden Sonne geblendet.
Die Wyckgasse lag menschenleer. Erst oben an der Chaussee traf ich einen Mann, hielt ihn auf und sagte: „In der Straße hinter der Wyckgasse hat jemand um Hilfe gerufen.“ Er glotzte mich verständnislos an. Ich zögerte nicht lange, eilte zum Bürgeramt und wiederholte meine Nachricht. Die Dame am Empfang ging in ein hinteres Zimmer, um sich zu erkundigen wohl, und kam mit dem Amtsleiter zurück. Der sagte: „Mein Herr, danke für Ihr Engagement, aber eine Straße hinter der Wyckgasse ist amtlicherseits nicht bekannt.“ Ich bestand darauf, dass mich der Dorfpolizist in die Gasse begleitete. Wir konnten auf ihrer gesamten Länge keine Mauer mit grünem Leimverputz finden. Wo sie hätte sein sollen, klingelten wir und verlangten, in den Garten sehen zu dürfen. Aber auch von dort war weder die Abbruchkante noch der Straßenzug zu sehen. Man empfahl mir abzureisen, doch mich gruselt die Vorstellung, dass da ein geheimer Kosmos ist, in dem verzweifelte Menschen schier ungehört um Hilfe rufen.
Gruselig, wenn sich ein Portal in die Anderswelt auftut. Du kannst von Glück sagen, ohne Blessuren davongekommen zu sein.
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Tatsächlich haben wir nicht die Sicherheit einer festen Realität. Schon der Traum kann ein Tor zur „Anderswelt“ aufstoßen. Man kann froh sein, wenn es im Alltag nicht passiert.
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Merkwürdig nur, dass die Anderswelt meistens keine bessere Welt ist, obwohl die Realität dieser Welt erschröckliches genug zu bieten hat.
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Danke für den Hinweis. Traumwelten sind ja menschliche Kopfwelten, also ist alles Menschenwerk.
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Die Präzision, mit der du deine Imagination beschreibst, die sich dann in der gewöhnlichen Sinneswelt nicht nachweisen lässt, erinnert mich an Kafka, aber auch an einen Bericht CG Jungs über eine Begebenheit in Ravenna, die mich selbst veranlasste, auf einer Reise nach demselben Mosaiken und ihrem historischen Hintergrund zu forschen. https://youtu.be/2Gg6QaCE8LQ?t=88
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Uff! Der Bericht CG Jungs passt wirklich zur Geschichte. Jung gibt der Beschreibung der Mosaiken mehr Raum. Dass du dadurch zu einer Reise angeregt wurdest, gefällt mir,
Beim Schreiben über die Wyckgasse habe ich schon befürchtet, mein Text werde zu lang und konnte vieles nur skizzieren. Aber als Künstlerin weißt du die Kraft einer Skizze zu schätzen.
Danke für deinen anregenden Kommentar.
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Packend geschrieben und gruselig.(Die Geschichte nicht der Schreibstil 😉
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Danke fürs Lob in deinem witzigen Kommentar. Ich musste schmunzeln.
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Puh, das war gruselig, aber auch vertraut, da ich ähnliche Erfahrungen machte und mich seither frage, ob es wohl wirklich diese Welten gibt oder ob es nur Kopfkino ist.
Auf jeden Fall sehr fesselnd und spannend be- und geschrieben.
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Dein Hinweis auf ähnliche Erfahrungen, macht neugierig. Die wären gewiss wert, einmal aufgeschrieben zu werden. Dankeschön für dein Lob. Es freut mich.
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Gruselgroß und schauerschön. Und schon beim Lesen merkt man, dass es hängen bleibt wie manche Szenen aus Filmen von Ingmar Bergman.
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Lieben Dank für das schöne Lob. Anfangs konnte ich es nachvollziehen. Inzwischen habe ich die Geschichte so oft zwecks Korrektur gelesen, dass die Wirkung sich verdünnt hat.
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Wie geht es weiter? Für wen waren die Särge? Wer rief um Hilfe und was ist es, dass den Zugang freigibt oder verbirgt? Lass uns nicht allein, ratlos und ängstlich in der Wyckgasse.
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Danke für dein Interesse und die Fragen. Ich kann sie leider nicht beantworten. Es ist wie im Leben: Manche Mysterien werden niemals aufgeklärt. Ich war froh, dass ich die Geschichte in einer vertretbaren Länge rund bekommen habe. Der für mich bedrückende Aspekt: Der letzte Satz gilt ja nicht nur für die imaginäre Straße hinter der Wyckgasse. Weltweit sind Menschen in Not und rufen für uns ungehört um Hilfe.
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Das ist so richtig schön gruselig. Und manchmal denke ich auch, dass es so etwas wie Pforten in andere Realitäten gibt.
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